KAPITEL 23
SO ODER SO
Larison wartete vor dem Gate am JFK-Flughafen auf seine Maschine nach San Salvador. Sein Blick huschte hin und her zwischen der Anzeigetafel und den Leuten, die um ihn herumwimmelten. Er wünschte sich verzweifelt, direkt nach San José International fliegen zu können, wenn sie jedoch über entsprechende Ressourcen verfügten, um die Flughäfen zu kontrollieren, dann würden sie sich genau auf den konzentrieren. In San Salvador konnte er auf einen Nonstop-Flug in eine der kleineren Städte umsteigen – Limón, Tamarindo oder Quepos –, und dann die Reise per Bus oder Zug fortsetzen. Oder besser noch mit dem Motorrad.
Er war immer noch erschüttert. Er hatte von einem Motelzimmer in Jersey City aus angerufen und erwartet, das Gespräch würde kurz und einseitig verlaufen. Er hatte damit gerechnet, dass sie nachgiebig sein würden, wenn auch nur aus taktischen Gründen, um sich Zeit zu verschaffen. Er baute darauf, die vollständige Kontrolle zu besitzen. Deshalb hatte er sich immer noch nicht von den ersten Worten am Telefon erholt:
Hallo, Daniel Larison.
Nur mit Mühe hatte er den Anruf durchgestanden und wortlos zugehört, während sie ihm schilderten, wie sie Leute damit beauftragen würden, Nicos Nichten und Neffen zu vergewaltigen und seine Eltern und Schwestern und Schwäger zu verstümmeln. Und dann, wenn das Glück von Nicos Familie zerstört und vernichtet war, würden sie Nico erklären, wie es dazu gekommen war. Weil er mit einem Mann zusammenlebte, der nicht der war, der er zu sein vorgab. Der so dumm gewesen war, sich mit mächtigen Leuten anzulegen und auch dann nicht aufhören wollte, als man ihm die Konsequenzen für Nico und seine Familie dargelegt hatte.
Danach hatte Larison kurz schweigend abgewartet, um seine Gelassenheit zu demonstrieren. Als er endlich sprach, klang seine Stimme, ruhig und emotionslos. Es war dieselbe Stimme, die er ohne ihren Vortrag benutzt hätte: Ich rufe am Freitag mit Instruktionen für die Übergabe der Diamanten an. Wenn Sie sie nicht liefern, werden die Videobänder veröffentlicht. Und alles, was Nico und seiner Familie zustößt, wird Ihnen vergleichsweise harmlos erscheinen, wenn ich erst mit Ihnen und den Ihren fertig bin.
Er hatte aufgelegt. Einen langen Moment hatte er vollkommen still da gestanden, ohne etwas zu sehen, mit hämmerndem Puls. Dann hatten die Beine unter ihm nachgegeben, und er war zur Seite gekippt. Auf dem Boden zusammengerollt schluchzte er beinahe zehn Minuten lang ungehemmt. Er wusste, dass er schleunigst aufbrechen musste – es war zwar fast unmöglich, den Anruf eines geklonten Satellitentelefons zu triangulieren, doch er hätte auch nie damit gerechnet, dass sie ihn so schnell identifizieren könnten. Aber er war unfähig, sich zu bewegen. Scham und Entsetzen und Selbstmitleid und Furcht und Trauer überwältigten ihn.
Endlich fasste er sich wieder ein wenig. Er rappelte sich auf, stolperte zum Waschbecken und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Er betrachtete sein Spiegelbild, die Augen gerötet, die Wangen triefend und unrasiert, die Zähne gefletscht, die Nasenflügel gebläht vom heftigen Atem. Er sah aus wie ein Geschöpf aus einem Albtraum.
Dann sei auch wie ein Albtraum.
Ja. Er würde sie bezahlen lassen. Für alles.
Nur musste er erst in Bewegung kommen. Das war eine Lektion, die man ihm von Anfang an eingebläut hatte: Egal, was dich getroffen hat, egal, wie groß der Schmerz oder die Verwirrung auch sein mag, bleib nie stehen. Gib nie ein stationäres Ziel ab.
Das hieß zugleich: Wenn man in einen Hinterhalt geriet, lag die beste Überlebenschance in einer ganz simplen Strategie.
Zurückschlagen.
Damit rechneten sie natürlich. Tatsächlich verstand er, während der Schock des Anrufs langsam abebbte und an seine Stelle wütende Entschlossenheit trat, dass sie ihn ködern wollten und hofften, er ließe sich provozieren.
Was er unternahm, würde daher keine Überraschung für sie sein. Alles kam darauf an, wie er es tat.
Er sah auf die Uhr und versuchte, sich nicht auszumalen, wie es wäre, unvorstellbar reich zu sein. Er hätte einen Jet chartern können und wäre in drei Stunden in San José gewesen. Stattdessen klebte er hier am Flughafen an seinem Sitz fest und wartete, während die Minuten endlos zäh verstrichen.
Das Schlimmste war, dass er einfach nicht darauf kam, wo die Schwachstelle gelegen haben konnte. Das verunsicherte ihn, und seine Gedanken kreisten ständig darum, während er wieder und wieder jeden kleinsten Aspekt der Vorbereitungen durchging. Er sah keinen Fehler. Nur diese zwei Brüder fielen ihm ein, die ihm in San José gefolgt waren und die er für Kleinkriminelle gehalten hatte. Vielleicht hatte mehr dahintergesteckt … aber er konnte es sich nicht vorstellen. Er hatte sich äußerst vorsichtig verhalten und keine erkennbaren Muster entstehen lassen. Irgendwo musste eine Spur zurückgeblieben sein, er begriff nur nicht, wo. Ob die NSA über Möglichkeiten verfügte, von denen nicht einmal er etwas wusste? Vielleicht hatte er irgendwo einen winzigen Fehler begangen, und von diesem Punkt aus hatten ihre Supercomputer alle seine Schritte zurückverfolgen können.
Abermals sah er auf die Uhr. Er war immer stolz gewesen auf die beinahe übernatürliche Ruhe, die er vor dem Kampfeinsatz erreichen konnte, allerdings funktionierte es jetzt nicht. Er hatte sich ein Dutzend Arten ausgemalt, wie die Sache schlimm für ihn ausgehen konnte. Keine davon angenehm, doch er wäre wenigstens darauf gefasst gewesen. Nur dass sie über Nico an ihn herankommen würden, das hätte er nie gedacht.
Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Er war schrecklich erschöpft. Die Lautsprecherdurchsagen und das Gepiepse von den verdammten Gepäckwagen … es war alles so laut, eine einzige Kakofonie. In seinem Kopf begann es zu hämmern. Die Träume setzten ihm arg zu. Er hatte keine Ahnung gehabt, wie schlimm es ohne die Pillen sein würde. Und es wurde nicht besser – jede Nacht war schlimmer als die vorhergegangene. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Welche Anwandlung von gigantischer Überheblichkeit hatte ihn auf die Idee gebracht, sich mit der gesamten Regierung anzulegen und zu glauben damit davonkommen zu können? Er war von Anfang an chancenlos gewesen, das sah er jetzt. Bereitete er sich etwa gerade auf einen dramatischen Endkampf vor? Wie Käpt‘n Ahab auf dem Rücken des weißen Wals, der ihn in die dunkle Tiefe hinab zog, wo er ertrinken musste? Was zum Teufel hatte er sich nur gedacht?
Wenn er ohnehin sterben musste, gab er die Videobänder vielleicht besser gleich frei. Er musste sich nur einloggen, ein Passwort und einen Befehl eingeben, und die Sache wäre erledigt. Oder sich nach dem voreingestellten Zeitraum einfach nicht einloggen, was dasselbe bewirkte. Würden sie Nico danach wirklich noch etwas antun?
Er konnte es nicht ausschließen. Das Risiko war zu groß. Und vielleicht, vielleicht, konnte er den Spieß ja doch noch umdrehen. Die Initiative zurückgewinnen. Ihnen zeigen, dass sie sich zum Teufel noch mal mit dem Falschen angelegt hatten.
Die Videos würden veröffentlicht werden, so oder so. Darauf konzentrierte er sich und wiederholte es wie ein Mantra, so oder so, so oder so, so oder so, bis er sich ein bisschen entspannter fühlte. So oder so. Viel mehr hielt ihn angesichts der vernichtenden Erkenntnis nicht mehr aufrecht. Er hatte es vermasselt und seine Träume mit Nico würden sich vermutlich als jämmerliche, kindische Hoffnungen entpuppen. Die Videos mussten ans Tageslicht kommen. So oder so.
Und dann war da noch der Gedanke, was er den Leuten antun würde, die ihn in San José erwarteten.