25
Es landete vor ihr, bleckte die Hauer und schüchterte sie mit weiß glühenden Augen ein. Mrs. Fletcher sah nur noch einen Weg und scherte sich nicht um das Ergebnis ihres Handels. Sie trat zu, und zwar kräftig. Ihr Absatz stieß gegen den Kiefer des Geschöpfes, woraufhin es sich grunzend zurückzog. Sein Kopf flog dabei zur Seite und bespritzte die Wand mit durchsichtigem Schleim. Es brauchte nur wenige Sekunden, um sich aufzuraffen, doch da war die Tagelöhnerin schon vorbeigelaufen und hastete kreischend durch den Flur.
Sie hatte keine Zeit, um sich zu fragen, was dieses Höllenwesen war und woher es kam, doch es musste für das Verschwinden des Hausherrn verantwortlich sein. Es hatte sich Zugang zum Haus verschafft, vermutlich heimlich, nachdem sie eingenickt war. Auch für die ramponierte Wohnzimmertür war es verantwortlich und – sie wollte nicht daran denken, was es ihrem Arbeitgeber angetan haben mochte, zumal sie sich gerade nicht erlauben durfte, zu trauern. Vielmehr bedauerte sie bereits, kostbare Sekunden damit verschwendet zu haben, der bizarren Kreatur beim geradezu hypnotischen Abstieg von der Decke zuzuschauen.
Mrs. Fletcher erreichte die Haustür und riskierte einen Blick zurück. Das Monster folgte ihr, allerdings träge kriechend, als lasse es keine Eile walten, um sie zu stellen. Es würde sie fassen, egal wie schnell sie rannte; dies gehörte sogar zur Jagd und steigerte seinen Genuss. Wie eine Raubkatze bewegte es sich, mit rollenden Schultern und geduckt. Es hatte kein langes Fell, sondern schwarze Haut, die das Licht eher zu verschlingen schien, statt es zu reflektieren. Dicke, weiße Krallen klickten auf dem Parkett, während es sich lässig auf die alte Frau zubewegte.
Mrs. Fletcher öffnete die Tür und stürmte in den Regen. Ihr Herz wummerte so schnell, dass sie einen Infarkt befürchtete. Allein der Gedanke, das sabbernde Vieh möge sich an ihrer erkaltenden Leiche laben, trieb sie weiter an.
Wind und Wasser bedrängten sie, verlangsamten ihre Flucht und machten die Haut in ihrem Gesicht taub. Nicht weit voraus standen die niedrigen Ställe, jeder von ihnen ein schwarzer Wust. Einen Moment lang zögerte sie mit dem grauenhaften Gedanken, das Wesen möge nicht allein gekommen sein, und eine Rotte lauerte ihr im Dunkeln auf. Ein anschwellendes Grummeln hinter ihr zwang sie dazu, ihre Furcht abzulegen, und sie hastete weiter. Sie wusste, wenige Schritte trennten sie von Versteckmöglichkeiten und Waffen, mit denen sie sich wehren konnte.
Der offene Hauseingang zeigte ihr die Silhouette des Untiers, dann kam es gemächlich die Stufen herunter. Ließ es sich Zeit, weil es sie geradewegs in die Arme seiner Geschwister treiben wollte? Mrs. Fletcher hielt den Atem an; schon hatte sie die Ställe erreicht und hastete hinein. Drinnen roch es nach Heu und längst entferntem Mist, dessen Gestank wie eingebrannt war. Sie fand sich schnell in der Finsternis zurecht und gelangte an die hintere Wand, da ertastete sie einen Holzstab. Sie packte zu und zog daran, bis er sich von einem Metallbock löste. Sie fuhr daran entlang nach oben. Am Ende steckte dünner Stahl, der sich von ihr wegbog.
Eine Mistgabel.
Perfekt.
Blitze erhellten das Gut, und gleich darauf krachte Donner durch die schwarze Masse am Himmel. Die Haushälterin fuhr herum und fasste die offene Stalltür ins Auge. Ihre Hände umschlossen fest die Gabel. Sie streckte sie von sich, schon kam der schlüpfrige Schatten um die Ecke und ins Gebäude. Seine blassen Augen schwelten verheißungsvoll.
»Florrrenccce«, zischte es, und der Schock, es sprechen zu hören, schwächte Mrs. Fletcher. Woher kannte ein derart widerwärtiges, unnatürliches Ding ihren Namen? Fast hätte sie die Waffe fallen gelassen und sich ihrem Schicksal ergeben, denn gewiss doch: Solch diabolisches Leben ließ sich nicht von Menschen beziehungsweise etwas Menschgemachtem unschädlich machen. Rasch aber fasste sie sich wieder und klaubte jedes Fragment ihres christlichen Glaubens zusammen. So wurde sie zuversichtlich, das Böse zu besiegen oder wenigstens zu vertreiben. Schließlich würde niemand Grady und die Kinder vorwarnen, wenn sie nichtsahnend zurückkehrten, um ihren Vater wiederzusehen, so sich Mrs. Fletcher einfach kaltstellen ließ, auf dass sich das Vieh aufs Ärgste an ihr verging.
Dieser Gedanke führte zu einem weiteren, und es versetzte ihrem Herzen einen Stich, sich die Gesichter der Kinder unleugbar vor Augen halten zu müssen, während sie ihnen unterbreitete, was geschehen, was aus ihrem Vater geworden war – nach all den Jahren, die sie darauf gewartet hatten, dass er aus seinem Stupor erwachte. Sie würde behaupten, ein Dämon sei gekommen und habe ihn mitgenommen, während sie in Erklärungsnot geriet, da sie insgeheim selbst dachte, es sei ein Dämon, der ihren Master entführt hatte, jetzt im Torweg stand und auf sie wartete.
Wie er sie betrachtete, stand sein Maul ein Stück weit auf, als grinse er.
»Hinfort«, rief sie im erzwungenen Ton einer Gebieterin. »Los verschwinde, oder ich schwöre, ich durchbohre dich.«
Das Monstrum rührte sich nicht.
»Zieh weiter«, blaffte sie und stocherte mit der Mistgabel vor seiner Nase herum. »Sofort!«
Es roch nach feuchter Erde – umso eindringlicher, als es vorsichtig näherkam.
»Verflucht! Hau endlich von hier ab!«
Es blieb uneinsichtig, senkte jedoch das Haupt. Das abwegig phosphoreszierende Licht seiner Augen warf Schatten auf den Lehmboden der Stallung. Mrs. Fletcher stach ernsthaft zu, da schob es unbeeindruckt den Kopf zur Seite, um auszuweichen.
Da ihr keine andere Wahl mehr blieb, hatte sie nur noch eines im Sinn. Dieses Hin und Her mochte die ganze Nacht andauern oder bis sie Kraft und Willen verlor oder sobald das Wesen die Gabel nicht mehr als Bedrohung ansah und angriff. So schob sich die Frau langsam nach rechts, während sie es gleichzeitig auf Distanz hielt. Dadurch vermochte sie, es zu umkreisen, und schaffte es zum Ausgang. Die Torflügel schwangen aus; vielleicht war sie schnell genug, um es einzusperren – ein riskantes Unterfangen, bei dem sie höchstwahrscheinlich scheitern würde, doch sonst blieb ihr nichts übrig. Wagte es unterdessen, sie zu attackieren, spießte sie es auf wie ein Schwein und ließ es im Stall verbluten.
Gut, dachte sie und verspürte ein wenig Rückhalt, es mag ein miserabler Plan sein, aber immerhin besser, als stehen zu bleiben und darauf zu warten, dass mir der Balg zuvorkommt. Sie schüttete so viel Adrenalin aus, dass sie einen Geschmack wie von Kupfer im Mund verspürte, der sie an Blut erinnerte, also spuckte sie und bewegte sich weiter, während das Geschöpf die Gegenrichtung einschlug. Es war eindeutig wütend, weil es gegen seinen Willen handeln musste, wo es wohl bloß danach trachtete, sein Opfer niederzustrecken.
»So ists brav«, murmelte sie. Nicht mehr viel fehlte, und sie trat über die Schwelle. »Ja … schön vorsichtig …«
Sie warf einen Blick nach rechts, um die Entfernung abzuschätzen, die sie zurücklegen musste; zu spät stellte sie fest, dass ihr Feind genau darauf spekuliert hatte. Er sprang auf sie zu, obwohl die Zargen der Gabel nur wenige Zoll vor seiner Kehle ausgerichtet waren, und berührte sie dabei nicht einmal mit dem Bauch. Röhrend stieg es in die Höhe und glotzte dabei, als seien seine Augen Monde. Mrs. Fletcher geriet in Panik und wollte sich entziehen, wobei sie fest genug gegen eine Wand stieß, um die Arbeitsgeräte gegenüber zum Wackeln zu bringen. Ihre Beine rutschten weg, sie fiel ungünstig und verlor die Gabel.
»Nein«, schrie sie und sah zu, wie die unbeschreiblich weißen Augen auf sie herabstürzten. Ohne nachzudenken, wälzte sie sich herum, und das Vieh landete in der Hocke, wo sie Sekunden zuvor noch gelegen hatte. Es schnappte noch nach ihr; die Zunge im weit aufgerissenen Mund sah aus wie ein Lindwurm, den man aus seiner Höhle gelockt hatte. Mrs. Fletcher krabbelte rückwärts, was ihre Gelenke mit feurigem Schmerz quittierten. Sie wimmerte und patschte mit beiden Händen auf der Erde nach der Mistgabel.
Das Wesen setzte zum erneuten Sprung an, und aus dieser Nähe bestand keine Hoffnung mehr für sie, auszuweichen.
Oh Gott, nein!
Sie fühlte ein Rundholz, das immer noch warm von ihren Fingern war, und griff zu.
Das weiße Feuer schnurrte zusammen, als das Untier die Ohren anlegte und mit einem Schrei abhob.
Schon hielt Mrs. Fletcher die Gabel senkrecht und stemmte die Stange gegen die Erde. Ihre Hände waren derart verschwitzt, dass sie Angst hatte, die Waffe entgleite ihr ein weiteres Mal. Bitte, bitte, Gott …
In der Luft konnte das Wesen schwerlich etwas an seinem Fall ändern, was es jedoch nicht vom Zappeln abhielt. Wie eine Katze über dem Feuer wand es sich, aber zu spät: Mrs. Fletcher riss sich zusammen und die Augen weit auf. Ihr Herz raste, als das Geschöpf auf die Zargen stürzte. Unter der Wucht neigte sich die Mistgabel über ihren Kopf hinweg nach hinten und fiel ihr tatsächlich aus den Händen. Sie kreischte, duckte sich und schlug die Arme über sich zusammen, weil sie sicher war, es werde sie unter sich begraben, aber es klatschte neben dem Tor auf den Boden, schlug und trat um sich. Mrs. Fletcher wich aus und drehte sich um; gleich stand sie wieder auf den Beinen. Entsetzt sah sie aber, dass die Gabel die Kreatur zwar erwischt hatte, doch durch ihr Gezappel im letzten Augenblick waren nur zwei der vier Zargen durchs Fleisch gedrungen, und zwar nur zwischen den Rippen statt am Bauch. Entsetzt realisierte Mrs. Fletcher, dass es die Gabel abschüttelte. Sobald es sich befreit hatte, würde es vermutlich mit einem Jähzorn zurückschlagen, dem sie nicht gewachsen war.
Also rannte sie los. Es hangelte mit seiner Pranke in die Toröffnung, und sie stöhnte kurz auf. Dann aber gelangte sie vorbei und befand sich einmal mehr im kalten Regen, schlug die Flügel eilig zu und fummelte an dem Riegel, während das Ding kraftlos von innen drückte. Als das Schloss endlich einrastete, sackte Mrs. Fletcher erleichtert am Boden zusammen, war sich jedoch bewusst, dass das Holz, hinter dem die Kreatur festsaß, alt war und nicht lange halten würde.
Schnell stand sie auf und stolperte eher, als dass sie lief, zurück zum Haus.
***
Der Wind ließ das Wasser waagerecht über die Scheiben laufen. Tabitha lauschte dem animalischen Geheul des Sturms und schauderte, obwohl es warm in ihrem Zimmer war. Ansonsten herrschte Stille im Haus. Wie sie so auf der Seite im Bett lag, dachte sie an Neil, der irgendwo dort draußen war, vermutlich in den Händen eines Wahnsinnigen, der ihn misshandelte. Kalte Schuldgefühle verursachten ihr Magenkrämpfe. Sie sah ein, dass sie eine weit gewichtigere Rolle in diesem Trauerspiel eingenommen hatte, als sie bis jetzt zu glauben geneigt war. Donald hätte Neil wohl selbst irgendeine Falle stellen können, doch diese wäre zweifellos eher primitiver Natur und deshalb zum Scheitern verurteilt gewesen, allein schon wegen seiner völligen Unfähigkeit zur Diskretion. Binnen Kurzem aber hatte sein Vorhaben dank ihrer Beteiligung gefruchtet, und selbst dann noch nicht zur Gänze. Donald war darauf erpicht gewesen, Neil vor versammeltem Volk bloßzustellen, den armen Jungen zu schmähen, doch so richtig hatte es nicht funktioniert, obwohl sein Hauptziel erreicht war: Neil hatte sich in Luft aufgelöst, entführt wahrscheinlich von dem Bandagierten, und während sie nicht glaubte, Donald schlafe nun schlecht – der Alkohol, den ihm der Fremde zur Belohnung gegeben hatte, wirkte dem vehement entgegen –, rechnete sie damit, in der Gewissheit ihrer Schande selbst nie wieder ein Auge zumachen zu können.
Wieso tat ich es überhaupt? Sie wusste sich keine Antwort zu geben. Dass die Situation von Beginn an harmlos gewirkt hatte und eigentlich nie zu einem solchen Albtraum werden sollte, war eine schwache Ausrede, das wusste Tabitha. Das Schlimmste, was sie zu befürchten hatte, war, dass ihr Bruder Neil eine Zeit lang terrorisierte, bis er sich langweilte oder Grady an die Tür klopfte und verlangte, er solle sich einen anderen Prügelknaben für seine kranken Gelüste suchen.
Sie setzte sich abrupt auf und ließ die Beine über die Bettkante hängen. Der Regen prasselte gegen die Scheibe, als wolle er verhindern, wozu sie sich gerade durchrang.
Tabitha wollte sich einreden, es sei absolut nicht haltlos, Neil wohlauf zu vermuten. Grady mochte ihn gefunden haben, sodass Neil jetzt gesund in seinem warmen Bett schlummerte.
Grady war eine liebevolle, sanftmütige Person, doch am Abend hatte sie eine bisher ungekannte Seite von ihm gesehen. Ein inneres Feuer schien ihn anzustacheln – eine heikle Flamme, die auszutreten drohte, um alles in Reichweite zu verzehren, bis er besänftigt war. Seine Augen hatten Ölpfützen geglichen, bloß kalt und bedrohlich. Diesen Blick erwartete man von Tieren, die ihre Jungen verteidigten; falls er Neil noch suchte, schreckte er vor nichts zurück. Leider wusste niemand von ihnen Genaues über den Mann mit den Verbänden und seine Fähigkeiten. Konnte ein alter Mann wie Grady mit ihm verhandeln? Falls nicht, würde er es mit jemandem aufnehmen, der offensichtlich dem Irrsinn anheimgefallen war?
Sie glaubte es nicht.
Sollte sie in der Zwischenzeit in Decken gehüllt und vor Schuld zum Himmel stinkend dasitzen, um auf ein Zeichen zu warten, alles sei gut gegangen, und sie trage am Ende doch keine Verantwortung dafür, Unheil über einen Unschuldigen gebracht zu haben?
Nein, der Müßiggang würde ihr den Verstand rauben.
Sie musste es selbst herausfinden.
Entschlossen raffte sie sich auf.
Einer ihrer Füße berührte den Boden, als es an der Tür kratzte.
***
Neil rannte, während die Nacht um ihn lebendig wurde, schillernde Phantasmagorien in Silber und Schwarz. Er hüpfte mit den anderen einher, und wie seine Krallen beim Auftreten scharrten, klang es nach Trommelwirbel. Ihr Keuchen war nicht von seinem zu unterscheiden. Feuchte Erde sank ein und flog hinterrücks hoch, wo er wandelte, was ihm vorkam, als zerreiße er Fleisch, denn nach nichts sehnte er sich gerade mehr. Der Hunger war wie ein Infekt, aber nun die natürlichste Sache der Welt, auch trotz der anhaltenden Konfusion, die seinen Geist in Beschlag nahm: Er war nicht immer so gierig gewesen, hatte nie diesen Drang verspürt, sich über Gebühr zu sättigen. Die Kälte sauste wie eine Sense über ihn hinweg und sang auch genauso, als sie seine aufgesprungene Haut streifte. Er fühlte sich, als sei das schwache Fleisch hart und undurchdringlich geworden, in dem er all die Jahre sein Dasein gefristet hatte … wie eine Rüstung. Er öffnete den Mund – sein Maul – und lachte mit Wonne, bloß klang es ganz und gar nicht danach. Vorübergehend enervierte es ihn, was das schiere Machtgefühl, das ihn durchpulste, jedoch relativierte. Er lebte. Weiß Gott, so lebendig hatte er sich noch nie gefühlt. Nichts konnte ihn nun verletzen.
Dafür gab es eine Menge, das er verletzen konnte und wollte.
Die Nacht und das Unwetter waren wie ein Schleier, der sich im Wind blähte, lichtete und eine neue, fremde Welt offenbarte – eine Welt voller Opfer, die auf seine Herrschaft wartete. Er war ihr gegenüber blind gewesen und erst jetzt reif für sie. Nein, sie war reif für ihn.
Er raste weiter, benommen von der Euphorie dieses seltsamen, neuen Lebens, betrunken in Gedanken an die Folgen seiner neuen Gestalt und das darob Mögliche.
Schließlich und unvermeidbar kehrten vage wie im Nebel die Erinnerungen an sein altes Leben wider, dazu die Bilder der Menschen, die es mit ihm geteilt hatten, und er war schwer erleichtert und sah sich ermutigt, weil sie ihn mitnichten Liebe empfinden ließen, sondern Abscheu.