2

 

Ehe ich weiterberichte, was Caroline und ich besprachen, ist es vielleicht angebracht, eine Art Ortsbeschreibung zu geben. Unser Dorf King’s Abbot unterscheidet sich kaum von anderen Dörfern. Die nächste große Stadt, Cranchester, liegt neun Meilen entfernt. Wir haben einen großen Bahnhof, ein kleines Postamt und zwei miteinander konkurrierende Ladengeschäfte. Außerdem gibt es bei uns viele unvermählte Damen und pensionierte Offiziere. Unsere Zerstreuung und Erholung lassen sich mit dem einen Wort «Klatsch» zusammenfassen. 

In King’s Abbot gibt es nur zwei bedeutende Häuser. Das eine ist King’s Paddock, das Mrs. Ferrars von ihrem verstorbenen Gatten erbte. Das andere, Fernly Park, gehört Roger Ackroyd. Ackroyd hat mich seit jeher interessiert, denn er war der Inbegriff eines englischen Landjunkers.

Natürlich ist Ackroyd kein wirklicher Landjunker; er ist ein außerordentlich erfolgreicher Fabrikant – wenn ich nicht irre, von Wagenrädern. In den besten Jahren, gesund und von liebenswürdiger Lebensart. Ein Herz und eine Seele mit dem Vikar, spendet er sehr freigebig für den Kirchenfonds (trotz aller Gerüchte, dass er in persönlichen Ausgaben außerordentlich geizig sei), unterstützt Kricket-Wettspiele, Klubs für junge Männer und den Veteranenverein. Er ist wirklich Haupt und Herz unseres friedlichen Dorfes King’s Abbot.

Als Roger Ackroyd einundzwanzig Jahre alt war, verliebte er sich in eine schöne, fünf bis sechs Jahre ältere Frau und heiratete sie. Sie hieß Paton, war Witwe und hatte ein Kind. Die Geschichte dieser Ehe war kurz und schmerzlich. Mit einem Wort, Mrs. Ackroyd war Trinkerin. Vier Jahre nach der Heirat brachte dieses Laster sie ins Grab.

Als sie starb, war das Kind sieben Jahre alt. Heute ist es fünfundzwanzig. Ackroyd sah in ihm seinen eigenen Sohn und erzog ihn dementsprechend, doch er war ein wilder Junge und bereitete seinem Stiefvater viel Kummer und Sorge. Trotzdem ist Ralph Paton in King's Abbot beliebt.

Wie ich schon erwähnte, wird in unserem Dorf viel geklatscht.

Jedermann merkte schnell, dass sich Ackroyd und Mrs. Ferrars gut verstanden. Nach dem Tod ihres Gatten wurde die Vertraulichkeit noch auffälliger. Man sah sie oft zusammen, und es wurde öffentlich gemunkelt, Mrs. Ferrars warte nur das Ende des Trauerjahres ab, um Mrs. Ackroyd zu werden.

Die Ferrars lebten erst seit einem Jahr hier, doch Ackroyd umgab bereits seit vielen Jahren eine Aura von Klatsch. In den Jahren, als Ralph Paton heranwuchs, stand eine Reihe von Hausdamen der Wirtschaft Ackroyds vor, und alle wurden sie von Caroline und ihren Bekannten mit lebhaftestem Argwohn beobachtet. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass das ganze Dorf seit fünfzehn Jahren erwartete, Ackroyd werde eine seiner Haushälterinnen heiraten. Die letzte, eine gefürchtete Dame, Miss Russell, herrschte bereits seit fünf Jahren unumschränkt, das ist zweimal so lange wie jede ihrer Vorgängerinnen. Man ist der Ansicht, dass es Ackroyd ohne das Auftauchen von Mrs. Ferrars diesmal wohl erwischt hätte. Dazu kam allerdings noch ein weiterer Faktor: Eine verwitwete Schwägerin und deren Tochter trafen unvermutet aus Kanada ein. Mrs. Cecily Ackroyd, die Witwe von Ackroyds jüngerem Bruder, wurde in Fernly Park ansässig, und ihr gelang es – Caroline zufolge –, Miss Russell in ihre Grenzen zurückzuweisen.

Ich weiß nicht genau, was unter «Grenzen» zu verstehen ist, aber ich weiß, dass Miss Russell mit zusammengekniffenen Lippen umhergeht und mit größtem Mitgefühl von der «armen Mrs. Ackroyd» spricht, die auf die «Mildtätigkeit» des Schwagers angewiesen sei. «Das Gnadenbrot schmeckt so bitter, nicht wahr? Ich wäre todunglücklich, wenn ich mir meinen Lebensunterhalt nicht selbst verdienen würde.»

Ich weiß nicht, wie sich Mrs. Cecily Ackroyd zur Angelegenheit Ferrars verhielt. Offenkundig lag es in ihrem Interesse, dass Ackroyd unvermählt blieb. Doch sie kam Mrs. Ferrars immer reizend – um nicht zu sagen überschwänglich – entgegen, wenn sie einander trafen. Caroline meint allerdings, dass dies so viel wie nichts beweise.

In dieser Weise unterhielt man sich in King’s Abbot.

Diese und verschiedene andere Dinge gingen mir durch den Kopf, während ich mechanisch meine Krankenbesuche machte.

Ich hatte gerade keine besonders schwierigen Fälle, was vielleicht ein Glück war, da meine Gedanken immer wieder um den geheimnisvollen Tod von Mrs. Ferrars kreisten. Hatte sie sich selbst umgebracht? Wenn dem so wäre, hätte sie sicher einige Zeilen hinterlassen, um ihre Handlungsweise zu erklären. Wenn Frauen einmal den Entschluss zum Selbstmord fassen, wollen sie nach meiner Erfahrung auch den Gemütszustand schildern, der sie zu der unheilvollen Tat trieb.

Wann hatte ich sie zum letzten Mal gesehen? Es dürfte eine Woche her sein. Ihr Verhalten damals war wie sonst gewesen. Dann entsann ich mich plötzlich, dass ich sie auch gestern noch gesehen hatte, ohne allerdings mit ihr gesprochen zu haben. Ich sah sie mit Ralph Paton spazieren gehen, was mich überraschte, da ich keine Ahnung hatte, dass er in King’s Abbot war. Ich dachte, er hätte sich endgültig mit seinem Stiefvater entzweit. Seit sechs Monaten hatte er sich hier nicht blicken lassen. Sie schlenderten Seite an Seite, steckten die Köpfe zusammen, und sie sprach sehr ernst auf ihn ein.

Ich glaube mit Sicherheit behaupten zu können, dass mich in diesem Augenblick die Ahnung künftigen Unheils beschlich. In jedem Fall berührte das Zusammensein von Ralph Paton und Mrs. Ferrars mich unangenehm.

Während ich noch darüber nachsann, stand ich plötzlich Roger Ackroyd gegenüber.

«Sheppard!», rief er. «Gerade Sie wollte ich treffen. Welch fürchterliches Unglück!»

Ich überlegte, was ich antworten sollte …

«Sie hörten also bereits davon?»

Er nickte. Es war ein harter Schlag für ihn gewesen, das sah ich. Seine roten Wangen schienen eingefallen, und von seinem sonstigen munteren Wesen war fast nichts zu spüren.

«Es ist schlimmer, als Sie glauben», sagte er leise. «Kommen Sie, Sheppard, ich muss mit Ihnen reden. Könnten Sie mich nicht begleiten?»

«Kaum. Ich muss noch drei Patienten besuchen und um 12 Uhr zur Sprechstunde zuhause sein.»

«Dann auf heute Nachmittag – oder nein, kommen Sie doch am Abend zu mir zum Essen. Um halb acht. Ist es Ihnen recht?»

«Ja – das lässt sich einrichten. Was ist los? Etwas mit Ralph?»

Ich weiß nicht, warum ich so fragte – vielleicht, weil es sich so oft um Ralph gehandelt hatte.

Ackroyd starrte mich verblüfft, fast verständnislos an.

Ich begann zu verstehen, dass wirklich etwas sehr Schlimmes vorgefallen sein musste.

Nie vorher hatte ich Ackroyd so verstört gesehen.

«Ralph?», sagte er unsicher. «O nein, Ralph nicht. Ralph ist in London. – Verdammt! Da kommt die alte Miss Ganett. Ich möchte von ihr nicht auf dieses grässliche Ereignis angesprochen werden. Ich sehe Sie also heute Abend, Sheppard. Um halb acht.»

Ich nickte; er eilte fort, und ich blickte ihm nachdenklich nach. Ralph in London? Er war doch ganz sicher gestern Nachmittag in King’s Abbot gewesen. Sollte er noch gestern Abend oder heute Morgen früh abgereist sein? Und doch erweckte Ackroyds Art und Weise einen ganz anderen Eindruck. Er sprach, als wäre Ralph seit Monaten nicht hier gewesen.

Ich hatte nicht länger Zeit, darüber nachzudenken. Wissbegierig stürzte Miss Ganett auf mich zu.

War das nicht traurig mit der armen, guten Mrs. Ferrars? Viele Leute behaupten, dass sie seit Jahren nachweislich Betäubungsmittel genommen habe. So bösartig reden die Leute. Und das Schlimmste ist, dass in diesen wilden Behauptungen immer irgendwo ein Körnchen Wahrheit steckt. Ohne Feuer kein Rauch! Es wird auch behauptet, dass Mr. Ackroyd dahintergekommen sei und deshalb das Verlöbnis gelöst habe – denn verlobt waren sie. Sie, Miss Ganett, habe dafür sichere Beweise. Ich wisse natürlich alles genauer – Ärzte wüssten immer alles, nur sagten sie es nie, nicht wahr?

Und all dies mit scharfem, prüfendem Blick, um die Wirkung ihrer Andeutungen zu beobachten.

Glücklicherweise hatte ich durch ein langes Zusammenleben mit Caroline gelernt, unerschütterlich Haltung zu bewahren und mit unverbindlichen Redensarten auszuweichen.

Ich beglückwünschte daher Miss Ganett, dass sie in diesen üblen Klatsch nicht mit einstimmte, was ich für einen guten Gegenzug hielt. Das verwirrte sie, und ehe sie sich fassen konnte, war ich weitergegangen.

Tief in Gedanken versunken, kam ich nachhause, wo im Sprechzimmer bereits mehrere Patienten warteten.

Als letzte Patientin erhob sich eine Dame, die ich in ihrer Ecke beinahe übersehen hätte. Ich blickte sie überrascht an. Warum ich so erstaunt war, weiß ich nicht. Vielleicht, weil Miss Russell einen so merkwürdigen Eindruck machte.

Ackroyds Haushälterin ist eine hochgewachsene, hübsche Frau, die unnahbar aussieht. Sie blickt streng und hält die Lippen fest geschlossen. Wenn ich ein Haus – oder Küchenmädchen wäre, würde ich laufen, was mich meine Beine trügen, ihr tunlichst aus dem Weg gehen.

«Guten Morgen, Doktor Sheppard», sagte Miss Russell. «Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mein Knie untersuchen wollten.»

Ich sah es mir an, muss aber sagen, dass ich nachher nicht klüger war. Miss Russells unklarer Bericht über ihre Schmerzen war so wenig überzeugend, dass ich eine andere, weniger rechtschaffene Frau der Vorspiegelung falscher Tatsachen verdächtigt hätte. Einen Augenblick schoss es mir durch den Kopf, ob Miss Russell nicht diese Knieverletzung erfunden habe, um mich über Mrs. Ferrars’ Tod auszuhorchen; doch ich sah bald ein, dass ich sie hierin wenigstens verkannt hatte. Sie streifte die Tragödie nur kurz.

«Nun, ich danke Ihnen vielmals für das Einreibemittel, lieber Doktor», sagte sie schließlich. «Allerdings glaube ich nicht, dass es mir viel helfen wird.»

Ich glaubte es auch nicht, doch widersprach ich pflichtgemäß. Schließlich konnte es keinesfalls schaden, und es ist nötig, sich für seinen Beruf einzusetzen.

«Ich glaube an keine dieser Arzneien», meinte Miss Russell, während ihre Augen geringschätzig über meine Flaschenreihe schweiften. «Arzneien richten oft viel Unheil an. Nehmen Sie zum Beispiel das Kokainschnupfen.»

«Nun, was das anbetrifft …»

«Es kommt in den besten Kreisen vor.»

Ich bin überzeugt, dass Miss Russell in den besten Kreisen viel besser Bescheid weiß als ich. Ich versuchte daher nicht, mit ihr darüber zu streiten.

«Sagen Sie mir nur eines lieber Doktor», fuhr Miss Russell fort. «Wenn jemand wirklich diesem Laster verfallen ist, gibt es da keine Hilfe?»

Eine derartige Frage kann nicht so kurzerhand beantwortet werden. Ich hielt ihr in gedrängter Kürze einen Vortrag über das Thema, dem sie mit gespannter Aufmerksamkeit lauschte. Innerlich verdächtigte ich sie noch immer, etwas über Mrs. Ferrars in Erfahrung zu bringen.

«Was zum Beispiel Veronal betrifft …», fuhr ich fort. Doch merkwürdigerweise schien Veronal sie nicht zu interessieren. Statt dessen lenkte sie ab und erkundigte sich, ob es richtig sei, dass es Gifte gebe, die nicht nachgewiesen werden könnten.

«Oh!», sagte ich. «Sie haben sicher Detektivgeschichten gelesen.»

Sie gab es zu.

«Das Wesen einer Detektivgeschichte besteht darin», erläuterte ich, «ein seltenes Gift – wenn möglich aus Südamerika – zu besitzen, von dem noch niemand je gehört hat; ein Gift, in das ein unbekannter wilder Volksstamm seine Pfeile taucht. Der Tod erfolgt augenblicklich, und die Wissenschaft ist machtlos, es nachzuweisen. So etwas meinen Sie wohl?»

«Ja, gibt es wirklich etwas Derartiges?»

Bedauernd schüttelte ich den Kopf.

«Ich fürchte, dass es das nicht gibt. Allerdings haben wir Curare.» Ich erzählte ihr noch einiges über Curare, doch schien sie wieder das Interesse verloren zu haben. Sie fragte, ob ich in meinem Giftschrank etwas vorrätig hätte, und als ich verneinen musste, sank ich augenscheinlich in ihrer Achtung. Dann verabschiedete sie sich.

Nie hätte ich bei Miss Russell eine Vorliebe für Detektivgeschichten vermutet. Ich stellte mir mit Vergnügen vor, wie sie aus ihrem Zimmer herausstürzte, um ein pflichtvergessenes Mädchen zu schelten, und dann zurückkehrte, um sich beschaulich der Lektüre von Mord auf dem Golfplatz oder ähnlichem hinzugeben.