17
»Ich schließe«, gab Sarah Laws im für sie üblich unpersönlichen Ton bekannt.
Fowler hielt sein Glas hoch. »Einen noch für den Weg bitte.«
»Wenn Sie so denken, sollten Sie gar nichts trinken. Sie hatten sowieso genug.« Sie nahm ihm das Glas ab und wischte der Form halber einmal zwischen seinen Ellbogen über die Tischplatte. »Sie gehen jetzt besser.«
Er bedachte sie mit einem mitleiderregenden Lächeln; der übermäßige Alkoholkonsum hatte ihm melancholische Gedanken eingegeben.
»Ich verziehe mich ja.«
»Gut.« Sie kehrte zum Tresen zurück.
»Aus dem Dorf, meine ich.«
Sie blieb nicht stehen, schwankte nicht einmal kurz, und dies enttäuschte ihn schwer. Gerade in dieser Nacht hätte er ein ausgiebiges Gespräch gut gebrauchen können, doch Sarah Laws ging wie immer zur Tagesordnung über, als unterscheide sich der Krämer kaum von anderen Betrunkenen, denen sie sieben Tage die Woche zuhören musste. Vermutlich war er auch gar nicht so anders. Für etwas Besonderes hatte er sich ohnehin nie gehalten. Im Laufe der Jahre waren Falten hinzugekommen, und seine Haut hing schlaff herab, wo sie einst straff gewesen war. Er hatte zugenommen, und nun schob sich sein Wanst über den Gürtel, während die verfluchte Trinkerei Blutgefäße an Wangen und Nase platzen ließ. Sein Teint nahm allmählich die Farbe von Frühstücksfleisch an, wohingegen sein einst fülliger Blondschopf schütter und grau wurde.
»Nur noch einen«, rief er laut, weil er nach dieser optischen Standortbestimmung frustriert war. So drohte er, den Zorn der Frau auf sich zu ziehen, die er heute Abend zum letzten Mal im Leben sah. »Danach bist du mich für immer los, versprochen.«
Als Sarah nicht antwortete, zuckte er mit den Achseln und fluchte leise vor sich hin.
Aufgepeitscht von einem Wind, der die Mauern zum Wackeln brachte, prasselte der Regen gegen die Scheiben. Das Licht hinterm Tresen ging aus, da drehte sich Fowler um und sah Sarahs Umrisse über der Lampe.
»Wer übernimmt den Laden?«, fragte sie dann. Ihre Stimme ließ ihn zusammenzucken.
»Mansfields Sohn.« Dass dies ihr einziger Gedanke dabei war, verärgerte ihn umso mehr. In Brent Prior gab es nicht viel, das ihn zum Bleiben bewogen hätte. Zumindest würde er nichts vermissen und hatte den Eindruck – nicht zuletzt wegen Sarahs Gleichgültigkeit –, dass auch niemand um ihn trauerte, wenn er fort war. So deprimierend es war, musste er es hinnehmen.
Sarah äußerte noch etwas, doch er verstand es nicht, und als er aufschaute, hatte sie ihre Nase ans Fenster gedrückt und hielt die Hände an ihre Augen, um etwas zu erkennen.
»Was ist los?«, wollte er wissen.
Ihr Atem beschlug die Scheibe. »Ich fragte, ob Sie Hunde haben.«
»Nein, warum?«
Sie schien den Gedanken abzutun und trat vom Fenster zurück. »Mir war, als hätte ich welche dort draußen gesehen, das ist alles.«
Er sah zu, wie sie zur Lampe ging, die am weitesten vom Fenster entfernt stand, und bekam Herzrasen. »Hunde?«
Sie nickte kurz und löschte die Flamme, woraufhin sich der Schattenfall im Lokal veränderte und die Ecke in Dunkelheit tauchte.
Er schluckte seine Panik hinunter. »Bitte lass etwas Licht an.«
Sie ging nicht darauf ein und bewegte sich zur letzten Lampe, die hinter ihm an der Innenseite der Eingangstür hing.
»Sie müssen wohl oder übel gehen«, erinnerte sie im kühlen Ton. »Ich kann nicht die ganze Nacht auflassen.«
»Ich weiß, ich weiß.« Sein Blick verschwamm zusehends, wurde grobkörnig wie von schwarzen Staubflusen. »Aber … warte noch ein paar Minuten. Bitte.«
Sie seufzte, als sie zur Theke zurückging. Er fühlte sich ein wenig erleichtert.
»Danke. Wirklich, ich mache dir nicht mehr lange Umstände.« Er lächelte, während sie schon wieder am Fenster stand und in die Finsternis spähte. Als er es sah, verging ihm die entspannte Miene. »Sind sie immer noch da?«
»Anscheinend nicht.«
Er wollte bleiben, denn in der Taverne war es warm und sicher für ihn, aber Sarah duldete wahrscheinlich keinen weiteren Aufschub. Obwohl er nicht weit entfernt wohnte, graute ihm vor der Vorstellung, was ihm draußen auflauern und seinen Weg zum Höllenritt machen mochte.
»Ich nehme an«, begann er nervös, »du lässt mich nicht hier übernachten.«
Sarah stand kerzengerade. »Was möchten Sie damit andeuten?«
»Nichts Anzügliches, glaube mir. Es ist bloß so, dass … nun, ich kann es nicht erklären, aber … ich bin gerade ein wenig verstört. Vielleicht hat es mit Halloween zu tun, keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich nicht gerade erpicht darauf bin, mich durch das Unwetter zu schlagen und auf eine Rotte wilder Hunde zu stoßen.«
»Ich glaube kaum, dass sie wild sind. Wo wollen Sie schlafen?«
»Oh, auf dem Boden oder der Theke, ganz einerlei … wo du mich lässt. Ich stellte keine Ansprüche.« Er bemühte sich um sein charmantestes Lächeln, da fiel ihm ein, dass sie es im Dunkeln wohl gar nicht sah, zumal er nicht annahm, sie werde sich davon beeinflussen lassen.
»Tut mir leid«, schloss sie. »Ich darf keine Gäste hier schlafen lassen. Wenn ich damit beginne, erwartet jeder die gleiche Behandlung von mir, ganz zu schweigen von den unappetitlichen Mutmaßungen, die man über mich anstellen würde, und darauf bin ich nicht gerade erpicht.«
»Nein, nein«, beharrte er und stand halb vom Stuhl auf. »Ich reise morgen ab, also braucht niemand davon zu erfahren.«
»Und wenn man Sie bei Sonnenaufgang sieht, wird man darauf schließen, Sarah Laws verabschiede sich auf besondere Weise von ihren Gästen.« Sie winkte mit einer Hand. »Verzeihung, aber das geht wirklich nicht.«
»Aber, falls …«
»Mr. Fowler …«
Seufzend rückte er den Stuhl nach hinten und trat zur Seite. »Ich würde wirklich keine Umstände machen.«
»Es reicht schon, dass Sie meine Entscheidung nicht akzeptieren«, erwiderte Sarah und kam durch den Raum zur Tür.
»Ich wollte dich nicht verärgern«, behauptete er. »Vergib mir.«
Stille herrschte, als sie den Türgriff packte und wartete. Fowler gab sich geschlagen, ging hin und schaute zu, wie sie die Lampe vom Nagel im Holz nahm. Er erwartete, sie blase den Docht aus, und wähnte sich bereits im Dunkeln, war jedoch überrascht, als sie ihm das Licht reichte und die Tür einen Spaltbreit aufzog. Wind pfiff um die Laibung.
Er bedankte sich.
»Stellen Sie das Ding morgen früh einfach vorm Haus ab.«
Er zögerte, suchte ihren Blick. »Ich halte dich für eine anständige Frau«, ließ er sie wissen, »und bedaure, dass du unglücklich bist.«
Sie quittierte es erneut mit einem knappen Nicken. »Gute Nacht und viel Glück, Mr. Fowler. Ich werde Sie hier vermissen.«
Fast hätte er gelacht.
»Gute Nacht, Sarah.«
Er ging hinaus in die stürmische Nacht, duckte sich reflexartig vor dem wütenden Wind und Regen. Als er sich nach Sarah umdrehte, hatte sie bereits abgeschlossen. Er leckte über seine Lippen und hob die Lampe hoch. Ihr Licht reichte nicht weit, war ihm aber tausendmal lieber, als ohne auszukommen, obwohl er nicht erfuhr, was weiter voraus lauern mochte.
Haben Sie Hunde?
Er hoffte, sie habe sich versehen; möglicherweise hatte es so heftig gestürmt, dass es ihr nur so vorgekommen war, als streunten Hunde herum, oder es handelte sich tatsächlich um welche, denn die Bauern mochten ihre Collies mit zum Gemeindehaus genommen und sie vor dem Eintreten von der Leine gelassen haben. Eventuell waren die Tiere auf der Straße vor der Taverne zusammengekommen in der Hoffnung, Sarah werfe ihnen Essensreste zu.
Eventuell.
Gradys Worte von vorhin hallten unaufhörlich wider: Ich denke, es waren drei von denen.
Denen.
Wäre ihm dies nicht zu Ohren gekommen, hätte er Sarahs Worten …
Haben Sie Hunde?
… keinen Glauben geschenkt und wäre nur voller Selbstmitleid nach Hause gegangen, geplagt allein von seiner Einsamkeit. Jetzt aber wurde jeder Schatten, den die Lampe warf, zu einem Teufelswesen, das sich heranpirschte, und jeder erleuchtete Regentropfen zu einem bedrohlich stierenden Auge, während er sich mit jedem Schritt dem sinnbildlichen Schafott näherte.
In Bewegung gesetzt hatte er sich nach der bemerkenswert nüchternen Schlussfolgerung, herumzustehen und die Lampe zu schwingen, locke das Wesen bloß umso schneller an.
Ruhig bleiben, mahnte er sich. Geh einfach weiter und schau nicht zurück. Ein paar Minuten, dann bist du daheim und in Sicherheit. Morgen früh wirst du dir nichts vorzuwerfen …
Ein Fauchen ertönte.
Trotz des nahezu überwältigenden Dranges, sofort loszulaufen, den er auf den Laut hin verspürte, wurde Fowler starr, bis er mit erhobener Lampe herumwirbelte. Der Regen fiel wie ein Schleier oder Raumtrenner, der das Licht abschnitt und nicht weiter scheinen ließ, als er seine Hand auszustrecken vermochte. Er hielt die Lampe in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, und ging langsam rückwärts, wobei ihm der Wind zu helfen schien, der wie eine unsichtbare Hand gegen seine Brust drückte.
Es war nichts.
Ein weiterer Schritt zurück, und etwas streifte seine Kniekehlen, woraufhin er aufschrie und sich wieder umdrehte. Als er die Lampe tiefer ausrichten wollte, um zu sehen, was ihn berührt hatte, entglitt sie seiner feuchten Hand und zerbarst auf der Erde. Die Kerze flackerte kurz weiter, ehe eine Bö sie ausblies.
»Oh Gott …«
Die Dunkelheit umhüllte ihn vollends. Die Geräuschkulisse beschränkte sich auf nichts weiter als seinen Herzschlag, Windgeheul und Regen, der auf die Straße prasselte. Zitternd schob er sich mehrere zaghafte Schritte vorwärts. Er wähnte seine einzige Hoffnung darin, so schnell wie möglich nach Hause zu gelangen, statt stehen zu bleiben und zu warten, dass sich wiederholte, was gerade geschehen war. Zudem spekulierte er darauf, weil er nichts sah, sein Widersacher sei genauso blind.
Jetzt folgte ein Brüllen, und er spürte einen leichten Schlag gegen seine Oberschenkel, der ihn auf die Knie zwang und erschrocken heulen ließ. Er schwankte, bis er auf seinen Füßen zum Sitzen kam, und schrie dann: »Hilf mir, Sarah!« in Richtung der Taverne. Dass alle Lichter erloschen waren, entmutigte ihn nicht, denn er hatte sie gerade erst verlassen, also mochte die Wirtin noch wach sein.
Die Pfütze, in der er kauerte, war warm, und obwohl ihn die Angst besinnungslos machte, wunderte er sich darüber. Absurderweise fragte er sich beschämt, ob er seine Blase geleert hatte. Er langte nach unten; die Hose war an den Schenkeln weit aufgerissen.
Seine Beine ebenfalls.
Beim Abtasten war er auf etwas gestoßen, das er zunächst für einen warm durchnässten Streifen Stoff gehalten hatte, doch als er daran zupfte, verspürte er heiße Pein und schrie wieder. Nun glaubte er, sein eigenes Fleisch in der Hand zu halten, und ließ los, ehe er vorsichtig über die Wunde fuhr. Sie war tief und breit, die Wärme seinem Blut geschuldet, das herausquoll.
Jesus, ich werde sterben!
War er sich seiner Verletzung – einer schweren obendrein – zwar bewusst, versuchte er dennoch, sich zu erheben, und erhielt prompt die Rechnung in Form einer Schmerzwelle, die ihn der Ohnmacht nahe brachte und ihn kurzzeitig glauben ließ, er sehe das Licht seiner Lampe wieder. Er lag reglos am Boden und versuchte, die Kraft aufzubringen, die er benötigte, um zurück zur Taverne zu kriechen, denn auch in Panik schien ihm dies die einzige Möglichkeit zu sein, dem Tod zu entrinnen. Das Fox & Mare lag näher als sein Haus, und wenn er erst einmal drinnen war, konnte Sarah Doktor Campbell verständigen, um ihm zu helfen. Dann würde Fowler den beiden erzählen, was Grady gesehen hatte und dessen Rat weitergeben, im Morgengrauen einen Trupp zusammenzutrommeln und diese Kreaturen ein für alle Mal auszurotten. Es war ein fassbarer Plan, der ihn ein wenig beruhigte. Mühselig wälzte er sich herum auf den Bauch, biss die Zähne zusammen und kroch los, wobei seine Wunden über den nassen Boden schürften.
Er stoppte, als etwas sein Kreuz beschwerte.
Nein …
Ein tiefes Grollen, das er, so es weiter entfernt gewesen wäre, als Donner gedeutet hätte, kündigte zusätzliches Gewicht an, diesmal auf seinen Beinen, sodass die offenen Stellen aufs raue Straßenpflaster gedrückt wurden. Er heulte auf; die Tropfen stachen richtiggehend auf seinem Schädel. »Bitte, aufhören …«
Spitzen bohrten sich knapp unter seinen Schulterblättern in den Rücken. Das Wesen stand auf ihm, als sei er ein Piedestal, und er hörte es stoßweise atmen. Um wenigstens einen Eindruck von seinem Mörder, der Bestie von Brent Prior, zu bekommen, drehte er den Kopf.
Was er sah, schien einem Albtraum entsprungen zu sein, ein liquider Schatten mit weißen Flammenaugen und Zähnen, die wie gewetzte Knochen aussahen. Der Leibhaftige selbst hätte ein solches Bild nicht entwerfen können. Während er es vor Ehrfurcht erstarrt anschaute, senkte es sein kantiges Haupt und blähte die Nüstern. Fowler nahm von fern andere Geräusche wahr; noch mehr von ihnen umzingelten ihn.
Grady hatte Recht, dachte er und nässte sich zuletzt doch ein.
Die Augen der anderen loderten im Finsteren wie die ausgenommener Kürbisse. Ihre Klauen klickten auf der Straße. Er ließ den Kopf sinken und wisperte ein Gebet in die aufgeweichte Erde.
***
Tabitha hockte auf dem Rücken ihres Bruders und vergrub wutschnaubend die Fingernägel in seinem Nacken, doch selbst dieser Angriff lenkte seinen Schlag nicht ab. Neil aber entzog sich in letzter Sekunde, und Donald fluchte enttäuscht. Die Schaulustigen sahen sich gelangweilt um und fingen zu buhen an.
Kate quetschte sich endlich zwischen den Jungen aus Merrivale hindurch, die verständnislos die Köpfe schüttelten. »Nicht einmal einen Blinden trifft er«, tönte einer und wandte sich ab.
Donald nahm seine Schwester bei der Hand und zog sie herunter. Nachdem er einen Schlag ihrerseits abgewehrt hatte, versetzte er ihr eine Ohrfeige, dass sie rückwärts taumelte.
»Pass bloß auf«, drohte er und fasste sich an die Wange, wo sie ihn gekratzt hatte. Er blutete.
Silbern.
»Was?« Er war perplex, doch ehe er seine Verwunderung ausformulieren konnte, traf eine Faust auf sein Gesicht. Seine Lippen schlugen gegen die Zähne, und sein Nasenknochen knackte. Er rang nach Luft und torkelte zurück. Sein Mund füllte sich mit Blut, das mitnichten so schmeckte. Als er außer sich vor Zorn aufschaute, stand Neil vor ihm, der sich geistesabwesend die Fingerknöchel massierte und sogleich nachsetzen wollte.
Was im Gange war, sprach sich rasch herum, weshalb die Leute wieder zusammenströmten, die Erwachsenen diesmal jedoch zuerst. Donald stürzte sich auf Neil, und sie gingen beide zu Boden, zeterten und droschen aufeinander ein. Neil zappelte und trat, landete mehrere Treffer an der Schläfe des größeren Jungen.
»Nehmt sie auseinander«, befahl jemand, während die übrigen Zeugen sie anfeuerten.
»Ich bring dich um«, verkündete Donald und wollte Neil just erneut ins Gesicht schlagen, als ihn einer der älteren Anwesenden an der Brust packte und von dem Knaben zog, den er niedergeworfen hatte. »Lasst mich los, ihr Säcke! Lasst mich los!«
Die Aufpasser übergingen seine Gebärden und nahmen ihn mit durch die Menge zur Tür.
Kate und Tabitha rannten zu Neil, dessen Nase blutete. Einmal mehr war die Menge angeödet und verlief sich. Wenige Augenblicke später fuhren die Musiker mit ihrem Programm fort. Es war, als hätte der Zwist nie stattgefunden.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Kate, als ihr Bruder aufstand. Er befühlte sachte seine Nase und zuckte vor Schmerz zusammen.
»Mir geht es gut«, versicherte er und fuhr sich durchs Haar. »Ich gehe nach Hause.«
Tabitha warf Kate, die den Kopf schüttelte, einen Blick zu. Die Botschaft war deutlich: Lassen wir ihn fürs Erste allein. Das Mädchen nickte und wollte gehen, doch Neils Frage an seine Schwester ließ sie innehalten: »Ist seine treulose Schwester noch da?«
Kate schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, schien sie Tabitha sagen zu wollen, sie sei ihr wohlgesonnen. »Nein«, behauptete sie. »Sie ist verschwunden.«
Kurz darauf war sie es auch tatsächlich.
***
»Sicher, dass sie dir gehört, Junge?«, fragte der alte Mann.
Neil nickte. »Ja. Ich passe für Grady darauf auf; es muss aus meiner Tasche gefallen sein, als ich aus dem Regen hereinkam.«
»Eigenartig, dass er dir so etwas zur Verwahrung anvertraut hat.«
»Er verlässt sich auf mich.«
Ein Seufzen erfolgte. »Nun, dann muss ich das wohl ebenfalls tun.«
Der Mann gab ihm das flache silberne Stück zurück. Neil konnte sich eines Lächelns nicht erwehren, als er es nahm.
»Aber lass das Zeug bloß aus dem Leib«, mahnte der Alte, »oder ich komme in Teufels Küche.«
»Keine Sorge«, beschwichtigte Neil und wimmelte ihn ab. Er wartete, bis die schmatzenden Schritte des Mannes im Schlamm verklungen waren, bevor er die Form des Fläschchen nachvollzog. Die Initialen D.C. waren ins Metall graviert worden, was der vorwitzige Kerl wegen der kärglichen Lichtverhältnisse wohl zum Glück nicht gesehen hatte.
Neil war nach draußen gekommen, um sich abzukühlen, und hatte mitbekommen, wie der Alte eine Bemerkung über seinen Fund machte: Mich laust der Affe … ein Flachmann, und noch halb voll! Ohne zu wissen, weshalb, war Neil zu ihm gegangen und hatte behauptet, das Gefäß gehöre ihm.
Nun wollte er trinken, egal was es enthielt, obwohl er nie zuvor Alkohol probiert hatte und sich ein wenig Sorgen um die Auswirkungen machte, die es auf ihn haben mochte. Ich werde stinkbesoffen sein, dachte er kichernd. Erneut verursachte etwas sengende Pein auf seiner Nase und trieb ihm Tränen in die Augen. Sogleich wurde er wieder wütend, als er an diese nutzlose Dirne Tabitha und ihren genauso unnötigen Bruder dachte. Sie hatten ihn für dumm verkaufen wollen, und er war ohne mit der Wimper zu zucken aufgelaufen. Idiot! Ehe sein Zorn aber ernstliche Ausmaße annehmen konnte, knarrte die Eingangstür des Gebäudes hinter ihm, woraufhin die Musik enervierend laut dröhnte und der vertraute Duft von Kates Parfum an seine wunde Nase drang. Schnell steckte er das Fläschchen unter seinen Jack-the-Ripper-Umhang und setzte sich auf die mittlere Stufe, die zur Tür führte.
»Was willst du?«, fragte er kaltschnäuzig.
»Du bist verschwunden und sagtest nicht, wohin du gehen willst.«
»Jetzt hast du mich gefunden, also kannst du wieder Leine ziehen, tanzen oder was auch immer. Hauptsache, du stellst mich nicht wieder bloß.«
»Ich habe dich bloßgestellt? Was redest du für ein Zeug? Wann soll das passiert sein?« Als sie sich neben ihm niederließ, streifte ihr Ellbogen seinen. Er rückte weit genug zur Seite, um ihrer Berührung zu entgehen.
»Du musst den Kopf nicht für mich hinhalten. Ich komme allein zurecht, Kate.«
Sie stöhnte. »Das weiß ich doch, aber … er ist größer als du, und die Chancen waren nicht gleich verteilt. Ich wollte nicht, dass er dir wehtut.«
»Ich kann selbst auf mich aufpassen.«
»Ja, doch das müsstest du nicht unbedingt … zumindest nicht andauernd beweisen. Sich einzugestehen, dass man von Zeit zu Zeit Hilfe braucht, ist keine Schande.«
»Habe ich nicht nötig«, blaffte er. »Vor allem nicht von dir.«
»Hier ist dein Stock.«
Sie drückte ihm den schlanken Holzstab in die Hand. Er warf ihn sofort zur Seite. »Und verdammt noch mal, den muss ich auch nicht haben.« Er stand auf und ging los.
»Wohin jetzt?«
»Nach Hause … und wage es nicht, mir zu folgen.«
»Du weißt, dass ich mich von deiner Drohung nicht abhalten lasse.«
»Sei gewarnt.«
»Wenn du möchtest, gebe ich dir einen Vorsprung.«
Sie schien mit ihm spielen zu wollen, wobei er wusste, dass nichts außer einem mittelschweren Wunder ihr Einhalt gebieten würde. Er verdammte sie, wünschte sich alle Menschen davon, die sich je die Mühe gemacht hatten, ihm die Hand zu reichen. Er war nicht behindert und ließ nicht mit sich scherzen. Früher oder später würde er es ihnen allen beweisen.
Die Tür knarrte erneut. »Ich gehe unsere Mäntel holen«, rief Kate und drückte hinter sich zu.
Es schüttete wie aus Kübeln. Neil zitterte vor Kälte. Sie soll zur Hölle fahren, fluchte er unbesonnen, mitsamt ihrer Bockigkeit. Wieso gehorcht sie nicht, wenn ich ihr etwas befehle? Nun, da er wusste, dass Kate ihn nicht sah, streckte er seine Arme wie Fühler aus und wagte sich hinaus in die Nacht.
Der Matsch gluckste unter seinen Füßen.
Denen werde ich es zeigen.
Der Regen schmerzte ihn wie Nadelstiche. Er hustete und spürte, dass ein Zahn wackelte, als er mit der Zunge durch seinen Mund fuhr.
Sie werden Augen machen.
Donner schlitzte die Wolkendecke auf, Blitze wetzten Scharten ins Firmament.
Und leid wird es ihnen tun.
Plötzlich stolperte er, doch jemand war da, um ihn abzufangen: Starke Hände packten seine Arme.
Der alte Mann?
Donald!, glaubte er dann und versuchte, sich zu befreien, aber der Unbekannte ließ nicht von ihm ab. Dann roch Neil es: Laub, Erde, Feuer, Verwesung. Gleich darauf wäre es ihm lieber gewesen, auf Tabithas Bruder gestoßen zu sein, denn gegen den war wenigstens ein Kraut gewachsen, zumal er wusste, wer und was Donald war.
Nein.
»Es ist an der Zeit«, kündigte die Stimme an. Der folgende Hieb warf Neil in den Dreck, und er driftete ab in ein fernes Dunkel.