15


Tabitha hatte es unangenehm warm in ihrem Hexenkostüm. Sie knabberte an einem Stück Obstkuchen und bemühte sich, ein wenig lockerer zu werden. Die Feier war nun schon fast eine Stunde im Gange, und von Neil fehlte nach wie vor jede Spur. Sie betete, der Regen habe ihn und seine Schwester dazu bewogen, nicht zu kommen. Falls dem so war, brauchte sie keine Retourkutsche von Donald zu erwarten, denn wie das Wetter ausfiel, hatte sie schließlich nicht zu verantworten. Scheiterte sein Plan, wie auch immer er sich gestalten mochte, lag dies nicht in ihrer Verantwortung.

Bedenken hatte sie aber weiterhin. Die Stimmung an diesem Abend kam ihr anders vor, obwohl alles im Saal wie jedes Jahr aussah – tanzende Derwische, juchzende Gnome, Krepppapier an den Wänden und Plastikteufel an den Türen, alldieweil man es sich gut gehen ließ. Trotzdem lag etwas im Argen, was sie bislang auf den Sturm zurückgeführt hatte. Vor Gewittern knisterte es stets, doch insgeheim wusste sie, dass sie sich diese gefällige Erklärung bloß zurechtlegte, um das flaue Gefühl, das sie schon den ganzen Tag lang hatte, nicht ergründen zu müssen.

Die nerven, redete sie sich ein. Da sie sich von ihrem Bruder dazu nötigen ließ, einen arglosen Blinden an der Nase herumzuführen, war ihr Unwohlsein nachvollziehbar. Sie hatte nichts gegen Neil Mansfield. Er war noch nie dergestalt mit ihr ins Gehege gekommen, dass sie zurückfeuern musste, und er hatte mit seinen gewollt barschen Reaktionen kein einziges Mal auf ihre Ehre abgezielt. Was sie am meisten bedauerte, war die Tatsache, dass sie ihn, wenn sie ehrlich in sich hineinhorchte, gewissermaßen schätzte und sogar durchaus romantisch verklärte. In der Vergangenheit jedoch hatte sie solche Gefühle stets unterdrückt, weil sie ihn bemitleidete – was ungerecht war, aber sie konnte nicht anders – und zudem ein wenig Angst hatte: Wie funktionierte eine Beziehung zu einem Jungen ohne Augenlicht, und was sollten die Leute dazu sagen? Ihr Vater sah sicher ungern, dass seine Prinzessin außerstande war, sich einen Freund zu angeln, dem das Schicksal nicht so übel mitgespielt hatte.

Der Kuchen lag ihr bleischwer im Magen, also suchte sie rasch auf den Tischen im Saal nach Getränken. Auch nachdem sie sich für ein Glas Punsch aus einer Schale entschieden hatte, in die Konfetti gerieselt war, löste sich der Kloß in ihrem Bauch nicht und schien ihrer Schuldigkeit Ausdruck zu verleihen.

»Du wirst etwas Stärkeres brauchen, falls dein Herzbube nicht bald aufkreuzt«, höhnte eine Stimme hinter ihr, woraufhin sie sich umdrehte. Donald war ihr unangenehm dicht auf den Leib gerückt; das Sackleinen, das er zum Fest trug, kitzelte ihre Fingerspitzen.

»Ich kann nicht fassen, dass du das angezogen hast«, äußerte sie geringschätzig mit Verweis auf den Stoff, der sich an seiner Taille spannte.

»Ich gehe als Kartoffelsack«, verkündete er stolz. »Außerdem sehe ich darin nicht halb so idiotisch aus, wie der Rest der Leute, du inbegriffen. Was stellst du überhaupt dar, ein Großmütterchen?«

»Lass mich in Ruhe.« Sie drehte sich wieder zur Tafel um. Kurz darauf war ihre Kopfbedeckung weg; er hatte sie ihr flink abgenommen. Erneut wandte sie sich ihm zu, sehr langsam. »Gib ihn zurück.«

Donald setzte sich den spitzen Hexenhut auf und breitete die Arme weit aus. »Wie findest du das? Besser?«

Sie wollte sich auf eine Diskussion einlassen, seufzte dann jedoch abweisend. »Toll. Kannst ihn behalten.«

Donald freute sich. »Jetzt sag, wo ist er?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Wenn nicht du, wer dann? Er ist dein Geliebter.«

»Ist er nicht, und ich habe keine Ahnung. Gut möglich, dass er gar nicht kommt.«

Donald näherte sich weiter, sodass sie seine Fahne roch und kurz glaubte, er wolle sie küssen. »Bete darum, dass er kommt.« Sein Blick streifte ihre Lippen und schürte die einstweilige Befürchtung noch einmal. Sie verzog das Gesicht, weil sie der durchdringende Alkoholgestank anwiderte. Dann begegneten sich ihre Blicke. »Falls nämlich nicht«, fuhr er fort und zeigte die Zähne, »wirst du losziehen und ihn zum Tanz schleifen müssen.« Seine Pupillen waren geweitet, das Weiß blutunterlaufen. Nun wusste sie, was ihm der Mann mit dem Kopfverband gegeben hatte: Schnaps.

»Warum?«, fragte sie. »Was reizt dich so sehr an ihm? Hat er dir je etwas getan?«

»Hat er dir je etwas getan?«, äffte Donald mit Fistelstimme nach. »Wer sagt denn, dass er etwas verbrochen haben muss? Ich bin es bloß leid, dass er mit Samthandschuhen angefasst wird, nur weil er blind ist, mehr nicht. Er stolpert durchs Dorf wie der versoffene Campbell und lässt sich trotzdem hofieren wie ein König. Stell dem kleinen Maulwurf ein Bein, und das halbe Dorf hängt sich mit Knüppeln an dein Revers. Pfeif drauf! Das wäre das eine … zweitens interessiert sich ein Bekannter von mir brennend für ihn, alles klar?«

»Wer ist der Kerl?«, drängte sie und merkte gleich, dass sie Donald so aus der Reserve lockte. Er mochte die Beherrschung verlieren und ihr wehtun, aber diese Frage brannte ihr auf den Lippen. Sie hegte zunehmend den Verdacht, ihr Bruder sei trotz seiner Verstocktheit und der Gräuel, zu denen er manchmal neigte, nicht allein darauf aus, Neil etwas zuleide zu tun.

»Geht dich rein gar nichts an«, schoss er zurück. »Nur ein …«

Rotkäppchen schaute an ihm vorbei auf Tabitha. Sie war wie aus dem nichts im Raum aufgetaucht, weshalb Donald verstummte. »Hi, Tabitha.« Kate lächelte, als wüsste sie Bescheid.

Da hatte er zu einer gemeinen Tirade anheben wollen, wurde aber unterbrochen und quasi auf seinen Rang verwiesen – ausgerechnet von einem Mädchen … Jetzt erst bemerkte er, wer sie war und vor allem, in wessen Arm sie sich eingehakt hatte.

Neil war da.

Tabitha wurde panisch, als sich die Lippen ihres Bruders zu einem breiten Grinsen spannten.


***


Mrs. Fletcher hatte sich stets für fromm gehalten, obwohl ihr Glaube durch den Tod ihres Mannes und jüngsten Sohnes schwer erschüttert worden war. Sie hatte aufgehört, den Gottesdienst zu besuchen, der Religion jedoch nicht gänzlich abgeschworen. Dieser Abend nun lehrte sie wieder Ehrfurcht, denn was sie gerade erlebte, grenzte an ein Wunder. Nicht nur, dass ein sterbender Mann erwacht war; nein, er hatte gesprochen, auch wenn die Worte, die seinen blassen Lippen entronnen waren, nur Zeugnis über das Ausmaß seiner Agonie ablegten. Zuletzt hatte er einen Arm gehoben und gebeten, sie möge ihm helfen, sich aufrecht hinzusetzen, was alle eventuellen Bedenken zerstob, diese scheinbare Besserung sei bloß flüchtiger Natur und führe schlicht in die Irre, bevor es schlussendlich bergab mit ihm gehe. Sie war verblüfft. Zwar hätte sie es nie geäußert, doch eigentlich war sie davon ausgegangen, er lebe nicht mehr lange. Sein Aussehen sowie Doktor Campbells düstere Andeutungen hatten sie darauf vorbereitet, ihn bald betrauern und die Kinder trösten zu müssen.

Nun aber …

Nun konnte Mrs. Fletcher kaum erwarten, dass die beiden nach Hause zurückkamen und sahen, wie ihr Vater im Bett saß. Sie würden ihren Augen nicht trauen. Man durfte wieder hoffen und glauben, die Vorhänge des dunklen, staubigen Hauses seien aufgezogen worden. Der Arzt musste sie unbedingt aufsuchen, sobald er Zeit fand, und sei es nur zur Bestätigung, dass die jüngste Kritik an seiner Kompetenz nicht unbegründet gewesen war.

»Mein Gott«, schnaufte sie, als sie die Kissen aufschüttelte und hinter ihren schmächtig gewordenen Herrn schob. Sie weinte unbeherrscht und jedes Mal aufs Neue, wenn sich der Mann aus eigenen Stücken zu einer Geste bewegte und damit Stärke bezeugte, die man ihm so lange abgesprochen hatte. Mochte er immer noch totenbleich und schwach sein, kehrte das Leben in seine Augen zurück. Die Wolken um ihn lösten sich auf, und dahinter zeigte sich sprichwörtlich blauer Himmel.

Es war ein Wunder. Ein wahres Wunder und nur des Masters Bedürfnisse hielten die Tagelöhnerin davon ab, aus dem Haus ins Unwetter zu laufen, um die Kinder zu rufen und ihnen die frohe Kunde zu übermitteln, auf die sie seit Ewigkeiten warteten: Er ist zu uns zurückgekehrt!

Indes, etwas an seinem Verhalten, das sie zu schnell als Nachwirkung seines Leidens gedeutet hatte, besorgte sie zutiefst und versetzte ihrer Jubelstimmung einen Dämpfer, sobald sie sich darauf versteifte.

Seine heisere Stimme vertrieb die Bedenken vorübergehend.

»Was wünschen Sie, Sir?«, fragte sie.

»Wasser«, krächzte er.

»Natürlich.« Emsig nahm sie das Tablett auf, wo sie es beim Hereinkommen abgestellt hatte, und brachte es zum Nachttisch. Im Licht der Laterne wirkte Jack Mansfield so ausgemergelt, dass sich Mrs. Fletcher fragte, ob sie sich nicht doch zu früh gefreut hatte; vielleicht war sein Aufleben tatsächlich nur einer Gnadenfrist geschuldet, ehe ihn der Tod heimsuchte.

Sie schaute zu, wie er die Decke vor seiner Brust glattstrich. Selbst diese simple Bewegung hätte niemand mehr in seinem Schlafzimmer erwartet. Gerade, dass man es ihm nicht zugetraut hatte, machte die Handlung umso wichtiger. Die alte Frau setzte sich auf die Bettkante und wollte ihm gerade das Wasserglas an den Mund halten, als er es eigenhändig nahm. Erneut staunte sie nicht schlecht. War es möglich, sich so rasch zu erholen? Welch absonderliches Weh verflüchtigte sich derart zügig aus dem Körper und ließ ihn einigermaßen gestärkt zurück?

Er schluckte gierig, bis das Glas leer war. Sie nahm es ihm behutsam ab und stellte es wieder aufs Tablett.

»Sir, wie geht es Ihnen?«

Er antwortete mit einem Husten, der ihr Angst machte. War dies der Moment, in dem sich die Illusion seiner Heilung zerstob, um ihn erneut zur lethargischen Hülle werden zu lassen?

Schon hatte er sich wieder beruhigt. Seine roten Wangen bezeugten Entschlussfreude. Seine Finger langten nach Mrs. Fletchers Handgelenk.

»Ich muss aufstehen«, bedeutete er. »Helfen Sie mir.«

»Oh«, stöhnte sie und erhob sich ruckartig, da er Anstalten machte, sich aus dem Bett zu wuchten. »Ich finde, Sie sollten liegen bleiben, Sir. Warten Sie wenigstens, bis Doktor Campbell eine …«

»Ich habe verdammt noch mal lange genug gelegen und will jetzt aufstehen. Etwas stimmt nicht, und wir … Sie müssen es in Ordnung bringen.« Als sie ihn verständnislos ansah, fügte er an: »Die Kinder schweben in Gefahr.«

»Master, machen Sie sich jetzt keinen Kummer. Ich versichere Ihnen, Kate und Neil geht es gut. Sie sind mit Mr. Grady zum Herbstball gegangen.« Ihr Lächeln erstarb, als er anfing, sich aufzudecken. Seine käsigen Beine waren dürr wie Streichhölzer; der Anblick versetzte ihr einen weiteren Stich. »Sir, bitte …«

Er ignorierte sie. Seine Bewegungen blieben fahrig, als er einen Arm ausstreckte und die Finger spreizte, um anzuzeigen, sie möge ihn nicht behindern.

»Es geht ihnen nicht gut«, berichtigte er in entschiedenem Ton, »falls wir müßig bleiben.«

Er hat Wahnvorstellungen, glaubte Mrs. Fletcher, und die Enttäuschung relativierte die Zuversicht. Die Krankheit ist bloß ins nächste Stadium fortgeschritten.

Schwungvoll wuchtete er die Beine von der Matratze, bevor er atemlos innehielt. Er schaute zu Boden, als klaffe dort ein Abgrund, und als er den Kopf wieder anhob, war sein Wille wieder der Furcht gewichen. »Ich bin nicht sicher, ob ich stehen kann«, gab er zu.

Sie rutschte zu ihm, nahm ihn an einer Hand und legte seinen Arm um ihren Hals, wobei sie ihn dafür schalt, sich erheben zu wollen, bevor sein Körper die Anstrengung verwinden konnte. Dann stand sie mit ihm auf und erschrak, weil er so leicht war, kaum schwerer als ein Sack Federn. Sie hielt ihn weiter fest und fand es erneut seltsam, dass er nicht mehr im Koma lag, sondern neben seinem Bett stand. Er zog seinen Arm fort und schaffte es, sich aufrecht zu halten, wenn auch mit wackligen Knien. Das bemüßigte ihn, zufrieden zu nicken.

Mrs. Fletcher schaute ihn an und schüttelte den Kopf. Er sah aus wie ein klappriges Gestell. »Sie sind noch zu schwach, Sir«, wies sie ihn zurecht. »Das ist töricht.«

Der böse Blick, den sie sich damit einhandelte, war eine weitere Unstimmigkeit und brachte sie zum Schweigen.

»Sie begreifen nicht«, erwiderte er. »Jemand trachtet nach den Kindern. Eigentlich sollte ich sie beschützen, doch leider habe ich die Grenzen meiner Nützlichkeit ausgereizt. Mehr denn je stelle ich nun eine Bedrohung dar.«

Sie fasste sich schreckhaft an die Brust. »Aber Sir … Fieber plagte Sie; woher wissen Sie, was irgendwem passieren mag?«

»Kann ich nicht sagen, aber es wird passieren. Wenn Sie mir nun helfen wollen, hören Sie zuallererst auf, mich zu bemuttern. So schießen Sie an dem vorbei, was wichtig ist … die Kinder.«

Mrs. Fletcher ließ sich nicht überzeugen und nahm damit in Kauf, seinen Zorn auf sich zu ziehen, doch seine febrilen Gespinste waren nicht mehr zu ertragen. »Sir, Sie brauchen Bettruhe. Lassen Sie mich nach Doktor Campbell schicken.«

»Ich will ihn hier nicht haben, Florence. Falls Sie ihn rufen, werde ich ihn umbringen, verstehen Sie das? Er hat mit dieser Angelegenheit nichts zu schaffen, und stellen Sie Ihre enervierende Fürsorge ab, oder ich sehe mich gezwungen, die Sache allein zu erledigen.« Sein Gesicht verfinsterte sich. »Glauben Sie mir, das werde ich.«

Donner ließ die Fenster vibrieren.

Mrs. Fletcher war völlig durcheinander und ängstigte sich mehr denn je. Sie ging zurück bis zur Tür in der Ahnung, er möge trotz seines angeschlagenen Zustands irgendwoher die Kraft aufbringen, sie zu erdrosseln, weil sie ihm nicht helfen wollte. Das lang anhaltende Leiden hatte ihm wohl den Verstand geraubt, und sie konnte nur hoffen, ihn bei der Stange zu halten, bis Grady heimkehrte, der bestimmt einen Rat kannte. Entgegen der Hierarchie waren er und der Master seit Jahren enge Freunde.

»Nun gut«, sagte sie leise. »Was erwarten Sie von mir?«

Er schien ein wenig in die Knie zu gehen, und einen ohnmächtigen Moment lang sah sie kommen, dass er zusammenbrach. Dann jedoch richtete er sich auf und kam auf sie zu. »Bringen Sie mich nach unten.«