KAPITEL 6

NICHT SO ENDEN WIE ER

Am nächsten Morgen umrundete Ben langsam den Belthorn Drive in Kissimmee, Florida, eine halbe Autostunde südwestlich vom Flughafen von Orlando. Laut Hort wohnte hier Larisons ›Witwe‹, die ihren Mädchennamen Marcy Wheeler wieder angenommen hatte. Fürs Erste war die Frau so ziemlich die einzige brauchbare Spur, die sie hatten.

Beim Fahren ließ er den Blick umherwandern, absorbierte die Situation und suchte nach Details, die nicht hierherpassten: einen geparkten Wagen mit ein paar Männern mit harten Gesichtern darin, einen Van mit dunkel getönten Scheiben, einen Mann mit Sonnenbrille, der herumschlenderte und von auswärts zu sein schien. Nichts ließ seine Alarmglocken schrillen. Belthorn war eine verschlafene Ansammlung bescheidener, einstöckiger Häuser, die zunehmend von imposanteren McMansions ersetzt wurden. Abgesehen von der Hitze und einer gelegentlichen Palme hätte es sich um eine Straße in jeder beliebigen amerikanischen Vorstadt handeln können. Untere Mittelschicht, wobei die alteingesessenen Familien nach und nach von jüngeren, aggressiveren Kolonisatoren verdrängt wurden, Neuankömmlingen mit mehr Hang zur Prunksucht und einer höheren Bereitschaft, die damit verbundenen Hypothekenschulden in Kauf zu nehmen.

Marcy Wheeler wohnte in einem der älteren kleineren Häuser, einem einstöckigen gelben Quader, der aussah, als würde er höchstens zwei Schlafzimmer enthalten und dringend einen neuen Anstrich brauchen. Ben parkte am Ende der Straße, weit genug entfernt, sodass die Frau die Nummernschilder seines Mietwagens nicht erkennen konnte, gleichzeitig nahe genug, um das Haus zu beobachten. Von Hort wusste er, dass sie einen Sohn hatte, und es war langsam Zeit, zur Schule zu gehen.

Er wartete und hoffte, dass er das Richtige tat. Es war ihm klar, dass er Hort nicht mehr so vertrauen konnte wie früher. Nach allem, was mit Alex und Sarah geschehen war. Andererseits hatte Hort sich sofort zurückgehalten, nachdem die Operation aufgeflogen war. Er hätte sie alle drei umbringen können – von einem strikt operativen Standpunkt aus wäre das vielleicht das Beste gewesen –, er hatte sie jedoch davonkommen lassen. Warum so viele lose Enden zurücklassen? Ben konnte nur vermuten, dass es aus persönlichen Gründen geschehen war und Hort ein Anlass ganz recht gewesen war, seine eigenen Befehle nicht zu befolgen. War das Grund genug, dem Mann jetzt zu trauen?

Was für Alternativen hatte er schon? Die Einheit verlassen und sich einer privaten Truppe anschließen? Das wäre möglich. Solange die Regierung dringend Leute brauchte, konnten Männer mit seinen Referenzen als Söldner ein Vermögen verdienen. Selbst Eliteeinheiten mussten schon spezielle Boni anbieten, um ihre Leute zu halten, und auch das reichte oft genug nicht aus.

Ja, eigentlich sollte er das tun. Drei Jahre als Söldner in einem Land wie Somalia, und er konnte sich zur Ruhe setzen.

Quatsch. Wenn er ehrlich war, gefiel es ihm bei der Einheit. Zum Teil lag das an dem Training mit den Besten der Besten. Er schoss zusammen mit der Delta Force. Er trainierte Fallschirmspringen mit den Feuerspringern. Und er lernte das Spionagehandwerk von im Dienst ergrauten CIA-Überlebenden, die aus Operationen hinter den feindlichen Linien berichteten. Er genoss die Ehre und den stillen Stolz, zur ISA, der Intelligence Support Activity, zu gehören. Es gab vielleicht hundert Männer, und zwar nicht nur in Amerika, sondern auf der ganzen Welt, die mit Recht von sich behaupten konnten, ihm ebenbürtig zu sein. Das wollte schon etwas heißen.

Aber das war längst nicht alles. Er gehörte gerne zum inneren Zirkel. Es gefiel ihm, über die Geheimnisse hinter der Fassade Bescheid zu wissen, über die Art, wie die Welt unter der Oberfläche, die jeder sehen konnte, wirklich funktionierte. Die Söldner hatten ihr Gehalt und vielleicht noch ihren Stolz, allerdings waren sie keine Insider mehr. Und diese Position wollte er nicht aufgeben.

Und warum auch? Was sonst blieb ihm schon? Eine Tochter, die ihn für tot hielt, und eine Frau, die wünschte, er wäre es … Scheiße, es tat weh, aber wenn er so allein war mit seinen Gedanken, musste er zugeben, dass sein Leben ein Trümmerhaufen war. Er war froh darüber, dass er und sein Bruder Alex unlängst einige schwer beschädigte Brücken hatten reparieren können, das war immerhin etwas. Doch was hatte sich dadurch wirklich geändert? Es waren die Blutsbande, die sie zusammenschweißten, und viel mehr war nicht dazugekommen.

Und Sarah? Die Chemie zwischen ihnen stimmte in geradezu unglaublicher Weise, schon wahr. Sie hätten unterschiedlicher kaum sein können, und anfangs hatte er gedacht, sie würde ihn hassen. Was sie auf einer bestimmten Ebene vielleicht auch tat, aber dennoch waren sie miteinander im Bett gelandet. Erst hatte er versucht, es mit den gemeinsam durchlebten Gefahren und der Gefechtsgeilheit abzutun, jedoch wusste er in Wahrheit, dass mehr dahinter steckte.

Trotzdem war ihm klar, dass sie nur deshalb so viel Nähe zugelassen hatte, weil sie nicht wirklich verstand, wie sein Job aussah. Wie sollte sie auch? Sie stammten aus völlig verschiedenen Welten. Er musste sich eingestehen, dass sie zu den Menschen gehörte, die sich wohler fühlten, wenn sie so taten, als würde seine Welt überhaupt nicht existieren. Und das war eine Ironie, denn soweit es ihn betraf, handelte es sich bei ihrer Welt um die eigentliche Illusion, die hübsche Fassade. Diese Welt, in der Gewalt nie die Lösung und nie jemand wirklich böse war – höchstens missverstanden –, und in der alle Menschen rational dachten und Argumenten zugänglich waren. Er dagegen kannte die Wirklichkeit. Er wusste, wie die Dinge von innen her aussahen. Und diese Sicht bevorzugte er.

Er überlegte, wie er sich Marcy Wheeler gegenüber verhalten sollte. Subtilität war nicht seine Stärke – war es nie gewesen und würde es nie sein. Ihm lag es mehr, Türen einzutreten, als die Leute dazu zu überreden, sie ihm zu öffnen. Doch hier musste er zweifellos seine Überzeugungskraft spielen lassen. Immerhin konnte er auf das Vernehmungstraining von der ›Farm‹ in Camp Peary zurückgreifen, das er bereits im Lauf verschiedener Missionen erfolgreich angewandt hatte. Es war, wie Hort gesagt hatte: Er musste nur lernen, sich ein bisschen besser zu beherrschen. Dann war alles in Ordnung.

Kurz nach acht öffnete sich die Haustür der Wheelers. Ein kleiner Junge trat heraus. Er war acht Jahre alt, wenn Horts Information stimmte. Gleich hinter ihm erschien Marcy Wheeler, die blonden Haare zurückgebunden, in grauen Shorts und einem dunkelblauen Tank-Top. Sie half dem Jungen, seinen Rucksack aufzusetzen, gab ihm einen Kuss und beobachtete, wie er zusammen mit ein paar anderen, ähnlich ausstaffierten Kindern am Straßenrand wartete. Einige Minuten später hielt ein gelber Schulbus. Die Luftdruckbremsen zischten, ein rotes Stoppschild fuhr an der Straßenseite aus, und dann war der Bus mit den Kindern verschwunden. Wheeler blickte ihm hinterher und wirkte dabei irgendwie ernüchtert. Ben dachte an Ami in Manila. Auch sie war das Kind eines toten Vaters.

Komm schon, vergiss es. Es ist besser so. Lass es ruhen.

Er stieg aus und ging auf das Haus der Wheelers zu. Den Kopf nach links und rechts drehend, kontrollierte er die Gefahrenpunkte. Keine Probleme. Er trug einen graugrünen Popeline-Anzug, ein weißes Hemd, eine rote Krawatte und schwarze Budapester. Alles stammte von Brooks Brothers in Orlando und entsprach mehr oder weniger der gängigen Behördenuniform. Er trug die Standardwaffe des FBI, eine Glock 23, Ersatzmagazine, einen FBI-Ausweis und einen Pass auf den Namen Special Agent Daniel Froomkin bei sich. Das hatte in einem toten Briefkasten in der Nähe von Orlando gelegen. Laut Horts Auskunft stand ein echter Froomkin auf der Lohnliste des J. Edgar Hoover Building in Washington, und die falsche Identität war wasserdicht. Sie durften nicht hoffen, dass Marcy Wheeler mit jemandem kooperierte, der keinerlei rechtliche Befugnisse besaß.

Die Luft war schwül und roch nach frisch gemähtem Gras. Ein schmächtiger Mann, wahrscheinlich ein Mexikaner, schob einen brummenden Rasenmäher durch einen Garten auf der anderen Straßenseite. Sein T-Shirt war schweißdurchtränkt, und er trug Ohrstöpsel als Lärmschutz. Seine Arme waren von zu viel Sonne braun und wettergegerbt. Ein verbeulter Pick-up mit Gartenwerkzeugen stand am Straßenrand. Der Typ wirkte echt.

Ben stieg eine kleine, betonierte Vortreppe hinauf. Die Glock ruhte beruhigend schwer unter seiner linken Achsel, während er sich ein letztes Mal daran erinnerte, dass er FBI-Agent David Froomkin war, der in einem Kriminalfall ermittelte. Selbst Zivilisten konnten manchmal an den unpassenden Schwingungen einen Agenten von einem echten Ermittler unterscheiden. Auf der ›Farm‹ hatten sie ihm beigebracht, wie man eine falsche Identität zum Laufen brachte: Man musste vollständig darin eintauchen. Der Schlüssel dazu war, an die falsche Identität zu glauben, sich zu fühlen, als wäre sie echt.

Er klopfte an die Tür, autoritär, zuversichtlich, nur nicht so laut, dass es einschüchternd oder aggressiv gewirkt hätte. Und er hielt respektvoll Abstand von der Schwelle. Der Trick dabei war, ihre Kooperation zum Teil dadurch zu gewinnen, dass sie Angst vor dem bekam, was passieren könnte, wenn sie sich weigerte. Doch dieser Angst durfte sie sich nicht bewusst werden. Sie musste im Hintergrund lauern, verborgen hinter einem Verhalten, das gerade freundlich genug war, um ihr zu suggerieren, dass sie freiwillig mitarbeitete und nicht auf subtile Weise dazu gedrängt wurde.

Einen Augenblick später öffnete Marcy Wheeler die Tür. Entweder Kissimmee erfreute sich einer niedrigen Kriminalitätsrate oder sie war sehr vertrauensvoll. Vielleicht waren ihre Gedanken auch noch bei ihrem Sohn.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie mit zweifelnder Miene. Aus der Nähe sah er, dass sie eine hübsche Frau war. Mitte vierzig, Strähnchen in den Haaren, künstlich aufgehellte Zähne. In den Shorts und dem Tank-Top steckte ein durchtrainierter Körper. Ben registrierte am Rande, dass sie trotz des bescheidenen Hauses und obwohl sie alleinerziehende Mutter war, Geld für ihr Haar, ihre Zähne und vielleicht für einen Personal Trainer oder Yoga- und Pilates-Kurse ausgab. Ihre Erscheinung war ihr wichtig. Ihm war klar, dass ihm das nützlich sein konnte, jedoch wusste er noch nicht, wie.

»Ja, Ma‘am«, bestätigte Ben und zeigte seinen FBI-Ausweis. »Ich bin Special Agent Dan Froomkin vom FBI. Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen über Ihren verstorbenen Ehemann stellen, Daniel Larison, wenn Sie nichts dagegen haben. Es dauert nur ein paar Minuten.«

Ihre Pupillen weiteten sich leicht, zweifellos aufgrund eines Adrenalinstoßes. Sie wirkte eher überrascht als besorgt. »Mein verstorbener Mann …? Warum denn?«

»Wir ermitteln in einem Verbrechen, Ma‘am. Ihr Mann war nicht darin verwickelt, andererseits könnte uns sein Verhalten in der Zeit vor seinem Tod bei den Untersuchungen weiterbringen.«

Ben wartete, bis sie das potenziell unheildrohende uns registriert hatte. Nach einem Augenblick gab sie nach: »Na gut, aber ich glaube nicht, dass ich Ihnen helfen kann, Mr. Froomkin.«

Ben schenkte ihr ein freundliches Lächeln, eine Niedervolt-Ausgabe von dem, mit dem er auf der Highschool und später in den verschiedensten Häfen der Welt immer gut angekommen war. »Nun, es kann nicht schaden, es zu versuchen. Und bitte nennen Sie mich Dan, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Manchmal ist es lästig, so offiziell sein zu müssen.«

»Na gut, Dan«, meinte sie und erwiderte sein Lächeln mit einem leicht nervösen Unterton. »Kommen Sie doch herein. Möchten Sie eine Tasse Kaffee? Ich habe gerade welchen aufgesetzt.«

Ben nickte. »Sehr gerne. Vielen Dank.«

Er folgte ihr durch eine kleine Diele in eine spärlich möblierte Küche. Die Möbel passten nicht zusammen und sahen aus, als wären sie aus zweiter Hand. Ihre Lebensumstände deuteten darauf hin, dass die Frau nicht gerade im Luxus schwelgte. Ben schloss daraus, dass Larison keine große Lebensversicherung abgeschlossen und auch sonst nicht viel hinterlassen hatte. Wieder war er sich nicht sicher, was das bedeuten könnte, speicherte die Information jedoch als möglicherweise brauchbar ab.

In der Küche roch es nach Waffeln und Pfannkuchen. Sie räumte zwei Teller und Gläser vom Tisch ab und meinte: »Entschuldigen Sie das Durcheinander. Hier, setzen Sie sich.«

Ben hielt fest, dass sie für ihren Sohn Frühstück machte und mit ihm zusammen aß. Sie sah ihm an der Haltestelle nach, bis der Bus abgefahren war. Eine hingebungsvolle Mutter. Er musste wieder an Ami denken und ärgerte sich über sich selbst. Ami hat nichts mit dem hier zu tun.

Er lehnte sich zurück und überlegte. Sie war offensichtlich nervös. Wer wäre das nicht gewesen, wenn ein Regierungsbeamter vor der Tür stand, seine Marke zückte und sich nach toten Ehemännern erkundigte? Die Nervosität wirkte normal. Sie war misstrauisch, nicht verängstigt. Und außerdem hatte sie ihn in die Küche gebeten. Das war gut. Die Menschen wickelten Geschäfte in der Küche ab, es war der Ort, an dem sie sich wohlfühlten. Das Wohnzimmer war eine Fassade, mit der man Leute einschüchterte.

Sie stellte eine Tasse Kaffee in einem einfachen weißen Becher vor ihn hin, der aussah, als stammte er von Pottery Barn oder einem ähnlichen Laden. »Milch? Zucker?«

»Nein, schwarz bitte.« Er trank einen Schluck. »Wunderbar. Vielen Dank.«

Sie lächelte wieder, nahm sich selbst auch eine Tasse und setzte sich ihm gegenüber.

Er trank noch einen Schluck. Der Kaffee war wirklich gut – nichts Besonderes, einfach nur stark und schwarz, genau wie er ihn mochte. »Es tut mir leid, hier so unangekündigt hereinzuplatzen«, meinte er. »Das ist vermutlich nicht Ihre Vorstellung von einem schönen Morgen. Ich werde versuchen, mich kurz zu fassen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Das ist schon in Ordnung. Ich weiß nur nicht, was ich Ihnen erzählen könnte. Mein Mann ist schon vor langer Zeit gestorben.«

Die Formulierung ›vor langer Zeit‹ machte ihn neugierig. Kein Datum, keine Anzahl von Jahren … nur ein vager Bezug auf eine unbestimmte, irrelevante Vergangenheit. Er hatte das Gefühl, dass sie die Erinnerung an Larison aus ihrem Leben gestrichen hatte oder auf Distanz hielt. Warum?

»Es tut mir leid, wenn ich traurige Erinnerungen wecke. Soweit ich weiß, ist Ihr Mann im Dienst am Vaterland gestorben.«

Sie lächelte schmal und unbehaglich. »Nun, er hat immer für diesen Dienst gelebt. Kein Wunder, dass er dafür gestorben ist.«

Ben hatte nicht erwartet, dass sie irgendetwas über den Erpressungsversuch wusste, falls Larison tatsächlich dahinterstecken sollte. Oder überhaupt noch am Leben war. Nichts an ihrem Verhalten deutete auf etwas Anderes hin. Sie zeigte nur ein ganz normales Ausmaß an Unbehagen.

Er warf ihr ein trauriges Lächeln zu, das nicht vollständig gekünstelt war. Hier in dieser gemütlichen Küche zu sein, war ein wenig so, als würde er stumm Gericht sitzen über seine eigene Vaterrolle. »Ja, das kann ich gut verstehen. Es ist schwer, sich von der Arbeit nicht … verschlucken zu lassen.«

Sie warf einen Blick auf seine linke Hand. »Sind Sie verheiratet?«

Er schüttelte den Kopf. »Geschieden.«

Sie war eine alleinerziehende Mutter Mitte vierzig, die sich nur um ihren Sohn kümmerte. Wie standen die Aussichten, in einer Vorstadt in Florida jemanden kennenzulernen? Wann war sie das letzte Mal mit einem Mann zusammen gewesen?

Diesen Aspekt hatte er bisher nicht bedacht. Doch er spürte, dass sich hier vielleicht ein Ansatzpunkt bot, sie kooperativer und redseliger zu machen, als es sonst der Fall gewesen wäre. Der Einfall half ihm, die Gedanken an seine Tochter zurückzudrängen und sich wieder zu konzentrieren.

»Wie dem auch sei«, meinte er lächelnd und schüttelte den Kopf, als hätte ihn der Themenwechsel zum Persönlichen verwirrt, was ja auch stimmte. »Es besteht die Möglichkeit, dass Ihr Mann mit einigen Personen in Kontakt stand, mit denen wir sprechen müssen. Haben Sie vielleicht noch seinen Pass? Reiseunterlagen? Korrespondenz? Alles, was Sie uns über seine Kontakte oder Reisen sagen können, wäre hilfreich.«

Sie nippte an ihrem Kaffee und beobachtete ihn. Ihr Blick wirkte forschend, und er hatte keine Ahnung, was sie dachte.

»Nein«, antwortete sie nach kurzer Pause. »Ich bin nicht besonders sentimental, aber selbst dann hätte ich keine Erinnerungsstücke von ihm aufbewahrt.«

Von ihm, plötzlich. Gerade hatte sie noch mein Mann gesagt.

Er sah sie an und war erfreut, dass sie bereit war, zu reden, jedoch enttäuscht von der Erwartung, dass sie ihm nichts Brauchbares sagen würde.

»Verzeihen Sie, aber darf ich fragen, warum nicht?«

Sie zuckte die Achseln. »Unsere Ehe war nicht gerade glücklich. Kommt das in Ihren Bericht?«

»Ich sehe keinen Grund dafür«, erwiderte er.

Es blieb kurz still. Dann sagte sie: »Wenn ich Ihnen sage, wo er sich vor seinem Tod überall aufgehalten hat, sagen Sie mir dann, was Sie herausgefunden haben?«

Ben war verblüfft. »Ma‘am, dies ist eine vertrauliche Untersuchung …«

»Marcy. Schließlich nenne ich Sie Dan, oder?«

Ben, der gedacht hatte, ihr einen Schritt voraus zu sein, fragte sich plötzlich, ob er sich da nicht täuschte.

»Ja, Sie haben recht, Marcy. Wenn ich an irgendeinem Punkt etwas herausfinde, das ich Ihnen sagen darf, werde ich es tun. Aber ich kann nichts versprechen. Das wissen Sie.«

Das klang glaubwürdig. Genau das, was ein echter FBI-Agent in seiner Situation sagen würde.

Sie musterte ihn wieder lange Zeit mit diesem forschenden Blick, und er dachte, dass er ein Narr gewesen war, zu glauben, sie wäre nett zu ihm, weil sie Interesse hätte. Interessiert war sie schon. Allerdings nicht an dem, was er gedacht hatte.

»Vermutlich können Sie mir nicht sagen, wenn mein Mann in irgendeine Art von Verbrechen verwickelt war. Aber das ist mir auch egal. Es ist sein … Privatleben, das mir immer noch im Kopf herumgeht. Das ist dumm, denn es ist schon so lange her, und im Großen und Ganzen bin ich weitergezogen. Aber es würde mir helfen, Bescheid zu wissen. Sie wissen schon, um einen Schlussstrich ziehen zu können.«

»Ich … verstehe«, sagte Ben so unverbindlich wie möglich.

Sie lächelte ihm zu, ein merkwürdiges Lächeln, aus dem Ben zu gleichen Teilen Mitgefühl und Verachtung herauslas. Abermals war er betroffen, wie sehr er ihre Klugheit unterschätzt hatte.

»Ach ja?«, fragte sie.

Er stellte seinen Kaffeebecher auf den Tisch. »Warum erzählen Sie es mir nicht einfach, und dann sehen wir weiter?«

Eine lange Pause entstand. Sie sagte: »Mein Mann war oft wochenlang weg, sogar monatelang, ohne Unterbrechung, und er wollte mir nie sagen, wo oder warum. Was hätte ich da denken sollen?«

»Nun, Sie wissen, dass seine Einsätze geheim waren …«

»Ich bitte Sie. Außer in den Flitterwochen und kurze Zeit danach hatten wir kaum Sex. Selbst wenn er von einem dieser langen ›Einsätze‹ zurückkam, war er nicht interessiert. Wenn wir es überhaupt gemacht haben, kam es mir oberflächlich vor, als würde er an jemand anderen denken. Was hätten Sie in einem solchen Fall vermutet?«

»Ich hätte wahrscheinlich angenommen, dass mein Ehemann eine Affäre hat.«

»Natürlich. Also engagierte ich einen Privatdetektiv und ließ ihn beschatten.«

Ben konnte es einen Moment lang nicht fassen und starrte sie stumm an. »Sie … Sie ließen Ihren Ehemann beschatten?«

Sie runzelte leise die Stirn, und Ben begriff, dass sie die Ursache seiner Überraschung missverstanden hatte. »Was ich meine«, fügte er hinzu, »nach allem, was ich von Ihrem Ehemann erfahren habe, wäre es ungefähr das Gleiche, einen Privatdetektiv auf ihn anzusetzen, wie einem Zwölfjährigen den Auftrag zu geben, Mike Tyson zusammenzuschlagen.«

Das Stirnrunzeln ließ nach, und sie lachte leise. »Ja, der Detektiv sagte mir, dass er sehr ›sicherheitsbewusst‹ sei. Ich glaube, das ist der Begriff, den er benutzte. Anfangs konnte er lediglich herausfinden, dass mein Mann nach Miami geflogen war. Zwei Mal. Als ich dem Privatdetektiv beim nächsten Mal im Voraus mitteilte, dass mein Mann wieder verreisen wollte, passte der ihn in Miami ab. Dabei fand er heraus, dass er diesmal nach Costa Rica weitergeflogen war.«

Ach du grüne Scheiße, dachte Ben. Das könnte ein Anhaltspunkt sein. »Costa Rica.«

»Ja.«

»Und dann?«

»Der Detektiv heuerte jemanden vor Ort an, in San José, der Hauptstadt. Als mein Mann das nächste Mal nach Costa Rica flog, sollte dieser ihm folgen. Stattdessen verschwand er.«

»Ihr Mann verschwand?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nicht mein Mann. Der Typ vor Ort. Mein Privatdetektiv bekam kalte Füße und teilte mir mit, dass er den Fall nicht weiter bearbeiten wolle. Er gab mir mein Geld zurück. Und dann starb mein Mann, bevor ich einen anderen Detektiv engagieren konnte.«

»Was, glauben Sie, ist passiert?«

»Ich weiß nicht. Ich will es gar nicht wissen. Mein Mann konnte ziemlich Furcht einflößend sein.«

»Inwiefern Furcht einflößend?«

Sie schwieg lange, bevor sie sagte: »Er war voller Zorn. Ich weiß nicht, aus welchem Grund. Vielleicht lag es an seiner Arbeit, an Dingen, die er gesehen hatte oder tun musste.«

»War er jähzornig?«

»Nein. Er verlor nie die Beherrschung. Jedenfalls nicht mir gegenüber. Da war er meistens einfach – unterkühlt.«

»Und weiter …«

»Ich kann es Ihnen nicht erklären. Sie würden es nicht verstehen, Sie haben nicht mit ihm zusammengelebt. Da war etwas in ihm, das er nur mühsam am Explodieren hindern konnte. Vielleicht ist es am Ende doch noch dazu gekommen. Ich weiß es nicht. Im Rückblick sehe ich … er war ausgesprochen kontrolliert. Er zeigte den Leuten nur das, was er sie sehen lassen wollte. Selbst seiner Frau. Deshalb gibt es nichts, was ich Ihnen sonst noch erzählen könnte.«

Einen Moment lang schwiegen sie. Ben fragte: »Haben Sie noch die Adresse des Privatdetektivs?«

»Sicher. Harry McGlade. Sein Büro ist in Orlando. Jedenfalls war es das damals – wir hatten keinen Kontakt mehr, seit er den Fall abgab.«

Ben konnte natürlich nicht ausschließen, dass sie irgendwie mit Larison unter einer Decke steckte. Dann musste das freilich auch für den Privatschnüffler gelten, es sei denn, die beiden hätten ihn schon Jahre im Voraus äußerst geschickt manipuliert. Das hielt er für ziemlich unwahrscheinlich. Sein Instinkt sagte ihm, dass sie die Wahrheit sprach.

»Und sonst?«, fragte er. Auf der ›Farm‹ hatte man ihm beigebracht, dass solche vagen Fragen sich am besten für eine allgemeine Befragung eigneten.

Sie lachte. »Was haben Sie denn erwartet? Das muss doch schon mehr sein, als Sie sich erhoffen konnten.«

Ihr Spott beeindruckte und ärgerte ihn zugleich. Er fragte sich, wie sie als Larisons Ehefrau gewesen war. Nicht ganz leicht zu handhaben vermutlich.

Er sah sie an. »Wenn Ihnen noch etwas einfällt, würden Sie mich dann anrufen?«

Ihr Lächeln war nur ein leises, trauriges Verziehen der Mundwinkel. »Wenn Sie etwas herausfinden, werden Sie dasselbe tun?«

Warum nicht?, dachte er. Sie leidet immer noch unter der Sache. Du kannst sie anrufen und ihr irgendetwas vorflunkern, damit sie sich besser fühlt.

»Wenn ich etwas erfahre, das Ihnen persönlich helfen könnte«, meinte er, »ja, dann werde ich es Sie wissen lassen. Unter der Hand.« Es fühlte sich gut an, es zu sagen. Es war nicht einmal eine glatte Lüge.

»Ich will nur wegen Costa Rica Bescheid wissen. Verstehen Sie?«

Er nickte. »Ja.«

»Ob er sich dort mit jemandem getroffen hat.«

»Verstanden.«

Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich. Es ist sehr belastend, den Mann, mit dem man verheiratet war, einer solchen Sache verdächtigen zu müssen. Wenn Sie ein anständiger Mensch sind, werden Sie Ihre diesbezüglichen Erkenntnisse auch nicht in Ihrem Bericht erwähnen.«

»Ich werde … ich versuche es.«

Sie sah ihn an und nickte nachdrücklich, als wäre sie dankbar für seine Geste, bezweifelte aber ihre Ernsthaftigkeit. »Nun, sollten Sie wieder einmal vorbeikommen, um mir persönlich Bescheid zu sagen, würde ich mich freuen.«

Er nickte und fragte sich, ob er sich über die Art ihres Interesses nicht doch getäuscht hatte. »Ich kann nichts versprechen«, meinte er. »Aber … ich denke, das würde ich gerne tun.« Was abermals nicht direkt gelogen war.

Sie brachte ihn zur Tür. Er öffnete sie einen Spalt weit und warf einen schnellen Blick nach links und rechts – dann noch einmal links und wieder rechts, während er sie aufmachte. Alles schien in Ordnung zu sein. Der Gärtner und sein Transporter waren verschwunden. Ansonsten hatte sich seit seiner Ankunft nichts verändert.

»Mein Mann hat das auch immer so gemacht«, sagte sie hinter ihm. Ihre Stimme klang kalt.

Er trat auf die Schwelle und sah sich zu ihr um. »Nun, ich möchte nicht so enden wie er.«

Bevor die Worte heraus waren, wusste er schon, dass sie barscher klangen als beabsichtigt. Noch während er nach einer Möglichkeit suchte, sie abzumildern, sagte sie »Dann lassen Sie‘s« und schloss die Tür hinter ihm.