27


Auf Mansfields Hof brach ein Schrei los. Vom Tor des Stalls platzten Holzsplitter ab und hinterließen ein faustgroßes Loch. Tabitha duckte sich instinktiv und verschränkte die Arme vor dem Gesicht. Sie verspürte Druck auf den Augen, während sich Blut in ihrem Mund sammelte. Dann ging sie in einer Pfütze auf die Knie, wobei eiskaltes Wasser ihren Rock durchweichte.

So verwirrt sie war, wusste sie doch, dass jemand auf sie geschossen hatte. Jäger gingen bei ihren Eltern ein und aus, weshalb ihr der Donnerhall eines Gewehrs unverkennbar vorkam. Viel schlimmer jedoch war der Umstand, dass etwas im Stall auf den Schuss reagiert und gebrüllt hatte. Zu einer anderen Gelegenheit hätte sie darauf geschlossen, die Mansfields hielten dort einen Hund, doch nach dem, was Donald widerfahren war, rechnete sie mit allem. Etwas Furchtbares ging in Brent Prior um, und momentan schien sie der einzige Mensch zu sein, der davon wusste.

Weiterhin geduckt eilte sie vom Tor fort über den Platz in die Finsternis zwischen Haus und Sumpf. Wie sie durch andere Pfützen stapfte, spritzte mehr Wasser an ihren Beinen hoch, dessen Kälte ihr den Atem raubte.

»Warte!«, gebot eine Stimme, und Tabitha blieb auf den Fuß stehen. Selbst unter Schock war sie sich bewusst, dass Zuwiderhandlung den Tod bedeuten mochte. Sie schlotterte und drehte sich langsam zum Urheber des Befehls um. Sie war nur ein wenig erleichtert, als sie die dickliche Haushälterin im Eingang stehen sah. Im Gegenlicht von der Diele her blieb sie ein bloßer Schattenriss. Zuversichtlicher wurde sie allerdings, da sie erkannte, dass die Frau zwar geschossen hatte, das Gewehr aber jetzt auf den Boden richtete. »Wer bist du?«

»Sie kennen mich doch. Tabitha … Tabitha Newman.«

Mrs. Fletcher schwieg einen Augenblick lang, ehe sie zur Seite trat, damit mehr Licht von drinnen auf den Hof fiel. »Besser, du kommst herein«, bot sie an. »Hurtig.«

»Was ist los?«, fragte Tabitha im Laufen. »Wieso haben Sie auf mich gefeuert?«

»Ich wollte dich daran hindern, das Tor zu öffnen, Mädchen. Hättest du es getan, wärst du jetzt tot, aber nicht wegen meiner Kugeln. Aber nun rein mit dir, los!«

Tabitha hastete an ihr vorbei und schaute dann zu, wie die Alte die Tür zuschlug, nicht ohne hinterher den Riegel vorzuschieben.

»Was ist passiert? Hat Neil den Weg zurückgefunden?«

Die Tagelöhnerin drehte sich um. Ihre Miene war schauerlich anzusehen. »Nein. Wir beide sind allein … mit diesem Ding im Stall.«

»Was für ein Ding?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Mrs. Fletcher und zeigte auf die Treppe. »Wir werden uns aber verstecken müssen. Jetzt wo ich es mir durch den Kopf gehen lasse, war es wohl nicht sonderlich klug, aufs Tor zu schießen, bloß konnte ich nicht an mich halten, als du versucht hast, es zu öffnen.«

»Na ja, da es doch eingesperrt ist, sollten wir vielleicht in den Ort laufen.«

»Es wird sich nicht lange festhalten lassen, und sobald es sich befreit hat, bin ich dran. Immerhin stach ich es mit der Heugabel.« Sie lächelte verdrossen. »Das machte es wohl wütend. Ein ganz schön flinker Teufel, sag ich dir. Wir würden es nicht bis ins Dorf schaffen und nicht einmal merken, wenn es uns reißt. Im Dunkeln ist es so gut wie unsichtbar. Nein, hier sind wir besser aufgehoben, weil wir es sehen können.«

Tabithas Gedanken überschlugen sich. Sie war in der Hoffnung hergekommen, dem albtraumhaften Rätsel auf den Grund gehen zu können, das mit Neils Verschwinden begonnen hatte, doch jetzt schien sie mitten auf ein weiteres Schlachtfeld getappt zu sein. Dies warf die Frage auf, wie viele Häuser im Umkreis des Dorfes noch mit Monstern haderten.

Mansfields Anwesen war genauso wie das ihrer Eltern eine veritable Festung aus solidem Mauerwerk, die dem herben Wetter im Moor trotzte, auch wenn das Böse in Gestalt ihres Bruders den Weg in ihr Zimmer gefunden hatte. »Ich sah sie.« Die Dienerin schaute sie fragend an, also fuhr Tabitha fort: »Sie haben meinem Bruder etwas angetan, ihn irgendwie verändert, und … meine Mutter ist weg. In ihrem Bett entdeckte ich Blutspuren, aber ich konnte sie nicht finden. Ich dachte, sie sei eventuell hier, weil sie selbst nachhören wollte, ob Neil zurückgekehrt sei. Ich kam schließlich her, um überhaupt irgendjemanden zu finden, sie oder ihn.«

Mrs. Fletcher musste sie enttäuschen. »Tut mir leid, meine Liebe. Hier ist niemand vorbeigekommen, nur dieses Ding. Ich vermute auch, dass es unseren Master dahingerafft hat.«

Tabitha nickte. Es musste tatsächlich ein grausamer Albtraum sein. In der wirklichen Welt verwandelte sich niemand in ein Monster, und geliebte Menschen starben nicht einfach so. Obwohl sie noch einen letzten Rest Hoffnung bewahrte, bangte sie um ihre Mutter. War sie gar wie Donald umgekrempelt worden? Sie wusste nicht, ob sie den Tod für schlimmer halten sollte, aber wie auch immer: Zum Trauern hatte sie keine Zeit, denn andernfalls würde auch sie diese Schreckensnacht nicht überleben.

»So etwas ist mir noch nie untergekommen«, versicherte Mrs. Fletcher. »Je länger ich darüber nachsinne, desto stärker vermute ich, im Stall sitze die echte Bestie von Brent Prior.« Sie ging auf die Treppe zu und forderte Tabitha auf, ihr zu folgen. »Tun wir etwas. Oben können wir uns verstecken.«

Die Bestie von Brent Prior. Das Mädchen schluckte. Sie existiert doch nur als Sagengestalt. Das galt allerdings für alle Monster, und dass es solche dennoch auch in Wirklichkeit gab, war ihr bereits aufgezeigt worden.

»Und falls in der Zwischenzeit jemand zurückkommt?«, fragte sie.

»Wir können an einem der Fenster im Obergeschoss Ausschau halten. Sobald wir einen Menschen sehen, warnen wir ihn vor.«

Tabitha wirkte nicht überzeugt. »Das gefällt mir nicht.«

Mrs. Fletcher nahm ihren Ellbogen und führte sie hinauf. »Mir auch nicht, aber wir haben keine andere Wahl.«

Sie erreichten gerade den Absatz, als sie ein lautes Krachen wie von Holz hörten, das jemand über dem Knie entzweibrach. »Geh!«, drängte die Haushälterin und schob Tabitha in Richtung des Schlafzimmers ihres Herrn.

Das Geräusch hielt an, ehe es polterte: Das Stalltor war zerborsten.

Im Schlafzimmer öffnete Tabitha die Vorhänge, drehte rasch am Griff und stieß das Fenster auf. Indem sie sich mit beiden Händen aufs Sims stützte, schaute sie hinaus. Der Schock angesichts der Monstrosität, die sie unten sah, brach sich in ihrer Stimme Bahn. »Mrs. Fletcher … es ist frei!« Die Bretter des Tores lagen einzeln verstreut auf dem Platz. »Oh mein Gott«, stöhnte sie. »Was ist das?«

Die Kreatur unterschied sich erheblich von dem kümmerlichen Exemplar, das ihr Bruder abgegeben hatte; Donald war immerhin noch ein menschliches Äußeres geblieben, doch dem ähnelte dieses Ding nicht einmal annähernd.

Mrs. Fletcher richtete das Gewehr aus. »Mach die Tür zu«, befahl sie, »und sperr ab.«

Diesmal widersetzte sich Tabitha, da sie lähmende Angst vor dem Wesen verspürte, das sich über den Hof schleppte. Es war ein Scheusal, wirkte nicht natürlich und mochte im Lichtlosen ausgeworfen worden sein. Statt Augen glommen weiße Flammen in seinem Kopf.

Wie bei Donald …

So ein Geschöpf hatte in Tabithas Fantasie dereinst unter ihrem Bett gehaust und nachts darauf gewartet, sie am Knöchel hinunterzuziehen. Nun sprang es und landete in der Hocke direkt unter dem Fenster, wo es seinen missgestalteten Kopf reckte.

»Tabitha!«, rief Mrs. Fletcher. »Wo ist es jetzt?«

Das Mädchen konnte nicht sprechen; seine Gedanken waren wie Laub in einer Windhose, aufgewirbelt durch elektrisierende Panik. Zwar wollte – musste – Tabitha angeben, das Ding habe die Tür erreicht, doch auch wenn sie ihre Stimme wiedergefunden hätte, wäre ihr doch nicht die Wahrheit über die Lippen gekommen.

Es hatte die Tür nämlich nicht bloß erreicht, sondern hing an ihr beziehungsweise klebte am Holz wie ein Betrunkener ausgestreckt auf einem Kneipentisch, um seelenruhig an der Mauer nach oben zu kriechen.


***


Pulverdampf lag in der Luft.

Kate saß zitternd auf der nassen Erde.

Das Pferd war ausgebrochen, als Grady einen Schuss abgegeben hatte, und nun starrten sich die beiden an. Obwohl es in ihren Ohren fiepte, vernahmen sie die Geräusche im umliegenden Gras.

Er hat nicht auf mich gezielt, befand Kate gewissermaßen erleichtert, womit jedoch allenthalben ein Fünkchen Licht durch ihr vor Ausweglosigkeit schwarzes Seelenfenster fiel. Grady hatte sie um nur wenige Zoll verfehlt, sein Ziel jedoch getroffen. In ihrer Abwehrhaltung am Boden hatte sie gehört, wie die Kugel auf Fleisch geklatscht war, woraufhin etwas einen gequälten Schrei ausgestoßen und wild im Dunkeln um sich geschlagen hatte. Sie wollte nicht hinsehen; die Angst machte sie unfähig, während die Nacht zu einem unbezähmbaren Etwas wurde, das nach Blut und Rauch stank.

Zuletzt musste sie die Augen aufmachen, denn das Getöse war zu einem kümmerlichen Wimmern abgeflaut, das an ihre Empfindsamkeit appellierte. Sie fühlte mit, und als ihr Blick auf das sterbende Geschöpf nur wenige Fuß hinter ihm im Gras fiel, erkannte sie es mitnichten als gefräßiges Biest, wie sie es eigentlich erwartet hatte. Es war ein Mann, dem der halbe Schädel fehlte.

Sie erhob sich und vergaß dabei ihre Lampe, während ihr die Pistole jeden Moment entglitt, weil ihre Hand von Schweiß und Regen zu feucht war.

Die Schritte wurden lauter – laut genug um zu ahnen, dass sie sah, wer sich näherte, wenn sie bloß das Licht aufhob. Allerdings konnte sie sich nicht bewegen, sondern schaute nur über die Schulter zu Grady, der aussah, als habe ihn jemand von hinten überwältigt und sein Rückgrat gestohlen: Er war vornübergebeugt und keuchte, blickte finster geradeaus und wirkte dennoch wie ein Geschlagener. Seine Lampe hielt er neben sich hoch, doch sie erhellte wenig und zeichnete vor allem hässliche Schatten in seinem zerfurchten Gesicht. Nach dem Regen hatte sich auch der Wind verzogen. Die Nacht war still, und Sterne lugten zwischen den Wolken wie die Äuglein eiskalter Engel hervor. Die Gewehrmündung qualmte noch.

Kate betrachtete den Mann im Gras. Er war nackt, seine Haut verschrumpelt und teilweise abgelöst. Jeden Anflug von Scham, den sie bei diesem Anblick vielleicht verspürte, machte der Schauer vergessen, der ihn durchzuckte: Todeswehen.

Mit einem Mal wurde ihr schlecht. Als der Mann ächzte, fiel Kate wieder ein, dass sie zwei gesunde Beine hatte. So ging sie zu Grady, wobei sie immer noch nach dem Ursprung des Geräusches suchte. Wer immer sich im Dunkeln aufhielt, war ihnen zum Greifen nah gekommen. Kurz dachte sie an Leute aus dem Dorf, die Mrs. Fletcher einberufen haben mochte, um mit ihnen zu suchen, doch falls das stimmte, hatte Grady gerade einen von ihnen umgebracht. Und fast auch mich.

Irgendetwas sagte ihr aber: Dies waren keine Dörfler.

Nein, sie verkörperten Gradys Befürchtungen und waren der Grund dafür, dass er wie aus heiterem Himmel einknickte und den Schrecken Besitz ergreifen ließ, dass er hundert Jahre alt aussah und seine Waffe vielmehr als Gehhilfe gebrauchen konnte.

»Sagen Sie«, sprach eine Stimme direkt voraus, woraufhin Kate zusammenzuckte. »Ist es bei Ihnen üblich, ohne Vorwarnung auf Freunde zu feuern? Was, wenn Sie Neil getroffen hätten, und nun läge er in den letzten Zügen dort? Ganz schön dumm käme es Ihnen dann vor, Ihre Reaktion arg übertrieben, nicht wahr?«

Grady gab sich einen Ruck, sah aber trotzdem nach wie vor am Boden zerstört und müde aus. Er konnte sich nicht verteidigen, egal was ihn bedrängen mochte und solche Anstrengungen erforderlich machte. Er schien nichts weiter als schlafen zu wollen – weiß Gott wie lange. Kate fühlte sich deshalb umso einsamer, völlig im Stich gelassen und gleichzeitig umzingelt. Rasch zog sie den Hahn der alten Pistole zurück und betete darum, sie funktioniere im Bedarfsfall.


***


Grady neigte den Kopf zur Seite, als er das mahlende Klicken hörte, verzog aber keine Miene.

Die Männer traten in den Lichtkreis.

»Jesus Christus«, entfuhr es ihm.

Grady wollte nicht wahrhaben, was sich vor seinen Augen abspielte. Es musste sich um Hexerei handeln, irgendein diabolisches Schindluder.

Sie waren zu fünft, der Niedergeschossene und der Mann mit den Verbänden mitgezählt. Dieser trug Gradys Mütze – ein Spott, dessen Tragweite dem Besitzer nicht entging: Der Kerl musste genauso wie die Kreaturen zugegen gewesen sein, als der Wind das Teil über den Zaun ins Moor geweht hatte. Die Vorstellung davon, wie er Grady verborgen im Dickicht beim Hantieren der aus dem Sack gefallenen Kürbisse zugesehen haben musste, ließ ihn erschauern.

Als der Letzte von ihnen ins schummrige Licht trat, blieb Kate vollkommen reglos stehen.

Es war Neil.

»Mein Gott, du bist wohlauf«, rief sie mit wackliger Stimme und war sich doch nicht sicher. Sie wollte zu ihm gehen, doch Grady hielt sie zurück, womit er sich einen Blick von ihr einhandelte, der Glas zerschnitten hätte. Er schüttelte den Kopf und drückte zur Bekräftigung ihre Schulter. »Warten Sie«, flüsterte er, worauf sie nicht antwortete, sich aber auch nicht weiter widersetzte.

Abgesehen davon, dass er nackt war, stimmte etwas nicht mit dem Jungen, aber Grady konnte es nicht genau eruieren.

Er schluckte und fuhr sich mit der Zunge über seine Lippen. Die Kälte setzte ihm zu, weshalb er sich stark zusammenreißen musste, um nicht hinzufallen und liegen zu bleiben. Nur der Gedanke daran, Kate dadurch auf sich allein gestellt irgendwelchen Geistern und Monstern zu überlassen, hielt ihn auf den Beinen. Dass er aber mehr ausrichten konnte, hielt er für ausgeschlossen, denn die Kraft dazu, sich zu verteidigen oder bloß Entscheidungen zu treffen, war ihm – wie die Mütze vor ein paar Stunden – verlustig gegangen.

Wir werden hier draußen sterben, dachte er mit niederschlagender Gewissheit sowie angesichts der zerlumpten Freunde und ehemaligen Bekannten, die im Halbkreis vor ihm standen und ihn unverhohlen böswillig anstarrten. Doktor Campbell war da, mit spukhaft weißem Gesicht und umso schwärzeren Augen, die wie Insektenpanzer schillerten. Er hatte zerzaustes Haar wie immer, doch es klebte in Büscheln zusammen, was sich jedoch schlecht erkennen ließ. Außer dem Bandagierten trug niemand Kleider. Trotz der bitteren Kälte schienen sie nicht zu frieren. Neben dem Arzt stand Fowler. Grady überkam eine Woge des Bedauerns, da sein alter Gefährte nicht davongekommen war, bevor ihn der Unbekannte rekrutiert oder besser gesagt infiziert hatte. Denn kein im Großen und Ganzen gutmütiger Mensch wie Greg ließ sich derart umstimmen, dass er sich entschieden gegen seinen Freund wandte.

Gradys Kugel hatte den Liegenden im Gras gesichtslos gemacht. Blieb also nur noch Neil, der nicht so recht zu dieser Todesschwadron passen wollte, da sein Lächeln allein keinen Argwohn bereit heilt. Trotzdem besorgte Grady die Miene des Jungen, denn obwohl er nicht so verwahrlost aussah wie die Übrigen, schien ihn ihr Aufeinandertreffen nicht im Geringsten zu beeindrucken.

Kate machte sich im Griff des Hausdieners aus wie eine niedergedrückte Sprungfeder kurz vor dem Loslassen. Er hatte Verständnis für ihre Ungeduld, wollte sie allerdings weiter festhalten, denn diese Zusammenkunft erfolgte eindeutig mit Kalkül. Bis er nicht wusste, worum es sich drehte, durfte sie nicht von ihm weichen.

»Der Mann, den Sie getötet haben, heißt Arnold Williams«, gab ihr Anführer an und fasste sich ins Gesicht. Dann fing er an, seine Verbände mit übertriebenen Armbewegungen aufzuwickeln. »Sie erinnern sich an ihn, nicht wahr?«

Das tat Grady wirklich. Williams war einmal Dorfpfarrer gewesen und leider zu gern abends im Moor spazieren gegangen. Seit acht Monaten hatte ihn niemand mehr gesehen. Eindrücke dieses gutherzigen Mannes – er war in seinen Achtzigern gewesen – sowie der ausschweifenden und oftmals humorvollen Trinksprüche bei Hochzeitsfeiern und sonntäglichen Picknicks drängten sich wieder auf, doch Grady schob sie zurück. Woran er allerdings stattdessen dachte, war nicht angenehmer: Sie werden uns töten, wir sollten verschwinden, ich muss Kate retten, sie fassen … und schon nach zwei Schritten, … denk nach, warum passiert das, was haben sie Neil angetan, streng deine grauen Zellen an, verdammt!

Er schaute von Neil, der nicht reagierte, hinüber zu dem Verbundenen, der immer noch damit beschäftigt war, sich der schimmlig wirkenden Streifen zu entledigen.

»Einige dieser Männer starben«, sagte er kaum lauter als ein Wispern.

»Nicht ganz«, widersprach der Fremde. »Sie waren dem Tod nahe, richtig, doch ein Kratzer, ein Biss oder die Aufnahme eines Speicheltropfens genügt, um dies zu verhindern. Sie erhielten eine zweite Chance zu leben.«

»Und besser als zuvor«, fügte Campbell freudig hinzu.

»Reverend Williams würde dies gewiss anders sehen«, bemerkte Grady.

Der Mann kicherte. »Williams war seiner theologischen Weisheit zum Trotz in spiritueller Hinsicht nicht annähernd so rein, wie Sie vermuten. Er war in beiden Leben eine Zumutung, und wir kommen trefflich ohne den Schandfleck aus, den er für unsere Art bedeutete.«

»Weshalb tun Sie das?«, fragte Grady ihn.

»Weil ich will«, entgegnete der Mann schlicht, »und weil ich es mir nicht anders vorstellen kann. Wir sind die überlegene Spezies, Grady, und unsere Herrschaft beginnt hier in diesem Niemandsland. Es wird unser Hort sein. Ein Nest, von dem wir unsere Fangarme ausstrecken und die Massen umwandeln.«

»In was?«

»In Überwesen, wie wir es sind. Ich erwarte nicht, dass Sie es verstehen, denn auch mir gab es anfänglich Rätsel auf. Es ist, als mache man jemandem weis, der Himmel sei schwarz statt blau, und die Sonne silbern statt gülden. Solange Sie nicht selbst in dieser Haut stecken, ist es unmöglich, die Beschaffenheit dieser Welt nachzuvollziehen. Meine Gefährten …«, er verwies auf die Umstehenden, »… begehrten zunächst dagegen auf, doch dann sahen sie alles mit eigenen Augen; jetzt können Sie es sich nicht mehr anders vorstellen. Der Wandel bedeutet Macht. Die erbärmlichen Wehen, Schwächen und Sorgen, welche das Leben der Menschen korrumpieren, sind uns fremd. Für meinesgleichen ist der Alltag niemals mit schnöden Makeln verbunden. Wir stehen an der Spitze; wir herrschen. Alle anderen sind unsere Opfer.«

Grady spürte, wie angespannt Kate war, und wusste, sie würde sofort kämpfen, auch gegen diese Überzahl. Durch die fiebrige Dunkelheit rieselte ein wenig Bewunderung ob ihres Mutes auf ihn herab, als strebe er zum Lichte hin. Der Diener besann sich auf seine Pflicht, sie zu beschützen und dafür zu sorgen, dass sie gemeinsam mit Neil unverletzt nach Hause zurückkehrte. Gleichzeitig verzehrte ihn die Gegenwart dieser Kreaturen, Schemen, Dämonen oder was auch immer sie waren; er war hundemüde, wollte sich einfach nur niederlegen und nichts mehr mit diesem Chaos zu tun haben. Leider konnte er dies nicht, und Kates Aufbegehren fachte seinen versiegenden Wunsch, Nägel mit Köpfen zu machen, zumindest ein wenig an.

Wir dürfen nicht aufgeben, redete er sich ins Gewissen. Ich werde nicht zulassen, dass man sie tötet.

Zuletzt: nicht kampflos. Immerhin hatte er Neil so lange aus den Augen verloren, dass ihn der Bandagierte entführen konnte, und sich dann auch noch von seiner verborgenen Furcht dazu verleiten lassen, das Mädchen mitzunehmen. Er musste wenigstens versuchen, die beiden zu retten; er war es ihnen schuldig, und falls er dabei umkam, sollte es so sein. Ohnehin hatte er lange genug gelebt, und was noch kommen mochte, galt ihm als Zubrot.

Er hob die Waffe, klappte sie auf und nahm eine Patrone aus dem Regenmantel, um sie einzulegen. Keiner der Männer regte sich, was Grady beunruhigte, denn obwohl er Williams ausgeschaltet hatte, hielt ihn niemand vom Nachladen auf.

Dann dämmerte ihm, weshalb.

Die Kammer bot nur einem Projektil Platz, und damit konnte er sie nicht alle auf einmal aufhalten, so sie ihn bestürmten. Er sollte sterben, ehe er die Gelegenheit zum Nachsetzen bekam. Ihn wunderte, dass sie nicht bereits angegriffen hatten, aber dann kam er zu dem Schluss: Sie spielten bloß mit ihm – wie die Katze mit einer Maus, ehe sie ihr ein Ende bereitet.

Der Mann zupfte die letzte Bahn des Verbandes von seinem Gesicht, grunzte und ließ alles auf die Erde fallen. Das entblößte Fleisch war dunkelfarbig, von Schwielen und Schrunden übersät. Die Haut schien geschmolzen zu sein, dann aufgewühlt und schließlich wieder erkaltet.

»Wer sind Sie?«, fragte Kate.

Da lächelte er. »Stephen Callow. Mein Bruder führte deinen Freund Grady und dessen Kumpanen vor Jahren auf die Jagd, wo er selbst … Edgar … gemeinsam mit meiner Geliebten sein Leben ließ.«

Callows Bruder. Grady tat sich schwer, diese neue Wendung sacken zu lassen. Konnte er sie zu ihrem Vorteil nutzen? Ihm fiel nichts dazu ein. Dem Mann und seinen Begleitern ging jedwede Natürlichkeit ab; vielmehr bedeuteten sie Gefahr und würden nicht mit sich feilschen lassen. Falls Stephen etwas mit seinem Bruder gemein hatte, so war es äußerster Wahnsinn.

»Edgar verschuldete den Tod unserer Freunde«, begann Grady. »Wir taten ihm nichts Böses, doch er lockte uns zum Sterben hierher.«

»Ihr Arbeitgeber hat mit seiner Ehefrau geschlafen«, hielt Stephen dagegen. »Nicht genug für mich, dass mein Bruder die Frau antastete, die ich liebte; nein, ich musste auch erfahren, dass Ihr scheinheiliger Master sie gleichfalls schändete. Sie beide erhielten ihren rechtmäßigen Lohn. Danken Sie mir dafür, dass ich Mansfield verschont habe; jetzt leistet er mir Abbitte, indem er Ihre Kollegin, diese fette Kuh, in Stücke reißt.«

Mrs. Fletcher. Gram überkam Grady, dass er den Verstand zu verlieren glaubte, als er sich vorstellte, wie sie auf den Steinfliesen in der Küche verblutete – in ihrem Haus, dem Schauplatz zahlloser Unterhaltungen zwischen ihnen beiden, der beherzten Schlagabtäusche und herzlichen Gesten. Diese Frau war es wert, geliebt zu werden, und vielleicht – denn es war höchste Zeit, Farbe zu bekennen – hatte er genau das auch getan.

Kate schaute ihn nun an, doch er wich ihrem Blick aus, weil er die Fragen in ihren Augen nicht beantworten konnte. Manche Dinge blieben ihr besser vorenthalten, und wie er dies begriff, sah er ebenfalls ein, dass er viel zu lang hart mit sich selbst ins Gericht gegangen war. Ewig hatte er sich selbst kasteit wegen Geschehnissen, die er nicht hätte verhindern können. Dies galt sowohl für den Tod seiner Frau als auch für die Abkehr seines Sohnes, ganz zu schweigen von Mansfields Untreue. Letztlich hatte er den Kindern nichts unterbreiten dürfen, das ihnen sowieso unbegreiflich gewesen wäre, auch weil er ihre Leben dadurch bewusst ruiniert hätte. Nun wäre dieser Mann – dieser verteufelte Unmensch – in jedem Fall zum Zug gekommen, selbst wenn Grady Kate im Haus zurückgelassen oder Neil nicht erlaubt hätte, sie zum Tanzen zu begleiten … falls nicht heute Nacht, dann irgendwann früher oder später. Mit einer Engelsgeduld hätte er sicher wie ein Fuchs gewartet, der zuschlägt, sobald niemand den Hühnerstall beaufsichtigt.

Es gab keine Bestie von Brent Prior, sondern nur Gestaltwandler mit einem ansteckenden Virus, welches vernünftige Geister zerrüttete und die Rechtschaffenen verbog, sodass sie ihren Lieben ans Leder gingen.

»Dein Bruder selbst hat die Frau umgebracht; es geschah nicht auf der Jagd«, ließ er Callow wissen. »Er hackte ihr Hände und Füße ab. Doktor Campbell …« Er warf dem fahlen Arzt einen Blick zu. Der grinste höhnisch zurück. Seine eingefallene Brust war schwer von Wundmalen gezeichnet. »Er hätte sie bewahren können, doch die Wehen setzten ein, und Fakt ist, sie verblutete, als er sie fand. Es war ein Wunder, dass sie das Kind noch auf die Welt brachte.«

Erst als ihm all dies aus dem Mund sprudelte, fiel ihm wieder ein, dass Kate neben ihm stand. Sie drehte sich mit stierendem Blick zu ihm um. »Das Kind? Wovon reden Sie?« Sie hielt die Pistole unruhig in der Hand.

Grady hob einen Arm, um sich zu rechtfertigen, doch sie war bereits in Fahrt geraten und wollte die Wahrheit wissen. Ehe er sie aufhalten konnte, ging sie los. Die Waffenhand schlackerte an ihrem Oberschenkel, dann blieb sie vor Neil stehen.

»Ist dir nicht kalt?«, fragte sie. »Wieso hast du nichts an? Bitte, sag mir, was los ist, Neil.«

Die Umstehenden verfolgten die Konfrontation interessiert, regten sich jedoch nicht.

Neil starrte sie an.

Grady räusperte sich. »Schon gut, Junge«, sagte er bekräftigend. »Wir sind gekommen, um dich mit nach Hause zu nehmen, und genau dazu werden wir uns jetzt anschicken.«

In diesem Moment erkannte er, was ihn die ganze Zeit abgesehen davon gestört hatte, dass dem Knaben die Kälte offensichtlich nichts ausmachte. Obwohl es nicht sonderlich hell war, sah er Neils stoischen Blick auf seine Schwester. Die silbernen Wolken vor seinen Augen waren verschwunden.

Oh Jesus …

Kate weinte, wollte Neils Wange streicheln. »Haben sie dir wehgetan? Bitte, sag, dass es nicht wahr ist.«

»Kate!«, rief Grady dazwischen und setzte sich in Bewegung. Die Männer sahen weiter zu und nahmen den plötzlichen Vorstoß angespannt zur Kenntnis. Kate schaute unverständig drein, bis sie es hinter dem Schleier ihrer Sorge entdeckte: Neil richtete die Augen bewusst auf sie.

Er entzog sich ihrer Berührung, als habe sie schmutzige Finger, und hob den Kopf zu Stephen.

Was er dann sagte, ließ Grady innehalten und nicht mehr weiteratmen: »Darf ich sie jetzt umbringen, Vater?«