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Während es sich durch das offene Fenster ins Zimmer schwang, zog es die Brust zusammen, als zwänge sich eine Maus durch einen Spalt, der halb so breit war wie sie.

Tabitha stolperte zurück und hielt eine Hand vors Gesicht, als wolle sie sogleich den grausigen, wahr gewordenen Mummenschanz zur Seite schieben, damit wieder Normalität einkehrte. Ihre Lippen schnappten stumm vor Fassungslosigkeit, als das glitschige Geschöpf in die Hocke ging und seinen markanten Schädel leicht schief stellte. Es betrachtete sie mit kreatürlichem Interesse.

»Komm mit runter, Kind«, schrie Mrs. Fletcher von der Tür aus, aber Tabitha hörte nicht auf sie. Sie konnte nicht, denn der Anblick erfüllte sie mit solcher Angst, dass sie meinte, ihr Körper gefriere und zersplittere daraufhin in Millionen Stücke. Dies konnte nur der Leibhaftige sein, der dem Inferno entstiegen war, um sie dafür zu richten, dass sie das Vertrauen eines blinden Jungen missbraucht hatte. Er würde nicht zimperlich vorgehen, wenn er ihr die Seele aus dem Leib würgte, und gewiss seine Freude haben, wie sie in seinen Zügen erkannte.

Sie ging weiter rückwärts und hielt den Atem an, bis sie fest gegen die Bettkante stieß. Heißer Schmerz zuckte in ihrem linken Bein nach unten, während sie das Gesicht verzog, doch wie er abflaute, stellte sich Klarheit ein.

»Himmel Herrgott, Mädchen … wirst du dich sputen?«

Sie registrierte die Mahnung, überwand ihre Lähmung und duckte sich.

Unter dem Fenster knirschte es leise, als das Wesen seine Muskeln anspannte. Das weiße Wabern, mit dem es seine Umwelt wahrnahm, lohte, kräuselte sich und züngelte aus den Augenhöhlen bis auf die schwarzen Wangen.

Es sprang hoch.

Gleichzeitig musste Tabitha ihre Stellung aufgeben: Die Kreatur zog ihr die Füße mit den Hinterläufen weg, und sie stieß gegen das Bett, ehe sie mit der Nase auf dem Holzboden aufschlug. Sie sah nur noch Sterne und floh wimmernd zu der Tür, wobei sie damit rechnete, gleich messerscharfe Zähne im Kreuz zu spüren, bevor das Vieh ihre inneren Organe mit sadistischem Genuss aufspießte. Das Blut strömte warm über ihre vor Schreck erkaltete Haut.

»Drecksbalg«, hörte sie und wälzte sich auf den Rücken. Mrs. Fletcher stand neben dem Bett, und das Wesen wand sich am Boden wie vor einem Schlangenbeschwörer, obgleich sich dieses abstoßende Grinsen immer noch über sein schwarzes Gesichtsfell spannte. Es sah aus wie die Verkörperung sündhafter Häme.

Mrs. Fletcher drückte ab, woraufhin es sich überlegen gackernd zur Seite warf. Die Kugel sauste vorbei, und es kletterte an der Wand gegenüber des Bettes hoch. Das Fenster brach aus dem Rahmen, was in dem kleinen Raum ohrenbetäubend laut klirrte; mit etwas Verzögerung hörten sie die Scherben auf den Hof fallen. »Raus hier!«, rief Mrs. Fletcher, während sie rasch nachlud. Angstschweiß und Pulverrauch lagen schwer in der Luft. Tabitha ächzte und versuchte, den stechenden Schmerz zwischen ihren Rippen zu verdrängen, als sie sich aufraffte. Das Monster bereitete sich auf einen weiteren Ansturm vor.

Tabitha lief los.

Der schwelende Schatten brüllte und stieß sich von der Wand ab.

Mrs. Fletcher fluchte, klappte das Gewehr zu und wirbelte herum, währenddessen sie es hochhob. Es war ein verzweifelter Versuch, die Kreatur im Sturz auf das weinende Mädchen anzuvisieren.

Tabitha hielt die Hände über ihren Kopf, während sie das Zimmer durchquerte. Nicht mehr weit, und sie erreichte die Tagelöhnerin, die mit der Waffe im Anschlag ausharrte.

Es knallte und schmatzte sogleich, als die Kugel in die dicke Haut schlug. Tabitha schaute hoch, just als das Ding nach links schnappte und die Mauer noch im Flug rammte. Sie hievte sich unter panischem Quengeln aus dem Weg, war aber nicht schnell genug. Das Biest krachte zu Boden und begrub dabei ihre Füße unter sich. Sie kreischte und krallte sich mit den Fingernägeln an die Bohlen, während es über ihr um sich schlug. Blut spritzte aus einem münzgroßen Loch in seinem Rücken. Geifer klebte an seinen mahlenden Kiefern, und die schwarze Zunge schnellte heraus, als wolle es den Boden ablecken.

»Hilfe!« Tabitha hämmerte mit den Fäusten auf den Boden und trat aus, um sich das widerliche Etwas, das sie gebannt hatte, vom Leib zu schaffen. Feuchte, harte Schuppen schürften ihre Haut auf. »Schnell«, flehte sie. Wie lange mochte es sich von seiner eigenen Pein aufhalten lassen? Bald würde es merken, dass sein Opfer wehrlos unter ihm lag; dann bekam ihr Fleisch seine Krallen zu spüren. Plötzlich fiel ihr ein, was ihr Bruder gesagt hatte: Er hat mir das angetan … kratzte mich.

Mrs. Fletcher steckte flink eine weitere Patrone in die Kammer und eilte zu ihr. Sollte sie zuerst schießen oder das Mädchen befreien? Zu Tabithas Erleichterung entschied sie sich für Letzteres und streckte ihre rechte Hand aus, während sie die Waffe fest in der linken hielt. »Pack zu«, forderte sie mit rotem Gesicht, und Tabitha hob den Arm.

Ihre Finger berührten sich, und das Mädchen stöhnte wütend. »Dichter. Ich … kann nicht … schnell!« Natürlich musste die Haushälterin Abstand vor dem Untier wahren, doch ihr Zaudern verärgerte Tabitha, die sich bereits von Phantomklauen zerfetzt wähnte.

Mrs. Fletcher machte sich länger, da glitt Tabithas Hand in ihre. Sie zerrte heftig daran, und schon war das Mädchen frei. Ihre Freude währte nicht lange, verwandelte sich binnen Kurzem in Konfusion und schlussendlich Entsetzen: So kräftig hatte Mrs. Fletcher nicht gezogen, als dass es so rasch gelungen wäre, was bedeutete …

Das Geschöpf hatte sich bewegt.

Die Frau ließ los und schob sich zurück, während sie an der Waffe fummelte und den Blick an die Wand richtete, wo ein dunkler Blutfleck zurückgeblieben war.

»Jetzt gilt es«, sprach sie leise. »Lauf, solange die Tür frei ist.«

»Was wird aus Ihnen?«

»Lauf einfach!«

Das ließ sich Tabitha nicht zweimal sagen. Während sie sich auf den Knien umdrehte, war sie sich des aufgequollenen Schattens über ihr sehr deutlich bewusst. Schon standen ihre Füße fest auf dem Boden, und sie stützte sich noch mit einer Hand ab, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen.

Hinter ihr klickte es, als Mrs. Fletcher den Hahn zurückzog.

»Jetzt!«, rief sie, und Tabitha rannte los.

Das Gewehr knallte, der Dämon fauchte erneut, und wieder spritzte Blut.

Tabitha lief über die Schwelle, und in die Stille nach dem Schuss brach Mrs. Fletchers zittriges Stöhnen.