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Nachdem Grady seine Geschichte erzählt hatte, stand er vom Sofa auf und ging zum Kredenztisch neben dem Fenster, wo er sich ein Glas Brandy eingoss. Dabei sah er Kates blasses Gesicht im Spiegel des Möbels. Ihre Augen waren geweitet, und sie verschränkte die Finger ineinander, damit sie ruhig blieben.

»Tut mir leid. Ich weiß, wie das klingt, und bevor Sie mich darauf stoßen, ja, ich bin ein verrückter, alter Tölpel.« Er pfropfte den Deckel wieder auf die Karaffe aus Kristallglas und kehrte mit dem Getränk zu seinem Platz zurück. »Wie gesagt, ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich selbst noch daran glaube.«

»Es ist lachhaft«, befand Kate. »Monster im Moor? Vater hat dergleichen behauptet, um uns Angst einzujagen.«

»Das tat er zu Recht. Womöglich wollte er Ihnen so Respekt vor der Gegend einflößen und Sie von dort fernhalten.«

»Ich finde, solche Märchen gehören in Londoner Schundzeitschriften und haben nichts mit der Realität zu tun!«

»Jetzt wissen Sie eben, was ich gesehen habe. Vielleicht blieb wegen des Nebels manches undeutlich, doch worum es sich auch handelte, es brachte Royle mit einem Schlag seiner Pranken um und riss das Pferd in Stücke.«

»Könnte doch ein Wolf oder ein wilder Hund gewesen sein.«

»Könnte.« Gradys Tonfall verhehlte nicht, dass er daran zweifelte.

»Versuchte nach dem Vorfall niemand, es zu erlegen? Wollte kein Mensch herausfinden, was es ist?«

»Nein, weshalb denn?« Er nippte am Brandy. »Tapferkeit hin oder her, man stellt dem Teufel nicht nach, weil man befürchtet, dabei seine Seele zu verlieren. Nichts ängstigt uns mehr.«

Kate betrachtete das Fensterkreuz und die Nebelschwaden, die von draußen gegen die Scheiben drängten. »Dann treibt es sich immer noch dort herum.«

»Seitdem hat es sich nicht wieder blicken lassen«, versicherte Grady, obwohl dies nicht der Wahrheit entsprach. Dennoch hatte er das Gefühl, die Notlüge sei gerechtfertigt, gerade weil die Furcht Kate fest im Griff hatte. Er wollte ihr die andauernde Angst ersparen, die er selbst seit dem Tag der Suche im Herzen hegte.

Als sie ihn wieder anschaute, sah sie nicht mehr ängstlich, sondern traurig aus. »Was hat es Vater angetan?«

Grady drehte den Kopf langsam hin und her. »Ich weiß es nicht. Es verletzte und infizierte ihn irgendwie.«

Ihre Unterlippe bebte, und Tränen füllten ihre Augen. »Mit was?«

Er schenkte ihr ein verkrampftes Grinsen. »Das weiß ich auch nicht, aber was auch immer es ist, er wird stark genug sein, um es zu überwinden. Danach wird er Ihnen alle Antworten geben, mit denen ich nicht aufwarten kann.«

»Dann ist es egal«, entgegnete sie im schwankenden Tonfall. »Falls … wenn er wieder zu sich kommt, werde ich mich nicht mehr um die Ursache scheren.«

Eine unangenehme Stille senkte sich über sie und lastete eine Weile auf den beiden, bis Grady sein bestes Lächeln aufsetzte und sagte: »Möchten Sie dem Herbsttanz heute Abend immer noch beiwohnen?«

Sie nickte. »Ich muss, denn andernfalls werde ich wahnsinnig vor lauter Grübeln.«

»Dann sollten wir uns sputen und in Schale werfen. Ich möchte Mrs. Fletchers Zorn nicht auf mich ziehen, nur weil ich Ihren Redefluss nicht unterbunden habe.«

Damit erhob er sich, nahm sie bei den Händen und zog sie behutsam hoch.

»Entschuldigung.« Sie schluchzte und legte die Arme um seinen Hals. »Ich würde Sie nie hinauswerfen. Sie und Mrs. Fletcher sind alles, was ich noch habe.«

Er streichelte ihren Kopf und trocknete die Tränen. »Und das wird auch so bleiben.«

Obwohl sie nickte, sah er, dass sie nicht überzeugt war. Dann entzog sie sich, und er verstand, weshalb sie sein Versprechen nicht für voll nehmen wollte. Schließlich hatte sie ihre Mutter verloren, und jetzt fiel ihr Vater offensichtlich einer unergründlichen Krankheit anheim. Versprechen bedeuteten nichts mehr – nicht seit sie erkannt hatte, wie vergänglich das Leben war.

»Ich mache mich besser frisch.« Sie wich seinem Blick aus, damit er den neuerlichen Tränensturz nicht sah. Als sie zur Tür ging, fragte sich Grady, wie schnell die Zeit vergangen sei, nun, da sie sich wie eine junge Dame benahm. Er war ständig zugegen gewesen und hatte ihr beim Aufwachsen zugeschaut, doch irgendwie beschlich ihn das Gefühl, etwas verpasst zu haben, als hätte sie sich wie ein Insekt verpuppt, um zum hübschen Schmetterling heranzureifen. Er zog die Mundwinkel nach oben, als sie sich zu ihm umdrehte. Dunkle Wolken der Sorge erstickten seinen Überschwang letztlich. Vielleicht lag es an des Masters Erwachen, Halloween und dem damit verbundenen Aberglauben oder der Feststellung, dass Kate ihren sicheren Hort bald verlassen und der Welt ins Auge blicken musste. In jedem Fall aber verengte eine üble Vorahnung seine Brust, als zöge ein Sturm auf – ein vehementes Unwetter, das sie alle vernichten mochte.


***


Dieses ungezogene Ding hat Nerven, dachte Campbell, als er seine Nase am Ärmel abwischte und den glänzenden Striemen betrachtete, der auf dem Stoff zurückblieb. Die morgendliche Kälte setzte seinen Knochen zu, obwohl er den Mantel so fest um sich gezogen hatte, dass er bei einem einzigen Niesen zerrissen wäre. Dennoch schlotterte er unbeherrscht und klapperte mit den Zähnen. Ihm war, als zeige der Winter Krallen und kratze seine Lippen auf. Wie unbehaglich es tatsächlich draußen war, sollte er erst bemerken, sobald er das warme Fox & Mare betrat. Er wollte die Finger nicht aus den Taschen ziehen, weil er keine Handschuhe trug, doch da sein Flachmann in einer steckte, muss durfte er sich te er dieses Opfer bringen. So spannte er die Schultern an, als er neben der Steinwand stehen blieb, die die Straße vom brodelnden Sumpf trennte, und nahm den Whiskey heraus. Nachdem er ihn rasch aufgeschraubt hatte, genehmigte er sich einen kräftigen Schluck und fühlte gleich, wie sich die Hitze in seinem Magen ausbreitete. Ehe er weiterging, rülpste er genüsslich, steckte das Fläschchen wieder ein und behielt die Hände gleich in den Taschen.

Verwöhnter Balg.

Er hatte diese Göre aus dem Schoß ihrer Mutter geborgen, sie trockengewischt und ihr auf den Rücken geklopft, damit sie den ersten Atemzug ihres Lebens nahm. Während er sich jetzt ihrer Schmähungen von zuvor entsann, wünschte er sich, Einfaltspinsel Grady hätte ihm erlaubt, zum zweiten Mal Hand an sie zu legen. Wie ihre Augen und Halsadern vor Wut hervorgetreten waren, als handle es sich um Stricke unter einem Stofftuch, oder der hasserfüllt verzogene Mund. Alles bloß deshalb, weil er entschieden hatte, ihr die Wahrheit zu sagen, statt ihr etwas Angenehmeres als Trauer in Aussicht zu stellen. Er kam nicht über ihre Frechheit hinweg. Hätte er in diesem Alter derart aufbegehrt, wäre ihm die Zunge aus dem Mund gerissen worden. Genau dies hätte er auch versucht, so er mit ihr allein gewesen wäre. In Gradys Beisein jedoch mochte er sich dadurch nur in Kalamitäten bringen, denn der Hausdiener verhielt sich ihr gegenüber wie ein treuer Hund.

Campbell seufzte. Zumindest durfte er sich an Kates verwirrtem Blick in dem Moment aufheitern, als er ihr das Blut gezeigt hatte. Im Nu war sie kleinlaut geworden, womit er gerechnet hatte. Auch wenn ihn die seltsame Farbe ebenso vor ein Rätsel stellte. Es war vollkommen unnatürlich, dass ein Lebewesen statt rotem Blut etwas metallisch Aussehendes absonderte, doch der Doktor begriff ums Verrecken nicht, wie es dazu kommen konnte.

Die Fachleute in London beziehungsweise seine ehemaligen Kollegen hätten ihre rege Freude daran. Ob er sie einweihen würde oder nicht, musste er noch entscheiden. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelte es sich bei dem Fluidum um eine bahnbrechende Entdeckung – eine wegweisende Anomalie, die ihn steinreich machen und neuerliches Ansehen genießen lassen mochte. In seinen nächtlichen Wahnvorstellungen maßte er sich noch an, einmal ein geachteter Arzt gewesen zu sein. Infolgedessen verspürte er stets Tatendrang, wohingegen ihn die Wirklichkeit oftmals rasch auf den Boden der Tatsachen zurückholte, wie es auch heute der Fall gewesen war.

Die Welt geriet aus den Fugen. War es da ein Wunder, dass er sich regelmäßig in die Vergessenheit flüchtete und sein Heil im Whiskey suchte, der ihn vor den Dummdreisten, den frommen Eiferern und Betrügern bewahrte? Keinesfalls. Der Mikrokosmos seines eigenen Daseins war vor nicht allzu langer Zeit implodiert, als er der Tatsache ins Auge gesehen hatte, dass sich seine Tage nicht mehr großartig voneinander unterschieden, während Fieberträume und verdrängte Erinnerungen die Nächte beherrschten. Seine Ehefrau hatte ihn fallen lassen wie eine heiße Kartoffel und sich geschwind einen Liebhaber angelacht, der wohl nur lauwarm war. Campbell hingegen hatte sich zur fahlen und leeren Hülle heruntergewirtschaftet. Seine Adern zeichneten sich wie Spinnweben unter der Haut ab, und den Mund brauchte er, wenn er nicht gerade über Krankheitsbilder mutmaßte, nur zum Konsum des Treibstoffes, der ihn daran erinnerte, wie man Luft holte – oder besser gesagt, im Alkoholtaumel redete er sich ein, er wolle noch atmen und aufwachen, wenn sich ein weiterer Morgen anschickte, gehässiges Licht auf sein Antlitz zu werfen.

Und weiß Gott, es machte ihn wütend – so sehr, dass er ewig viel Zeit damit vergeudet hatte, dem Idealbild eines treusorgenden Ehemannes zu entsprechen, und ihm klar gewesen war, dass er sich darauf überhaupt nicht verstand. Die Ehe galt ihm im wahrsten Sinn des Wortes als Institution. Darin gab es für ihn keinen Mittelweg und keine Kulanz. Vielmehr pendelte man sich allmählich zwischen zwei Rollen ein, der tonangebenden und der unterwürfigen, gefangen als Paar zwischen falscher Sympathie und pflichtbewusster Zärtlichkeit. Am schlimmsten dabei war, dass nicht er den dominanten Part gespielt hatte, sondern auf den des stillen Beobachters zurückgeworfen war, der ständig starrte und trotzdem nicht verstand, wen oder was er geheiratet hatte. Über Nacht schien Agnes ’ Zurückhaltung einer unerklärlichen Kühnheit gewichen zu sein, mit welcher er nicht übereinkam. Sie entwickelte sich zu einem schnatternden Weibsbild, das einzig auf Äußerlichkeiten und ihren gesellschaftlichen Stand achtete. Manchmal verspürte sie auch den starken Drang, Abstand von Brent Prior und dem »schmierigen Fußvolk« zu nehmen, wie sie es nannte. Agnes war eine Frau der Dünkel und Allüren geworden. Sie hegte verstiegene Erwartungen, war atemberaubend schön und dessen ungeachtet schrecklich oberflächlich. Während er ihre Tiraden und wahnhaften Selbstgespräche – beides im Duktus einer Aktrice, die sich an ein Publikum wendete statt an ihren Gatten – wortlos über sich ergehen lassen hatte, war der harte Panzer, den sein Zorn legiert hatte, mit der Zeit aufgesprungen. Wie aus einem Keim entspross Argwohn, der wiederum Triebe echter Abscheu schlug.

Dann fing sie mit dem Schmuck an.

Mit einer Brosche nahm es seinen Lauf, einem zumindest Campbells Einschätzung nach billigem Schnittstein, den sie vermutlich auf einem ihrer langsam zur Gewohnheit werdenden Abstecher nach Devon gekauft hatte. Nach einigen Monaten aber hatten sich kostbarere Stücke auf ihrem Nachttisch angehäuft. Zu Beginn redete er sich noch ein – wohl bewusst zur Selbsttäuschung –, sie erstehe all dies für sich selbst, doch diese sowieso fadenscheinige Ausflucht zerschlug sich eines Abends, als sie betrunken nach Hause kam. Sie hatte Gin gesoffen und verströmte einen virilen Gestank, als sei sie bei einem anderen Mann gewesen. Zudem machte sie keine Anstalten, eine neue Perlenkette vor Campbell zu verstecken.

»Bei wem warst du?«, wollte er wissen, obwohl er nicht erwartete, den Namen des Kerls zu kennen. Trotzdem konnte er nicht aufhören, darüber nachzusinnen, wobei er sich schämte, weil er überhaupt keinen Zorn empfand. Er stand nicht einmal auf, während sie vor ihm stolzierte – ja, sich als Fremdgängerin brüstete, als sei er ihr Bruder, ein Freund oder Vertrauter, aber nicht ihr Ehemann. Er blieb einfach mit den Händen zwischen den Oberschenkeln sitzen. Ihr Verhalten hätte ihn rasend machen sollen, tat es aber nicht, sondern kratzte bestenfalls an der Oberfläche seiner Seele, die mit dem Alter ohnehin schrundig geworden war.

»Er heißt Simon und ist ein echter Gentleman.«

Der Betrug an sich störte ihn weniger als ihr mangelndes Schuldbewusstsein. Sie wirkte fast stolz und führte sich auf, als hätte er längst von ihrer Affäre wissen oder sie mindestens ahnen müssen.

Vier Tage später war sie auf und davon – kein Brief, kein persönlicher Abschied. Was blieb, war allein ihr Geruch in einem kalten, verstaubten Haus.

Wochen vergingen, ehe sich Wut bemerkbar machte. Um deren Flammen zu löschen, verfiel er nach der Abstinenz, zu der er fünfzehn Jahre zuvor auf Agnes’ Geheiß hin angetreten war, erneut dem Alkohol. In gewisser Weise bildete er sich dabei ein, seinerseits sie zu hintergehen, weshalb er es genoss und dabei blieb, bis er keinen anderen Lebensinhalt mehr sah. Bald vergaß er, weshalb er seine abtrünnige Frau überhaupt verachtete, wusste nur noch, dass er es tat und auch weiterhin so halten würde.

»Wer ist da?«, fragte jemand und schreckte den Arzt aus seinem Wachtraum auf. Er lehnte an der Mauer und sah durch seinen Atemnebel, wie langsam ein Junge auf ihn zukam.

Es war Mansfields Sohn, ein weiteres Gör, ruppig und schlecht erzogen. Er missbrauchte seine Blindheit, um arglos und ohne Reue jeden zu beschimpfen, der ihm nicht gefiel.

Verdammte Kinder … Bastarde allesamt. Man ersäuft sie besser gleich nach der Geburt.

Der Junge, dessen Augen abgesehen von einem silbrigen Glast gänzlich weiß waren, runzelte die Stirn, während er den Kiesweg vor sich mit einem langen, dünnen Stock abklopfte. Dabei streckte er einen Arm von sich und grapschte mit seinen schmutzigen Fingern ins Leere. »Weisen Sie sich aus.«

Jetzt hat er die Augen seines Vaters, dachte Campbell und grinste hämisch, als er zurückwich. Kalter Stein stach in sein Kreuz, während der Blinde nach ihm langte und sein Gesicht nur um wenige Zoll verfehlte. Schweigend hoffte er darauf, der Knabe werde weitergehen.

Neil schnüffelte, ehe er leicht angewidert dreinschaute. »Ach, Sie sind es«, bemerkte er und setzte seinen Weg zu dem imposanten Sandsteingebäude fort, das die Ortschaft von Barrow Hill aus überblickte.

Campbell sah ihm einen Augenblick lang hinterher, spuckte dann auf den Boden und nahm seinen Flachmann wieder heraus. Der junge Mansfield hatte ihn seit jeher angeekelt, was einen triftigeren Grund hatte und nicht nur am Verhalten des Kindes lag. Von seiner Blindheit rührte es auch nicht, denn Campbell praktizierte schon zu lange, als dass er sich etwas daraus gemacht hätte. Was es genau war, konnte er aber nicht bestimmen. Jetzt nahm er es mit Gleichmut hin und zog lange an seinem Whiskey, ehe er den Deckel wieder aufschraubte und das Fläschchen im Mantel verstaute. Dann eilte er zum Fox & Mare, wo ihn, wie er hoffte, angenehmere Gesellschaft erwartete.