22

 

Ursula blickte stumm zu Poirot auf. Dann verlor sie vollständig die Beherrschung und begann fassungslos zu schluchzen. Caroline schob mich beiseite, legte den Arm um sie und klopfte ihr auf die Schulter. 

«Na, na», sagte sie beschwichtigend. «Es wird schon alles gut werden. Sie werden sehen – alles wird wieder gut.»

Ursula richtete sich auf und trocknete sich die Augen.

«Wie schwach und dumm von mir.»

«Nein, nein, mein Kind», sagte Poirot gütig. «Wir verstehen alle, wie sehr Sie in diesen letzten Wochen gelitten haben müssen.»

Ursula beruhigte sich sofort.

«Es muss sehr schwer für Sie gewesen sein», fügte ich hinzu.

«Sie wissen, was mich heute Abend zu Ihnen führt», sagte Ursula. «Dies hier …»

Sie wies ein zerknittertes Zeitungsblatt vor, und ich erkannte die Notiz, die Poirot hatte einrücken lassen.

«Es heißt, Ralph sei verhaftet worden. Dann ist ja alles zwecklos, ich brauche nicht mehr zu heucheln.»

«Zeitungsnotizen sind nicht immer wahr, Mademoiselle», flüsterte Poirot und sah anständigerweise beschämt drein. «Nichtsdestoweniger denke ich, Sie täten gut daran, alles offen zu erzählen. Wahrheit ist es, was uns jetzt nottut.»

Die junge Frau zögerte und sah ihn argwöhnisch an.

«Sie trauen mir nicht, Ursula? Und doch hat es Sie zu mir getrieben. Weshalb sind Sie gekommen?», fragte Poirot sanft.

«Weil ich nicht glaube, dass Ralph der Täter ist», sagte sie leise. «Und ich denke, Sie sind klug und werden die Wahrheit herausfinden. Und …»

«Ja?»

«Ich halte Sie auch für – gütig.»

Poirot nickte mehrmals.

«Das ist gut – ja, das freut mich. Ich glaube wirklich, dass Ihr Gatte unschuldig ist, aber die Sache sieht schlimm aus. Wenn ich ihn retten soll, muss ich alles wissen, was es zu wissen gibt – selbst wenn es ihn scheinbar noch mehr belasten sollte.»

«Sie werden mich doch hoffentlich nicht hinausschicken?», meldete sich Caroline und setzte sich behaglich in einem Lehnstuhl zurecht. «Was ich erfahren möchte, ist», fuhr sie fort, «weshalb dieses Kind sich als Stubenmädchen verkleidet hat.»

«Verkleidet?» fragte ich.

«So sagte ich. Weshalb haben Sie das getan, mein Kind?»

«Um zu leben», sagte Ursula trocken.

Und ermutigt begann sie ihre Geschichte.

Ursula Bourne entstammte einer siebenköpfigen, verarmten, aber vornehmen irischen Familie. Nach dem Tode des Vaters mussten die Töchter ausziehen, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ursulas älteste Schwester heiratete Captain Folliot. Sie hatte ich an jenem Sonntag besucht, und nun konnte ich mir auch die Ursache ihrer Verlegenheit erklären. Entschlossen, für ihr Leben selbst zu sorgen, nahm Ursula die Stelle eines Stubenmädchens an. Die erforderlichen Zeugnisse stellte ihre Schwester ihr aus.

«Die Arbeit gefiel mir», erklärte sie. «Und mir blieb noch reichlich freie Zeit.»

Dann kam ihre Begegnung mit Ralph Paton und die Geschichte ihrer Liebe, die schließlich in einer heimlichen Heirat gipfelte. Ralph hatte sie fast gegen ihren Willen dazu überredet. Er erklärte ihr, sein Stiefvater werde von einer Ehe mit einem mittellosen Mädchen nichts hören wollen. Es sei daher besser, heimlich zu heiraten und ihm dann später, zu einem günstigen Zeitpunkt, die vollendete Tatsache mitzuteilen.

So geschah es, und Ursula Bourne wurde Ursula Paton.

Ralph hatte erklärt, er wolle seine Schulden abzahlen, sich eine Stellung suchen und dann später sich seinem Stiefvater anvertrauen.

Aber Leuten vom Schlag Ralph Patons fällt es leichter, theoretisch ein neues Leben zu beginnen, als dies in Wirklichkeit zu tun. Er hoffte, sein Stiefvater werde sich überreden lassen, seine Schulden zu bezahlen und ihm wieder auf die Beine zu helfen. Als Ackroyd jedoch erfuhr, welche Höhe die Verbindlichkeiten Ralphs erreicht hatten, geriet er in Wut und weigerte sich, überhaupt etwas für seinen Stiefsohn zu tun. Einige Monate verstrichen, und Ralph wurde noch einmal nach Fernly gerufen. Roger Ackroyd wollte, dass Ralph Flora heiratete, und er sagte das dem jungen Mann offen.

In diesem Augenblick trat Ralphs angeborene Willensschwäche klar zu Tage. Wie immer haschte er nach der leichten, der sofortigen Lösung. Soviel ich herausbringen konnte, gaben weder Ralph noch Flora vor, verliebt zu sein. Roger Ackroyd diktierte seine Wünsche, und sie fügten sich. Flora ergriff die Gelegenheit, zu Geld, Freiheit und einem weiteren Gesichtskreis zu gelangen. Ralph allerdings spielte ein anderes Spiel. Seine Schulden sollten bezahlt werden. Er konnte von neuem beginnen. Es lag nicht in seiner Natur, an die Zukunft zu denken, aber ich glaube, dass ihm unklar vorschwebte, nach einiger Zeit das Verlöbnis mit Flora zu lösen. Er kam mit Flora überein, die Verlobung vorläufig geheim zu halten, und war ängstlich bemüht, die ganze Sache vor Ursula zu verbergen.

Dann kam der entscheidende Augenblick, als Roger Ackroyd in seiner herrischen Art die Veröffentlichung der Verlobung beschloss. Ralph gegenüber erwähnte er seine Absicht mit keinem Wort; er sprach nur mit Flora, die zu apathisch war, um Einspruch zu erheben. Die Nachricht traf Ursula wie eine Bombe. Von ihr gerufen, kam Ralph eiligst aus der Stadt. Sie trafen im Wald zusammen, wo ein Teil ihres Gespräches von meiner Schwester belauscht wurde. Ralph beschwor sie, noch kurze Zeit zu schweigen, aber Ursula war fest entschlossen, den Heimlichkeiten ein Ende zu bereiten. Sie wollte unverzüglich Mr. Ackroyd die Wahrheit mitteilen. Die jungen Eheleute schieden in Unfrieden.

Ursula hielt an ihrem Vorsatz fest, bat an jenem Nachmittag Mr. Ackroyd um eine Unterredung und enthüllte ihm die volle Wahrheit. Ihr Gespräch gestaltete sich sehr stürmisch, und es wäre vielleicht noch stürmischer verlaufen, hätte nicht Roger Ackroyd schon genug eigene Sorgen gehabt. Doch es war noch immer schlimm genug. Ackroyd gehörte nicht zu jenen Menschen, die einen ihnen zugefügten Betrug verzeihen können. Sein Groll richtete sich hauptsächlich gegen Ralph, aber auch Ursula bekam ihr Teil. Harte Worte fielen auf beiden Seiten.

Am gleichen Abend trafen sich Ursula und Ralph wie verabredet im Gartenhaus, zu diesem Zweck stahl sie sich durch den Seitenausgang aus dem Haus. Ihre Unterredung bestand aus gegenseitigen Vorwürfen. Ralph bezichtigte Ursula, seine Aussichten durch ihre Enthüllungen unwiederbringlich vernichtet zu haben. Ursula warf ihm Falschheit vor.

Dann trennten sie sich. Eine halbe Stunde später wurde Roger Ackroyds Leiche gefunden. Seit jenem Abend hatte Ursula von Ralph weder etwas gesehen noch gehört.

Je weiter die Geschichte sich entwickelte, desto mehr fiel mir auf, wie viel Belastungsmaterial sie enthielt. Hätte Ackroyd gelebt, so hätte er unweigerlich sein Testament geändert. Ich kannte ihn genügend, um zu wissen, dass dies sein erster Gedanke gewesen wäre. Sein Tod war für Ralph und Ursula gerade zur rechten Zeit gekommen. Kein Wunder, dass das Mädchen den Mund gehalten und ihre Rolle so beharrlich weitergespielt hatte.

«Madame, ich muss Sie noch etwas fragen», begann Poirot ernst, «und Sie müssen wahrheitsgemäß antworten, denn davon kann alles abhängen. Wie spät war es, als Sie sich im Gartenhaus von Captain Paton trennten? Überlegen Sie einen Augenblick, damit Ihre Antwort sehr genau ausfällt.»

Das Mädchen lachte bitter auf.

«Glauben Sie, ich habe dies nicht immer und immer wieder überlegt? Es war genau halb zehn, als ich mich mit ihm traf. Major Blunt ging auf der Terrasse auf und ab, so dass ich rund um das Gebüsch schleichen musste, um nicht gesehen zu werden. Drei Minuten später dürfte ich das Gartenhaus erreicht haben, wo Ralph mich erwartete. Ich war zehn Minuten mit ihm zusammen, nicht länger, da ich genau um drei viertel zehn schon wieder das Haus betrat.»

Ich verstand nun ihre ängstliche Frage vom vergangenen Tag, ob es bewiesen werden könne, dass Ackroyd vor drei viertel zehn ermordet wurde und nicht erst später.

«Wer verließ das Gartenhaus zuerst?», fragte Poirot kurz.

«Ich.»

«Und Ralph blieb zurück?»

«Ja – aber Sie denken doch nicht etwa …»

«Madame, was ich denke, ist doch vollkommen gleichgültig. Was taten Sie, nachdem Sie ins Haus zurückgekehrt waren?»

«Ich ging in mein Zimmer.»

«Und blieben dort bis …?»

«Bis ungefähr zehn Uhr.»

«Kann das jemand bezeugen?»

«Bezeugen? Dass ich in meinem Zimmer war, meinen Sie? O nein. Jetzt verstehe ich, Sie denken vielleicht – Sie denken vielleicht …»

Ich sah Entsetzen in ihren Augen aufflackern.

Poirot vollendete den Satz für sie.

« … dass Sie durch das Fenster einstiegen und Mr. Ackroyd töteten, während er vor dem Kamin saß? Ja, das könnte man annehmen.»

«Nur ein Narr würde so etwas vermuten», mischte Caroline sich ein und klopfte Ursula auf die Schulter.

Das Mädchen barg sein Gesicht in den Händen.

«Furchtbar», flüsterte sie. «Furchtbar.»

Caroline streichelte sie mitleidig.

«Regen Sie sich nicht auf. Mr. Poirot meint es nicht im Ernst. Was aber Ihren Mann betrifft, so halte ich nicht viel von ihm, das sage ich Ihnen offen. Einfach wegzulaufen und Sie Ihrem Schicksal zu überlassen …»

Aber Ursula schüttelte energisch den Kopf.

«O nein», rief sie. «So war es sicher nicht. Ich verstehe es erst jetzt. Als er von der Ermordung seines Stiefvaters hörte, dachte er vielleicht, dass ich es getan hätte …»

«So etwas kann er doch nicht gedacht haben!», rief Caroline.

«Ich war ja an jenem Abend so grausam zu ihm – so hart und so verbittert. Ich sprach die kältesten, grausamsten Worte, die mir in den Sinn kamen.»

«Schadet ihm nichts», sagte meine Schwester. «Regen Sie sich nie über etwas auf, was Sie zu einem Mann sagen.»

«Ich war ganz außer mir, als der Mord entdeckt wurde und Ralph sich nicht meldete. Nur einen Augenblick zweifelte ich, dann wusste ich, dass er es nicht gewesen war – es unmöglich sein konnte … Ich wusste, er hatte Doktor Sheppard sehr gern, und ich dachte, dass Doktor Sheppard vielleicht wusste, wo Ralph sich versteckte.» Sie sah mich an. «Und darum wandte ich mich an Sie. Ich dachte, Sie könnten ihm vielleicht eine Nachricht zukommen lassen.»

«Ich?», rief ich.

«Woher sollte James wissen, wo er sich aufhält?», fragte Caroline scharf.

«Es war unwahrscheinlich, ich weiß es», gab Ursula zu, «aber Ralph sprach oft von Doktor Sheppard, und ich wusste, dass er ihn für seinen besten Freund in King’s Abbot hielt.»

«Mein liebes Kind», sagte ich. «Ich habe nicht die geringste Ahnung, wo Ralph sich zurzeit aufhält.»

«Das mag stimmen», warf Poirot ein.

«Aber …» Ursula hielt uns bestürzt den Zeitungsausschnitt entgegen.

«Ach das!», meinte Poirot etwas verlegen. «Hat nichts zu bedeuten, Madame. Nicht eine Sekunde lang glaube ich, dass Ralph Paton verhaftet wurde.»

«Aber dann …»

«Eines wüsste ich gern. Hat Captain Paton an jenem Abend Schuhe oder Stiefel getragen?»

Ursula schüttelte den Kopf.

«Ich kann mich nicht erinnern.»

«Wie schade! Aber wie sollten Sie auch? Und nun, Madame», er lächelte ihr zu, neigte den Kopf zur Seite und hob den Zeigefinger, «keine weiteren Fragen mehr. Quälen Sie sich nicht. Seien Sie guten Mutes, und vertrauen Sie auf Hercule Poirot.»