10


Doktor Campbell wurde in einem Graben wach und wähnte sich in einem Traum, denn wo er hinschaute, sah er nichts als Weiß. Schwebte er im Himmel? Dann brach die Kälte so heftig über ihn herein, dass er glaubte, jemand habe sein Blut durch Eiswasser ersetzt. Er war nass, weshalb er zuerst annahm, seine Blase habe im Schlaf nachgegeben. Als er sich aber umdrehte, schmatzte der Grund unter ihm. Ein letztes Mal versuchte er, diesen grotesken Alb zu verdrängen, indem er blinzelte, sah jedoch elenden Mutes ein, dass er hellwach war. Orientierungslos setzte er sich aufrecht hin, da überkam ihn eine Welle der Übelkeit.

Was ist passiert? Wo in Gottes Namen bin ich?

Er ächzte und hielt sich beide Hände vor das Gesicht. Seine Schläfen pochten dumpf, und es kostete ihn große Anstrengung, sich ins feuchte Gras zu stützen und aufzuraffen. Vor Pein drückte er die Augen zu und versuchte, etwas im Nebel zu erkennen, was aber unmöglich war.

Ich stehe auf einem Feld.

Wie war er hergekommen? Seine Gedanken waren so träge wie seine Bewegungen.

Also gut, Hirnschmalz anstrengen … ich war im Fox & Mare.

Er schritt voran, während er den Kopf mit beiden Händen festhielt, als wolle er sein Gehirn am Herausplatzen hindern. Ein Fuß sank bis zum Knöchel in ein Schlammloch. Während er sich bemühte, das Gleichgewicht zu bewahren, streckte er die Arme aus und torkelte rückwärts. Seinen Fuß bekam er los, allerdings ohne den Schuh, der sich mit abgestandenem Wasser füllte.

»Verflucht noch mal!«, keifte er laut und bückte sich nach dem vollgesogenen Schuh. Dabei schoss ihm das Blut in den Schädel, was ihn benommen machte und den ohnehin unaufhörlichen Katzenjammer verschlimmerte. Wieder stöhnte er und tastete mit den Fingern in dem Wasserloch herum, bis er Leder fühlte. Indem er zog, verursachte er ein saugendes Geräusch, und der Schuh glitschte so plötzlich heraus, dass Campbell beinahe wieder auf dem Rücken landete. Nachdem er sich gefasst hatte, hielt er sein Fußkleid hoch und betrachtete es mit zunehmendem Groll, bis seine Brust wehtat. Er atmete wie mit Lungen voller Sand. Der Teufel soll mich holen. Er zupfte sein Taschentuch aus dem Brustschlitz des Mantels und hustete hinein, bis seine Kehle schmerzte und die Augen tränten. Hastig klopfte er sich ab und stellte fest, dass er seinen Flachmann noch besaß, wer oder was auch immer ihn auf dieses Feld gebracht hatte. Dafür zumindest war er dankbar. Er schraubte den Deckel ab und trank das Gefäß leer, bevor er es zurücksteckte und sich der unsäglichen Aufgabe annahm, den Schuh so weit vom Matsch zu säubern, dass er ihn wieder anziehen konnte. Barfuß wollte er sich nicht auf den Nachhauseweg begeben.

Voller Abscheu schabte er den Schmutz vom Leder. Dann ließ er ihn fallen und zwängte den Fuß hinein, wobei er sofort raunte, da Kälte über seine Zehen schauerte. Endlich konnte er losgehen, indes noch ziellos und vorsichtig in Gedanken an die Unbillen des Moores. Dorthin nämlich – da war er sicher – hatte es ihn verschlagen, doch zum Ausharren war er schlicht zu aufgebracht.

Diese Situation war eine von vielen misslichen, in die er jüngst geraten war. Er wusste, etwas wollte ihn reuig machen, auf dass er seine Fehler eingestand – als Mensch, Arzt und … Ehemann. Gott ließ ihn liegen, bis die Kälte ihn umbrachte oder Fangarme durch die Grasnarbe brachen. Du hast dich bemüht und versagt; Zeit zum Aufgeben. Auf dich warten nur weitere Enttäuschungen und noch mehr Schmerz. Am besten bist du unter der Erde aufgehoben.

Ach, zur Hölle damit, wetterte er innerlich, machte den Hals lang, um besser zu sehen – irgendetwas im Nebel, das ihm einen Anhaltspunkt über seinen Verbleib oder die Richtung gab, in die er irrte. Er mutmaßte, der Harndrang habe ihn hergetrieben, ehe er aus unbekanntem Grund ohnmächtig geworden war. Stimmte dies, konnte er nicht weit von der Straße abgekommen sein. Diese logische Erklärung der Umstände ermutigte ihn zum Weitergehen. Er wagte nur kleine Schritte und stand auf einmal am schlammigen Rand eines Sumpfloches.

Es ist einfach ungerecht, greinte seine Seele. Mein ganzes verkorkstes Leben ist eine stete Abfolge mittelschwerer Katastrophen. Wie sich der dicke Dunst vor ihm wälzte, erinnerte er sich an einen Morgen vor mehreren Monaten, an dem er wieder einmal durch fremde Hand von seinem Weg abgebracht worden war – von seinem eigenen, seinem einzigen Freund und Kollegen Jeremy Herbert. Dieser hatte ihm die Nachricht übermittelt, der Vorstand des Royal Hospital London, in dem Campbell acht Jahre gearbeitet hatte, entlasse ihn. Der einberufene Ausschuss hatte angeblichen Morphiumdiebstahl angeführt, Drogenabhängigkeit und Vernachlässigung von Patienten. All dies waren berechtigte Vorwürfe, die er jedoch geleugnet hatte.

So war er verstoßen, auf die Straße gesetzt und schließlich in diese sprichwörtliche Wüste geschickt worden, wo der Wert eines Menschen vom Betrag auf seinem Bankkonto abhing oder auch der Anzahl der Fuchsschwänze, die über seinem Kamin hingen.

Campbell fuhr mit der Hand durch den Nebel und knirschte mit den Zähnen, während eine einzelne Träne über seine Wange lief. Drecksäcke. Sein Freund hatte ihn verraten, und seine Arbeitgeber waren Gegenspieler geworden. Seine Gattin hatte vorhersehbar auf die Neuigkeit reagiert; für sie war der Betäubungsmittelmissbrauch Franks Wunsch geschuldet, seines Postens enthoben zu werden. Was ihn am Morphium reizte – die Welt wurde ihm durch die Droge erträglicher – und wie wunderbar es sich im Kampf gegen seine inneren Dämonen ausmachte, hatte sie nie verstanden … oder vielleicht doch. Dann war ihre Forderung, er solle damit aufhören, falls er sie nicht verlieren wolle, bloß ein weiterer mieser Trick gewesen, um sein Elend auszuweiten. Zumindest hatte sie ihn in dieses betrübliche Nirgendwo begleitet, nur um ihn prompt zu verlassen, auf dass er sich in tiefere Verzweiflung stürzte. Seitdem schien ihn jeder Versuch, diese Gemütslage abzustreifen, umso weiter hinabzuziehen.

Jetzt war er wieder allein und hatte sich verrannt, zudem mit monströsen Kopfschmerzen, nasser Kleidung und trockenem Mund, während er versuchte, ein Haus wiederzufinden, das genau dies war und kein Zuhause. Dort – nein, nirgendwo herrschte Wärme, doch hier stehen zu bleiben und auf die Gemeinheit zu warten, die sich das Schicksal als Nächstes für ihn ausgedacht hatte, hätte er sich nicht verziehen.

Vor ihm im Dunst bewegte sich etwas, und Campbell gab sich instinktiv einen Ruck. »Hallo?«

Keine Antwort. Er hielt inne, strengte seine Augen an und stellte betreten fest, dass er versuchte, das Gewaber zu umschauen, als sei es ein fester Körper. Indes haftete die schwebende Feuchte wie eine zweite Haut an ihm und zwang ihn in ihrer Kälte zum Zittern. Er schalt sich dafür, keinen Whiskey übrig gelassen zu haben, weil er unsicher war, wie weit er bis zum Haus gehen musste. So langsam setzte die Witterung seinem Kreuz zu.

Wie lange bin ich schon hier draußen?

Mit einem Mal sehnte er jemanden herbei, der sich um ihn sorgte und nach ihm suchen würde, weil er zu Hause säumig blieb. Leider kannte er längst niemanden mehr, der so für ihn empfand. Der Gedanke war deprimierend und ließ ihn fast aufgeben. Dann aber regte sich wieder etwas, diesmal zu seiner Linken, sodass er sich dorthin orientierte. »Ist da jemand?« Immer noch Schweigen, doch jetzt hörte er leises Schlurfen. Campbell ging langsam weiter, wobei sein Schuh schmatzte und im Gras einsank. Er verdammte seine Dummheit und den bandagierten Mann gleich mit – wie hieß er noch gleich? Alles, was ihn in dieses lächerliche Kaff am Rande der Unwirtlichkeit gebracht hatte, war verachtenswert.

Wohl nur ein Schaf.

»Ist da wer?«

Möglich war es, das sah er ein. Vielleicht handelte es sich um einen Dorfjungen, der sich bereits fürs Fest verkleidet hatte und jemanden erschrecken wollte. Zerzaust und ohne rechte Ahnung, wohin er sich wenden sollte, gab Campbell das perfekte Ziel für solche Schelmereien ab. Allerdings wollte er nicht mitspielen und freute sich diebisch, als er sich vorstellte, was er mit dem Bengel anstellen würde, so er ihn zu fassen bekam. Ob Kind oder nicht, ohne roten Hintern würde er nicht davonkommen.

Der Nebel vor ihm bildete Wirbel.

»Ich bin Doktor Campbell«, rief er im autoritären Ton, soweit es die Temperaturen und seine belegte Stimme ermöglichten. »Falls du mich zum Besten halten willst, werden deine Eltern davon erfahren.«

So tatkräftig er begonnen hatte, so rasch drängten sich neue Zweifel auf. Zwar hatte er sich verirrt, doch sollte er wirklich auf Drohgebärden zurückgreifen, wo man ihn vielleicht gerade zu retten versuchte?

Eine Gestalt schälte sich aus der Weiße, und nun erkannte er, dass es sich mitnichten um ein Schaf handelte. Er richtete sich auf. »Wer da?«

»Ein neuer Bekannter«, hörte er.

Campbell schluckte schmerzhaft; neuerlicher Durst flammte in seiner Kehle auf, während ihn der Gestank versengten Fleisches umwehte. Ein kurzer Angstschauer durchzuckte ihn. »Sie«, begann er, da hielt sein Gegenüber inne. Der Mann war weit genug entfernt, um sich vor dem schwachen Licht als bloßer Schattenriss abzuzeichnen.

»Sie sind so eilig aufgebrochen.« Natürlich war es Stephen. »Dabei fing unser Gespräch gerade an, interessant zu werden.«

Seine Worte zerfetzten den einstweiligen Gedächtnisverlust, in den der Alkohol Campbell gestürzt hatte. Schlagartig entsann er sich Sarahs Verärgerung und sah das blasierte Grinsen dieses Mannes wieder, ehe die Bauern aufgestanden waren und ihn wortlos bedroht hatten. Neue Wut stieg in ihm hoch, doch er hielt sie im Zaum, denn er hatte es weder mit einem überschwänglichen Jungspund noch mit Kindsköpfen zu tun, die schrill gackernd vor einer Konfrontation davonlaufen würden, sondern mit einem Erwachsenen. Stephen war größer als Campbell und brandgefährlich. Rache, so entschied er, würde er später üben, und falls überhaupt, dann erst nach gründlicher Vorbereitung. Bis auf Weiteres tat er gut daran, dem Fremden auf Augenhöhe zu begegnen und ihm zu vermitteln, er habe ihn unglücklicherweise kennengelernt, als es ihm richtig übel ging.

»Ich war sturzbetrunken«, gestand er mit gelöster Stimme.

»Richtig, doch das zeigte mir, dass Sie zu dem Schlag gehören, der nur Mut aufbringt und die Wahrheit spricht, wenn er genug gesoffen hat, um sich keine Sorgen um die Konsequenzen zu machen.«

Campbell schlotterte so vehement, dass er die Arme um seinen Oberkörper schlang, aber so bekam er die Kälte seiner triefenden Kleider umso deutlicher zu spüren. »Da liegen Sie völlig falsch«, behauptete er. »Ich habe in letzter Zeit nur zu viel um die Ohren. Leider vermindert dies, wie ich zugeben muss, meine Toleranz für Zweideutigkeiten beträchtlich.«

»Ich habe mich aber sehr klar ausgedrückt, Doktor Campbell.«

Der Arzt legte die Stirn in Falten, während der Mann kurz hinter einer Dunstwolke verschwand. Dann tauchte er wieder auf.

»Es hatte einen anderen Grund. Weshalb mussten Sie mich angreifen? Ich habe Ihnen nichts getan.«

»Ach nein?«

»Nein, verdammt. Absolut nichts.«

»Gehen Sie in sich, Doktor. Denken Sie scharf nach.«

»Worüber denn? Ich sagte Ihnen bereits, ich weiß nicht, wovon zum Henker Sie sprechen.«

»Wann hat es zuletzt im Dorf gebrannt?«

Campbell entsann sich, und sein Magen verkrampfte sich vor Entsetzen. »Mich trifft keine Schuld.« Fragen schwirrten in seinem Kopf herum. War jemand drinnen gewesen, als das Haus in Flammen gestanden hatte? »Sie sollten andere zur Rede stellen, nicht mich.«

»Oh, Sie haben etwas weit Schlimmeres verbrochen, oder etwa nicht?«

»Ich begreife nicht.«

»Natürlich tun Sie das. Denken Sie nach, Sie Trottel. An jenem Tag ist Ihretwegen jemand ums Leben gekommen.«

Ein Gesicht huschte an dem geistigen Auge des Arztes vorbei, und endlich setzten sich die Räder seiner Erinnerung in Bewegung. Jetzt wusste er, wovon Stephen sprach. Was aber hatte er mit ihr zu tun? »Ich konnte nichts dafür.«

»Blut ist Blut, Doktor.«

Campbell wich zurück. »Nein, ich habe versucht, sie zu retten. Da Sie schon eine Menge wissen, müsste Ihnen auch dies klar sein.«

»Mir ist nur klar, dass Ihre Unfähigkeit sie getötet hat … wie schätzungsweise auch viele andere. Ich kenne die Sucht, die Ihre Nerven schwächt; ich weiß genau, dass ein lauterer Mensch ihr Leben bewahrt hätte.«

Campbells Kopf wackelte hin und her. Es kam ihm unwirklich vor, konnte einfach nicht passieren. »Wer sind Sie?«, fragte er schließlich.

»Ich bin der Herr dieser Sümpfe.«

»Aber die alten Grundbesitzer sind schon eine Weile tot.«

»Sie sollten umdenken.«

Auf einmal war er wie vom Moor verschluckt, als habe jemand ein weißes Laken über ihn geworfen. Campbell schnappte aufgeregt nach Luft – das einzige Geräusch weit und breit. »Wieso tun Sie das?«, fragte er in das Gewölk. »Ich habe Ihnen doch wirklich nichts getan!«

Lauf, wenn dir dein Seelenheil lieb ist, drängte er sich selbst, und kurz darauf führten seine Beine den Befehl aus. Er floh weder sicheren Schrittes noch außerordentlich schnell, stellte sich ungeschickt an und setzte sich damit keiner geringen Gefahr aus. Indem er die Arme von sich streckte, wollte er Hindernisse meiden. Seine Füße rutschten übers Gras, der Gestank von nassem Fell und Moder wurde stärker, trieb ihn an. Er betete darum, dem Dorftor nahe zu sein, wollte es mit schierer Gedankenkraft im diesigen Nichts vor sich auftauchen lassen.

Wie Rauch brannte der Nebel in seinen Augen und strömte an ihm vorbei, als er eher schlingerte als weiter geradeaus hetzte. »So helfe mir jemand!« Ihm war gleich, was die Leute am Morgen über ihn sagen würden, falls sie mitbekamen, wie ängstlich er brüllte. Mochten Sie ihn eben als Feigling auslachen; er wusste, niemand von ihnen hätte sich in seiner Lage anders verhalten. Im Moor verirrt und von einem missgestalteten Mann bedrängt, der offensichtlich einen fehlgeleiteten Rachefeldzug gegen ihn führte – logisch, dass er sich fürchtete und nicht zum Schweigen zwang, nur um Contenance zu wahren. Falls sich Stephen, dieser selbsternannte Herr der Sümpfe, als unberechenbarer Wüterich erwies, würde Campbell weiß Gott mehr verlieren.

Am Rande seines Blickfeldes schlich ein langes, geschmeidiges Etwas am Boden durch den Nebel. Verstört bis ins Mark, bildete sich Campbell ein, himmelblaue Lichter gleich Flammenkugeln aus Sumpfgas zu sehen, die in einem dunklen Flachschädel glühten, doch dann fiel der dichte Schleier erneut.

Ich glaube nicht an die Bestie von Brent Prior, redete er sich ein. Es gibt sie nicht.

Endgültig kopflos machte ihn ein fürchterliches Grollen, und er rannte los, aber nach wenigen Schritten zog es ihm brüsk den Boden unter den Füßen weg. Er klatschte auf die feuchtkalte Erde, und statt erneut zu schreien, winselte er, als sich ein heißer Schmerz in seinem Gesicht ausbreitete. Nase gebrochen, dachte er mit einem seltsamen, angenehm entrückten Gefühl und rollte herum auf den Rücken. Die Wärme des Blutes, das nun in seinen Mund lief, beruhigte ihn; ein Geschmack wie von Kupfer blieb auf seiner Zunge zurück.

Die dräuende Bewusstlosigkeit verwandelte die Augen der Kreatur, die vor ihm stand, in Sterne.

Hier werde ich nicht sterben – nicht durch deine Hand, Mistvieh!

Trotz der zersetzenden Pein wälzte er sich herum, raffte sich auf und taumelte blindlings davon, einmal mehr mit ausgestreckten Armen. Der gräuliche Geruch verbrannter Erde attackierte seine Sinne wie verlängerte Gliedmaßen des Geschöpfes auf seinen Fersen. Er prustete und heulte vor lauter Angst. Dann schaute er sich um und starrte vor sich hin, während das gebeugte Wesen – drahtig wie wuchtig und mit eiskalt schwelenden Augen – den Abstand zu ihm weiter verringerte.

Aus der Hölle. Es muss geradewegs aus der …

Tausend Nadeln stachen ihn in Gesicht und Körper. Er wurde abrupt angehalten, sein Kopf dabei zurückgeworfen. Er keuchte, als etwas in seine Finger und dann die Handballen biss. Sogleich knickten seine Beine ein. Er zitterte, blutete immer stärker und fiel auch trotz des Schocks nicht zu Boden. Nein, er hing in der Luft und hörte, wie etwas zerriss. Sein rechtes Auge war blind – ausgestochen – und tat wundersamerweise dennoch nicht weh. Die Panik allerdings drohte Campbell in den Wahnsinn zu treiben.

Jesus … Gott hilf mir.

Seine Finger zuckten. Schaudernd versuchte er zu schlucken und sträubte sich, als Myriaden Stacheln wie die Zähne zahlloser Nattern seine Haut durchbohrten. Es kam ihm vor, als sei er gegen eine mit Angelhaken gespickte Wand gelaufen. Sie zerrten an ihm, rissen, schnitten sein Fleisch auf. Sein zerquetschtes Auge lief aus.

Dornen, erkannte er mit einem Lächeln, das zuletzt aufklaffte und ebenfalls blutete. Ich bin achtlos weitergegangen und habe mich nur in den Büschen verfangen.

Ein Atemhauch wehte über seine Schulter und wurde eins mit dem Nebel. Campbell erstarrte vor Schock, und die Dornen drangen noch tiefer ein. Als er den Kopf von dem schwarzen Stachelwall wegzog, schmerzte es unheimlich. Die Haut an seinen Wangen dehnte sich, als wollten die Widerhaken ihn zurückziehen.

»Was … bist du?«, wisperte er. Die Pein quittierte er mit Zischgeräuschen, die erst verstummten, als jemand – zweifelsfrei ein Mensch – seine Schulter packte.

»Ich habe mich bereits vorgestellt«, sprach Stephen, »und bin nun zum Jagen zurückgekehrt.«

Durchs verschlungene Gezweig brach gemächlich gelbes Licht herein. Der Nebel lichtete sich, und Campbell gelangte zu der finsteren Einsicht, dass die Fenster der Häuser im Dorf diese schwammigen Rechtecke warfen. Er hatte es bis zur Mauer geschafft, die die Siedlung vom Moor trennte. Fast erheiterte ihn die Ironie dahinter, doch statt Gelächter wallten Tränen auf. Die Bauern, so malte er sich aus, schwärmten vom Fox & Mare aus, rissen Witze über den betrunkenen Arzt und seinen Rauswurf aus der Taverne.

»Helft mir«, schluchzte er, obwohl er wusste, dass sich seine brüchige Stimme nicht weit genug trug. Seine Enttäuschung angesichts dieser Ungerechtigkeit wich einem letzten Schwall unerbittlicher Wut.

»Hoffentlich schmorst du in der Hölle, du elender Mistkerl«, spie er aus, während die Tränen in seinen Gesichtswunden brannten.

»Habe ich bereits«, erwiderte Stephen. Sein Gesicht war ein undeutlicher Schatten neben ihm, wie der Doktor mit seinem heilen Auge erkannte. Die Folter, so glaubte er, spaltete ihn entzwei, und er versteifte sich einmal mehr, um noch tiefer in die Dornen zu rutschen. Diesmal spürte er nichts, denn gnädigerweise deckte ihn eine Ohnmacht mit ihren dunklen Schwingen zu. Das kolportierte Gelächter der Dorfbewohner verklang, und Stille brach herein. Wie sein Fleisch zerrupft wurde, knirschte es umso lauter.