Es war ein sonniger Tag und Stefan wünschte, er hätte heute frei.
Immerhin hatten sie jetzt eine knappe Stunde Pause und schlenderten durch die Barmer Fußgängerzone. Auf dem Werth herrschte reger Betrieb. Jeder, der es sich leisten konnte, verbrachte die Zeit an der frischen Luft, saß in einem der Straßencafes und genoss die Sonne.
Stefan führte seine Freundin zu Wurst König und orderte zwei Bratwürste mit Senf. Das machten sie ab und zu, wenn sie in der Pause in die Barmer City gingen.
»Na - das ist ja ein Zufall! Heike und Stefan!«
Ein drahtiger Mann mit dunklen Haaren und schmaler Brille kam hocherfreut auf die beiden zu und winkte. Peer Finke war so etwas wie ein freier Mitarbeiter der Wupperwelle. Eigentlich machte er Bürgerfunk und fühlte sich als Ergänzung des Programms. Dennoch arbeiteten sie öfters zusammen. Finke hatte eine etwas unkonventionelle Art, an; seine Geschichten zu kommen. Jedoch war er sehr kreativ und originell, wenn es darum ging, seine Interviewpartner aus der Reserve zu locken.
»Mahlzeit«, raunte Stefan Heike zu und biss in seine Bratwurst. Der Senf triefte auf die Pflastersteine.
»Peer«, rief Heike erfreut und begrüßte den Kollegen. Sie knabberte etwas zurückhaltender an ihrer Wurst.
»Habt ihr gerade Pause?« Peer war außer Atem. Scheinbar; war er die letzten Meter gerannt, nachdem er Stefan und; Heike erkannt hatte.
»Nein«, erwiderte Stefan kauend. »Wir machen eine Reportage über die Qualität von Wuppertaler Bratwurstbuden.« Mit ernstem Blick betrachtete er Peer Finke.
Dieser lachte amüsiert. »Immer noch die Alten, ihr zwei.«
»Was war los, ich habe dich eine Ewigkeit nicht mehr gesehen?«, fragte Heike, nachdem sie sich den Mund mit einer Papierserviette abgetupft hatte.
Peer tat geheimnisvoll. »Ich war … ich hatte eine Freundin.«
»Und? Wo ist sie?«
»Hm …« Finke wich ihrem Blick aus. »Weg. Wir haben uns getrennt. Ich war zu oft für meine Reportagen unterwegs.« Jetzt strahlte er sie an. »Aber ich bin wieder für das Radio zu haben, ohne Wenn und Aber. Und das habe ich genutzt, indem ich einige Seminare besucht habe.«
»Hey«, warnte Stefan kauend. »Mach uns bloß keine Konkurrenz.«
»Keine Angst«, schmunzelte Peer Finke. Er blickte sich suchend auf dem Werth um. Schräg gegenüber von Wurst König saßen die Gäste des Extra-Blatt in der Sonne. »Darf ich euch zu einem Kaffee einladen?«
»Wenn's auch ein Latte Macchiato sein darf - warum nicht«, nickte Heike und hakte sich bei Stefan unter, der damit beschäftigt war, den Rest seiner Bratwurst zu verdrücken.
Sie fanden einen freien Tisch auf der kleinen Terrasse des Bistros und ließen sich dort nieder. Bert Gerresheims Bronzebrunnen auf dem Vorplatz des Barmer Rathauses glänzte in der Sonne. Kinder turnten auf der Skulptur herum. Eine Kellnerin erschien am Tisch und nahm die Bestellung auf.
»Mensch, das ist ja ein echter Hammer mit dem Mord an Tim Heiger, was?«, platzte es aus Peer heraus.
»Allerdings«, nickte Heike.
»Ihr wusstet, dass der Gute in Schwierigkeiten steckte?«
Stefan und Heike tauschten einen Blick. »Nein«, sagte Stefan schließlich. Von der Scheidungsakte bei Michaela Heiger-Burbach erwähnte er zunächst noch nichts. Das war sein Joker. Er würde den richtigen Augenblick abwarten.
Peer Finke faltete die feingliedrigen Hände wie zum Gebet. Er beugte sich vor. »Er hatte ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau. Hier in Wuppertal.« Er setzte eine feierliche Miene auf.
»Heiger hasste die Stadt.« Stefan winkte ab.
»Aber wohl nicht die Frauen«, fügte Heike feixend hinzu.
Peer ließ sich nicht aus der Reserve locken. »Seine Geliebte war die Frau eines Lehrers am Gymnasium Siegesstraße. Fühlte sich wohl vernachlässigt. Weiß der Teufel, was sie geritten hat, als sie sich mit Heiger einließ.«
»Liebe?«, schlug Heike vor. »Tim Heiger war ein gut aussehender Mann. Und wohlhabend. Vielleicht schenkte er ihr mehr Aufmerksamkeit als ihr Göttergatte.«
Stefan räusperte sich. »Wie hieß der betrogene Lehrer?«
Peer überlegte einen Moment. »Jochims«, sagte er dann. »Hansjürgen Jochims.«
»Meinst du, der Mord an Tim Heiger war die Rache des gehörnten Ehemanns?«, fragte Stefan. »Ich weiß nicht, ob ich einem braven Lehrer einen Mord anhängen würde.«
Die Kellnerin kam an den Tisch und brachte zwei Latte Macchiato und einen Tee. Sie tranken und blinzelten in die Nachmittagssonne.
Peer knabberte an seinem Gebäck, stierte sekundenlang in die Tasse und zuckte dann mit den Schultern. »Keine Ahnung«, brummte er. »Aber schön, dass ich euch getroffen habe.«
»Wenn du dich so sehr freust, dann willst du etwas von uns«, behauptete Stefan trocken.
»Stimmt.« Peer Finke pustete in seinen Tee und trank. »Ich habe im Radio gehört, dass die Wupperwelle das Casting für Heigers Nachfolger ausrichten wird.«
»Richtig«, nickte Heike. »Und ich werde in der Jury sitzen.«
»Das trifft sich hervorragend. Wenn ich vielleicht dem Casting beiwohnen dürfte … um das eine oder andere Interview zu führen.«
»Das ist das kleinste Problem«, nickte Stefan. »Ich denke, dass Eckhardt nichts dagegen haben wird. Immerhin hast du uns auch schon ein, zwei Mal mit Informationen versorgt.«
»Wohl wahr«, erwiderte Peer und strahlte. »Eine Hand wäscht die andere.«
Dem hatten Heike und Stefan nichts hinzuzufügen. Als sie auf dem Rückweg zum Sender waren, zwinkerte Stefan Heike zu. »Jetzt haben wir immerhin einen Anhaltspunkt.«
Heike war vor dem ehemaligen Kaufhof-Gebäude stehen geblieben. »Was hast du vor, Stefan?«
Er lächelte geheimnisvoll. »Ich werde diesem Jochims mal auf den Zahn fühlen. Zumindest ist er ein Kandidat in der Liga der Verdächtigen.«
* * *
In der Kornmühle herrschte um diese Zeit nicht sehr viel Betrieb. Das alte, hölzerne Mühlrad in der Mitte des Raumes drehte sich langsam. Inzwischen diente es nur noch als Dekoration. Längst wurde hier kein Korn mehr gemahlen.
Es war früher Nachmittag und das Mittagsgeschäft war gelaufen. Das Personal bereitete sich auf das Abendessen vor, hantierte mit dem Besteck und deckte die Tische in dem rustikal eingerichteten Nobelrestaurant. Dort, wo einst die alte Mühle klapperte, klapperten nun die Essbestecke. Ein findiger Gastronom hatte in der alten Mühle an der Warndtstraße ein Restaurant mit gediegenem Ambiente eingerichtet.
Nur wenige Tische waren besetzt. An einem Tisch in einer Nische saß eine junge, elegant gekleidete Frau mit blonden Haaren. Sie trug ein schwarzes Kostüm. Jetzt warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr und trommelte nervös mit den Fingern auf der strahlend weißen Tischdecke herum.
Er verspätet sich, dachte Michaela Heiger-Burbach und nippte an ihrem Rotwein. Dann öffnete sich die Eingangstür und ein hoch gewachsener Mann mit dunklen Haaren und Dreitagebart betrat das Restaurant. Er blieb im Eingangsbereich des Gastraums stehen und blickte sich suchend um. Als er Michaela Heiger-Burbach erblickte, huschte ein Lächeln um seine Mundwinkel. Er näherte sich mit weit ausladenden Schritten. Sie lächelte ihm entgegen.
Er nickte ihr zu, dann ließ er sich auf dem gegenüber stehenden Stuhl nieder. »Frau Heiger-Burbach«, grüßte er und reichte ihr die Hand. Der Duft seines sündhaft teuren Rasierwassers drang in ihre Nase. »Mein Beileid.«
Sie nickte dankend und kämpfte gegen die Tränen an. »Herr Tickmann, schön, dass Sie Zeit für mich gefunden haben.«
»Leider habe ich tatsächlich nicht sehr viel Zeit. Im Anschluss an unser Gespräch habe ich noch einen Außendreh. Morgen müssen wir einen neuen Darsteller suchen. Es wird ein Casting veranstaltet, in Zusammenarbeit mit der Wupperwelle.« Er verschränkte die Hände. Als er den Namen des Radiosenders nannte, erhellte ein geheimnisvolles Lächeln Frau Heiger-Burbachs fein geschnittenes Gesicht.
»Was kann ich für Sie tun?« Tickmann lächelte verbindlich.
»Mein Mann wurde letzte Nacht brutal in unserem Haus zusammengeschlagen. Er liegt im Krankenhaus und ist nicht ansprechbar. Die Polizei steht vor einem Rätsel.«
»Das tut mir Leid.« Tickmanns Bedauern klang echt. Er nestelte an der Tischdecke herum und bestellte bei einem Kellner einen Silvaner. »Eine schwere Zeit für Sie, was?«
»Allerdings.« Tränen sammelten sich in ihren blauen Augen. Sie zog ein Tempo aus ihrer Tasche, murmelte eine Entschuldigung und putzte sich die Nase. »Es ist, als würde eine Welt untergehen.«
»Wie kann ich Ihnen helfen?« Der Regisseur vergaß für einen Augenblick den Stress und die Sorgen, die ihn plagten. Die Frau seines Anwalts tat ihm schlichtweg Leid. Der Kellner brachte den Wein, Tickmann kostete fachmännisch, nickte und nahm das Glas entgegen.
»Durch Zufall habe ich im Computer meines Mannes eine Datenbank geöffnet, die seinen Kundenstamm enthielt. Wie Sie wissen, ist er Rechtsanwalt.«
»Allerdings, ich erinnere mich.« Tickmann starrte ins Leere. Die Lippen hatte er zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Eine unglückliche Geschichte, und nur ungern erinnerte er sich an die Zeit seiner Scheidung. Damals wurde zu viel dreckige Wäsche gewaschen. Das ist nicht gut, wenn man einigermaßen bekannt ist. Sein Ruf hatte damals ziemlich gelitten.
»Dabei bin ich auf Ihren Namen gestoßen, Herr Tickmann.« Ihr Kopf ruckte hoch und sie musterte ihn mit tränenverschleiertem Blick.
»Und jetzt befürchten Sie, dass da ein Zusammenhang besteht, und dass ich das nächste Opfer sein könnte?« Tickmann nippte an seinem Silvaner.
Frau Heiger-Burbach wich seinem bohrenden Blick aus. Sie schaute hinauf zur Decke, die von massiven, dunkel gebeizten Holzbalken gestützt wurde. »Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, flüsterte sie kaum hörbar. »Jedenfalls setze ich nicht sehr viel Vertrauen in die Arbeit der Polizei. Und ich bin sehr, sehr wachsam.« Sie seufzte.
»Ihr Mann war mein Anwalt, als ich mich scheiden ließ«, sagte Tickmann. Er umklammerte den Stiel des Weinglases fester. Weiß traten die Knöchel seiner Finger unter der Haut hervor. Seine Kieferknochen mahlten.
»Deshalb habe ich Sie hergebeten, Herr Tickmann.«
Der Regisseur war überrascht. Diese Heiger-Burbach war nicht zu unterschätzen. Hochintelligent, elegant und geheimnisvoll. Und bildhübsch, ja, begehrenswert.
»Ich will Sie warnen, Herr Tickmann. Mein Bruder arbeitete für Sie. Mein Mann ebenfalls. Wann sind Sie dran?« Ihre Stimme hatte einen schneidenden Unterton bekommen. Dann bestellte sie die Rechnung. Sie hatte ihre Botschaft überbracht.
»Ich lade Sie ein«, beeilte sich Tickmann zu sagen. Damit leerte er sein Weinglas, winkte dem Kellner und zückte die Geldbörse. Plötzlich schien er es eilig zu haben.
Nachdem er sich hastig verabschiedet und das Lokal verlassen hatte, stahl sich ein feines Lächeln auf Michaela Heiger-Burbachs Lippen. Es lief gut…
* * *
Es hatte sich als unmögliches Unterfangen herausgestellt, einen Parkplatz in der Siegesstraße zu finden.
Jetzt parkte der Käfer in der Winterstraße, einer kleinen Seitenstraße, die steil bergan zur Schlossstraße führte. Den Weg zurück zum Gymnasium Siegesstraße legte Stefan zu Fuß zurück. Die Schüler hatten Schulschluss und stürmten aus dem Backsteingebäude. Linkerhand rauschte auf den Bahngleisen ein Zug in Richtung Elberfeld und sekundenlang übertönte der Lärm des Zuges alle anderen Geräusche der Stadt.
Im Hintergrund schälten sich die sanften Hügel der Hardt samt Bismarckturm aus dem großstädtischen Dunst. Auf der anderen Seite der Bahngleise erkannte er die Maschinenfabrik der Gebrüder Meyer. Stefan atmete tief durch, bevor er die Stufen erklomm, die in das Schulgebäude führten. Ein kunstvoll verziertes Portal führte in das Innere der Schule. Zu seiner Linken wies eine silberne Tafel darauf hin, dass es sich hier um das Städt. Gymnasium Siegesstr. handelte.
Stefan kannte genug Leute, die hier ihr Abitur gemacht hatten - mit mehr oder weniger Erfolg. Auch Peer Finke hatte einst hier die Schulbank gedrückt, wenn er sich recht erinnerte.
Ausgetretene Steinstufen führten nach oben. Es roch nach Bohnerwachs, Tinte, nach Kaugummi und Papier. Dieser typische Schulmief rief einige Erinnerungen in Stefan wach. Er fragte drei junge, kichernde Mädchen nach dem Weg zum Sekretariat.
Eine Sekretärin älteren Semesters verrichte hier ihren Dienst. Sie trug ein pinkfarbenes Kostüm - es musste aus den Siebzigern stammen - und war untersetzt. Die grauen Haare trug sie in einem Dutt. Ihre lange, spitze Nase und das fliehende Kinn erinnerten an das Gesicht einer Krähe. Als Stefan ihre heiligen Hallen betrat, blickte sie etwas irritiert auf den Besucher, der sich als Stefan Seiler von der Wupperwelle vorstellte. Prompt rückte sie ihre Brille zurecht und blinzelte mit den stahlblauen Augen. Ihre ergrauten Haare schimmerten im Sonnenlicht, das durch das hohe Fenster ins Sekretariat der Schule fiel.
»Radio?«, fragte sie. »Was kann ich für Sie tun?« Sie betrachtete Stefan kalt und lauernd.
Eine unsympathische Person, die sich offenbar im täglichen Umgang mit den Schülern eine raue Schale zugelegt hatte. Trotzdem blieb Stefan freundlich. »Es geht um einen Lehrer, der hier unterrichtet.« Er lächelte unverbindlich. »Ich suche Herrn Hansjürgen Jochims.«
»Da sind Sie heute schon der zweite. Die Polizei war auch schon da. Vor Ihnen, junger Mann.« Die Krähe zuckte und lächelte ihn etwas überheblich an. »Wie dem auch sei«, fuhr sie dann schnippisch fort, »den werden Sie hier nicht mehr finden, junger Mann.« Sie lächelte sarkastisch. »Sie sind zu spät.«
»Ist er versetzt worden?« Stefan überlegte. Hatte seine Versetzung etwas mit dem Mordverdacht zu tun? Wollte man den Ruf der Schule nicht ruinieren? War Jochims für das Gymnasium nicht mehr tragbar gewesen? »Wo finde ich ihn jetzt?«
»Ab morgen an der Hainstraße.«
Stefan runzelte die Stirn. »Dort gibt es eine Schule?« Davon hatte er noch nie etwas gehört.
»Nein, keine Schule«, wurde er belehrt. »Aber einen Friedhof.«
»Jochims ist …« Stefan konnte es nicht glauben. Die Gedanken schlugen Purzelbäume in seinem Kopf.
»Tot, ja.« Sie nickte und nestelte wieder an ihrer Brille herum. »Er lebt nicht mehr. Ist mit der Schande nicht fertig geworden …«
Stefan überlegte, ob er die nächste Frage stellen sollte, entschied sich dafür und ging in die Offensive. »Hat das etwas mit den Schwierigkeiten in seiner Ehe zu tun?«
»Woher wissen Sie davon?«
»Nun«, sagte Stefan. »Deshalb wollte ich ja mit ihm reden.«
»Zu spät«, wiederholte die Frau mit dem Krähengesicht.
Das Gespräch brachte ihn nicht weiter. »Wie lange ist er …«
»Gestern. Er hat sich umgebracht. Ja, junger Mann, Selbstmord. Kam mit dem ganzen Theater nicht mehr zurecht. Er war viel zu gut für dieses Frauenzimmer.«
»Frauenzimmer?«
»Diese Henrike Jochims, seine Ehefrau. Sie ist lebenslustig und schert sich einen Dreck um die Moral. Er hätte etwas Besseres verdient, als diese … Person.« Das letzte Wort hatte sie wie ein Schimpfwort ausgestoßen.
»Wie ist sie?«
»Ein Flittchen, wenn Sie mich fragen.« Dann schüttelte sie den Kopf. »Entschuldigen Sie mich. Ich habe noch zu tun.«
»Natürlich«, nickte Stefan und machte eine verständnisvolle Miene. »Trotzdem, vielen Dank.«
* * *
Stefan hatte einen freien Tisch im Schatten der weit ausladenden Kastanienbäume gefunden und sich ein kleines Wupperhell bestellt.
Sein Blick glitt durch den Biergarten hinauf zur Backsteinfassade des Brauhauses. Generationen von Wuppertalern hatten hier früher das Schwimmen gelernt. Nicht im Bier natürlich, denn vor seiner Wiederauferstehung als »Großraumkneipe« Barmens war das Brauhaus ein städtisches Hallenbad an der Flurstraße gewesen. Stefan erinnerte sich an die vergeblichen Proteste unzähliger Bürger, die einst gegen die Schließung dieses Stadtbades protestiert hatten. Selbst ältere Wuppertaler hatten sich selbst gemalte Plakate umgehängt und gegen die Schließung demonstriert. Inzwischen krähte danach kein Hahn mehr und man genehmigte sich hier gerne eines der selbst gebrauten, untergärigen Vollbiere. Dennoch: Feucht fröhlich ging es hier nach wie vor zu.
Während er das Treiben im Biergarten des Wuppertaler Brauhauses am frühen Abend betrachtete, dachte Stefan über die Fakten nach, die er zusammengetragen hatte.
Da gab es den Mord an einem Schauspieler, der ein Verhältnis mit der Gattin eines Lehrers gehabt hatte. Der gehörnte Ehemann weilte auch nicht mehr unter den Lebenden, anscheinend hatte er Selbstmord begangen. Hatte er sich wirklich selbst getötet, oder sollte nur ein Selbstmord vorgetäuscht werden? Und dann gab es den Überfall auf den Schwager des ermordeten Schauspielers. Zufällig war er Rechtsanwalt und hatte den Regisseur im Scheidungsprozess betreut. Und es gab den Regisseur mit der Pechsträhne, der auf Biegen und Brechen seinen Film im bergischen San Francisco drehen wollte und der sich hatte scheiden lassen.
Das Bier kam, Stefan blickte auf, bedankte sich, trank einen Schluck, leckte sich genießerisch über die Lippen und beschloss, sich Notizen zu machen, bevor er den Überblick verlor. So zückte er seinen Filofax und schrieb sich die Fakten auf. Namen, kurze Angaben zu den Personen, und -soweit erforderlich - auch die Todesdaten. Das Ganze verband er mit Linien, einem Stammbaum nicht unähnlich. »Mindmap« nannte er so etwas. Es gab Namen, die er nicht mit Strichen verbinden konnte. Und genau da wollte er ansetzen. Sein Handy vibrierte. Wie er auf dem Display sah, war es Heike.
* * *
Keine zehn Minuten später erschien sie auf der Bildfläche. Als sie Stefan entdeckt hatte, strahlte sie. Mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen sank sie zu ihm auf die Bank und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.
Dann zeigte Heike auf Stefans Skizze. »Was ist das?« Sie lächelte. »Ahnenforschung? Fertigst du einen Stammbaum der Seilers an?«
»Nein.« Stefan erklärte ihr, was es mit der Sammlung von Namen, Daten und Linien auf sich hatte.
»Bleibt eine Frage«, sagte Heike, nachdem er seine Erklärungen abgeschlossen hatte, »wie war das Verhältnis zwischen Tickmann und Heiger?«
»Es heißt, dass sie sehr gut befreundet waren. Heiger hat auch schon früher in Tickmanns Filmen mitgespielt.« Stefan zog die Mundwinkel nach unten und nahm einen Schluck Bier.
»Das riecht nach einer Cliquenwirtschaft«, bemerkte Heike. Ihr Bier kam, sie trank und wischte sich den Schaum von den Lippen.
»Wie meinst du das?«
»Überleg doch mal: Der Regisseur lässt sich scheiden. Vom Schwager seines Freundes, der ab und zu - und auch diesmal - eine Hauptrolle in seinem Film spielt.«
»Und der tote Darsteller hatte ein Verhältnis zu einer verheirateten Frau, deren Mann angeblich Selbstmord begangen hat«, fügte Stefan hinzu und leerte sein Glas. »Was macht dein Casting?«, wechselte er dann das Thema.
Heike strahlte. »Ich habe schon einiges erreicht. Wir haben im Studio weitere Beiträge eingesprochen, die auf das Casting hinweisen. Und das Beste: Ich habe eine anspruchsvolle Location für dieses Event aufgetan.« Sie zwinkerte ihm geheimnisvoll zu.
»Mach's nicht so spannend«, drängte Stefan und bestellte sich bei der Kellnerin eine Apfelschorle. Wenn er fuhr, trank er höchstens ein Bier. Sonst war das ganze Jahr Aschermittwoch, wie er zu sagen pflegte.
Heike ahmte eine Fanfare nach. »In der Villa Media werden wir einen würdigen Nachfolger für Heiger finden.«
Stefan stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Heike, Schatz, du bist klasse.« Er beugte sich zu ihr hinüber und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange.
»Danke, das weiß ich«, lachte sie. Dann verdunkelte sich ihre Miene und sie tippte auf Stefans Aufzeichnungen. »Da wäre noch etwas. Ist mir vorhin im Studio eingefallen. Die Heiger-Burbach hat ganz am Anfang, bei unserem ersten Treffen im Lola, eine Bemerkung gemacht.«
Stefan schwieg und blickte sie fragend an.
»Sie sprach von einem etwas neurotischen Fan, der ihren Bruder verfolgt haben soll. Einer von diesen Typen, die ihrem Idol bis ans Ende der Welt folgen und immer wieder auf sich aufmerksam machen.«
Stefan erinnerte sich. Er nickte nachdenklich. »Wie penetrant«, murmelte er, trank einen Schluck. »Das Phänomen des Stalkings.«
»Darauf will ich hinaus«, nickte Heike. »Ein wahnsinniger Fan.«
»Davon habe ich erst kürzlich gelesen. In Amerika gab es bereits einige dieser Fälle. Wenn Liebe zu Hass wird …« Stefan dachte nach. »Es heißt, dass meist prominente Zeitgenossen verfolgt werden. Wird diese ›Liebe‹ aber nicht erwidert, dann schlägt die Liebe in Hass um.« Er musterte Heike fragend. »Glaubst du, dass Tim Heiger ein Stalking-Opfer wurde?«
»Stalker sind meist männlich.« Sie zuckte die Schultern. »Wenn es sich um einen solchen Hintergrund handeln würde, dann hätten wir es ja wohl mit einem weiblichen Täter zu tun.«