11. Kapitel

Der Mann ist Ende zwanzig, hat einen Kinnbart, eine hohe Stirn, ist zirka 1,85 Meter groß und muskulös. Er hat kurze, dunkle Haare. Zur Tatzeit trug er eine dunkle Cordhose, einen weinroten Baumwollpulli und eine kurze, braune Jacke.« Kommissar Ulbricht blickte sein Gegenüber mit harter Miene an. »Geben Sie eine Meldung durch, in den Nachrichten, im Wupper-Journal oder was weiß ich, wo. Ich will den verdammten Schützen!«

Michael Eckhardt hatte zugesehen, wie die Designer-Espressomaschine auf der Fensterbank seines Büros schnaufend ihre Arbeit verrichtete. Jetzt wandte er sich zu seinem Besucher um. Wie immer war Kommissar Ulbricht schlecht gelaunt. Und Eckhardt wurde den Verdacht nicht los, dass das auch an seinem Begleiter lag. Ein junger, unscheinbarer Knabe, der sich etwas schüchtern als Jupp Bock vorgestellt hatte. Offenbar so etwas wie ein Assistent von Ulbricht. Na, der hatte es sicher nicht leicht bei dem alten Griesgram, durchzuckte es den Chefredakteur der Wupperwelle. Doch das sollte nicht seine Sorge sein. »Herr Ulbricht«, setzte er an und schenkte dem Kommissar ein verbindliches Lächeln. »Ich will gerne versuchen, Ihnen zu helfen. Allerdings habe ich ein Problem damit. Wie Sie wissen, findet heute unser Casting für den Heiger-Ersatz statt. Es ist nicht gut, wenn die Veranstaltung von Negativschlagzeilen überschattet wird.«

»Verdammt … ich wusste, dass Sie mir so kommen würden«, fluchte Ulbricht und nestelte eine zerknautschte Zigarettenpackung aus der Innentasche seines verschlissenen Jacketts.

»Bitte nicht… dies ist ein Nichtraucherbüro«, bat Eckhardt eilig.

Mit einem unverständlichen Brummen auf den Lippen ließ Ulbricht die Packung wieder verschwinden. »Sie fangen an wie die Göbel«, murmelte er und rang sich ein versöhnliches Grinsen ab. »Aber Sie haben ja Recht. Verdammte Zigaretten.« 

»Also«, sagte Eckhardt und ließ sich mit einer kleinen Espressotasse an seinem Schreibtisch nieder. Seine Besucher hatten dankend abgelehnt, als er ihnen ebenfalls einen Espresso angeboten hatte. »Ich bin gerne bereit, Ihnen bei der Aufklärung des Anschlags auf Lars Gemmering zu helfen. Geben Sie mir ein paar Stunden. Sobald das Casting läuft, gebe ich Ihre Fahndungsmeldung auf den Sender.«

»Einverstanden«, nickte Ulbricht und machte Anstalten zu gehen.

Sein Assistent verharrte. »Frau Göbel …«, sagte er. »Ich hätte sie gern gesprochen.« Er klang plötzlich ziemlich sicher und selbstbewusst.

Eckhardt erhob sich, trat an die große Scheibe, die sein Büro vom Rest der Redaktion trennte, und blickte sich suchend um. »Noch nicht da«, erwiderte er. »Ich glaube, sie hat Spätschicht.« Dann blickte er Bock an. »Außerdem richtet sie heute das Casting in der Villa Media aus. Ich glaube nicht, dass sie Zeit hat, um …« Er brach lächelnd ab.

Jupp Bock ließ sich von Eckhardt einen Zettel und einen Stift geben und kritzelte eine Nummer darauf. »Sie soll mich mal anrufen, wenn Sie da ist. Es geht um eine Festnahme im Mordfall Tim Heiger.«

Eckhardt blickte ihn fragend an.

»Ihre Reporterin war mit der verdächtigen Person unmittelbar vor der Festnahme zusammen. Da besteht Klärungsbedarf.« Jetzt folgte er seinem Vorgesetzten. In der offenen Tür wandte er sich noch ein letztes Mal um. »Zu Hause haben wir sie nicht angetroffen.« Dann zog er die Tür hinter sich zu.

Eckhardt nippte nachdenklich an seinem Kaffee und starrte auf die verschlossene Bürotür, durch die die beide Beamten eben verschwunden waren. Was hatte Heike Göbel ihm da nur wieder für ein Ei ins Nest gelegt?

* * *

Heike hatte es nicht leicht an diesem Morgen.

Ihr Schädel dröhnte, der Magen rebellierte und sie fühlte sich gar nicht gut. Mit einem Stöhnen auf den Lippen erhob sie sich. Die Sonne drang durch die Spalten der Lamellenvorhänge im Schlafzimmer. Ein Blick auf den Wecker verriet ihr, dass es kurz nach neun Uhr war. Heute sollte das Casting stattfinden.

»Oh nein«, stöhnte sie. »Wie soll ich das bloß überstehen? Sie blickte sich im Bett um. Die andere Betthälfte war zerwühlt, aber verlassen. Dann hörte sie Stefan in der Küche herumhantieren.

Schwerfällig stand sie auf. Bloß nicht zu schnell bewegen, mahnte sie sich. Der erste Weg führte ins Bad. Als sie ihr Gesicht im Spiegel betrachtete, erschrak sie. Dunkle Ringe unter den Augen kündeten von der durchzechten Nacht mit Henrike Jochims. Sie verschwand unter der Dusche und machte Wechselbäder mit heißem und kaltem Wasser, um ihren Kreislauf in Schwung zu bringen. Unter den prasselnden Wasserstrahlen kehrten die Lebensgeister in ihren Körper zurück.

Halbwegs munter betrat sie die Küche. Stefan hatte das Radio eingeschaltet - natürlich lief das Programm der Wupperwelle - und sang laut aber falsch mit. Den Frühstückstisch hatte er bereits gedeckt. Es duftete nach geröstetem Toast und frischem Kaffee.

»Guten Morgen, mein Liebling«, begrüßte er sie, sichtlich erfreut, als sie im Türrahmen stand, nur mit seinem viel zu großen Morgenmantel bekleidet. Er kam auf sie zu, schloss sie in die Arme und küsste sie. »Na«, sagte er, nachdem sich ihre Lippen voneinander gelöst hatten. »Wieder unter den Lebenden?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Du solltest öfters trainieren, bevor du dich in eine solche Trinkorgie begibst«, riet er ihr lächelnd und rückte ihr einen Küchenstuhl zurecht.

»Nicht so laut«, bat sie. Ihr Schädel brummte.

Er drehte das Radio leiser.

»Ich bin wirklich nichts gewöhnt.« Heike löste sich von ihm und ließ sich am Küchentisch nieder. Sie stützte den Kopf in die Hände und blickte ins Leere. »So viel war das doch gar nicht…«

»Kaffee?«

Ein zaghaftes Nicken. »Mein Gott… so viel Wein habe ich eigentlich gar nicht getrunken.«

»Was war denn da gestern los?« Er schenkte Kaffee ein und ließ sich ihr gegenüber nieder. Der Toaster spuckte zwei geröstete Brotscheiben aus. Er reichte ihr einen Toast, nahm sich den zweiten und schmierte Marmelade darauf. »Nun erzähl mal.«

Sie griff nach dem Kaffee, pustete in die Tasse und trank. Dann blickte sie zu ihm hinüber. »Im Wein liegt ja bekanntlich die Wahrheit. Und je mehr Henrike Jochims trank, desto mehr Wahrheit kam ans Licht. Der Knaller ist, dass sie behauptet, ihr Mann hätte keinen Selbstmord begangen.«

»Das würde bedeuten, dass …« Stefan konnte es nicht glauben.

»Dass jemand nachgeholfen hat, ja«, vollendete Heike den von ihm begonnenen Satz. »Sie glaubt nicht, dass er so labil war, sich das Leben zu nehmen, nur, weil sie einen Liebhaber hatte.«

»Wie ist er denn gestorben?« Stefan biss in seinen Toast.

»Angeblich an einer Überdosis Schlaftabletten.«         

»Warum angeblich?«

»Wie Henrike Jochims mir erzählte, verfügte ihr Mann über einen äußerst gesunden Schlaf. Sie übrigens auch. Im Hause der Jochims gab es infolgedessen keine Schlaftabletten.«

»Die kann man sich aber in jeder Apotheke besorgen«, entgegnete Stefan kauend. »Wer die Absicht hat, sich selbst zu töten, wählt häufig die sanfte Methode des Einschlafens. Und Schlaftabletten fallen nicht unter das Betäubungsmittelgesetz, wenn ich mich nicht irre.«

Er massierte sich das Kinn und dachte nach. Stefan erinnerte sich an eine Studie, die er einmal gelesen hatte. Suizid-Kandidaten wählten unterschiedliche Arten, ihrem Leben ein Ende zu bereiten. Demnach wählten Männer eher die spektakuläreren Arten, um aus dem Leben zu scheiden. Sie fuhren mit dem Auto gegen einen Brückenpfeiler, sprangen von Brücken oder warfen sich vor Züge, während Frauen die weniger gewalttätigen Methoden des Selbstmordes wählten. Ein Großteil der Frauen tötete sich durch Gift. Etwas passte hier nicht, das spürte er. »Wie kommt die Witwe also darauf, dass beim Tod ihres Mannes jemand nachgeholfen haben könnte?«

»Sie hat ihn in der Wohnung gefunden, als er schon tot war. Er lag im Schlafzimmer, neben dem Ehebett. Und es roch stark nach Knoblauch.«

»Vermutlich hat er sich vorher noch mal ein richtig gutes Gyros gegönnt«, versuchte Stefan einen Scherz. »Das ist noch lange kein Grund, einen Suizid anzuzweifeln.«

»Es stank penetrant nach Knoblauch«, wiederholte Heike unbeirrt. »Ihr Mann hasste aber alles, was nur entfernt nach Knoblauch roch oder schmeckte. Mehrmals hatten sie deshalb Streit. Immer, wenn sie kochte, war er sehr misstrauisch und reagierte cholerisch, sobald sie ein Essen mit Knoblauch zubereitete.«

Das Telefon klingelte. Stefan erhob sich mit einem Seufzen.

»Ich bin's, Peer Finke.«

Stefan begrüßte den freien Journalisten. »Sehen wir uns später beim Casting?«, fragte er dann.

»Ja … allerdings ist mir soeben eine sehr interessante Pressemitteilung auf den Tisch geflattert.« Peers Stimme klang euphorisch. »Das dürfte dich interessieren. Es geht um den Lehrer, der Selbstmord begangen hat. Angeblich.« Peer kicherte am anderen Ende der Leitung.

»Hat er nicht?« Stefan traute seinen Ohren kaum. Offenbar war der tote Lehrer heute Morgen Gesprächsthema Nummer eins im Tal.

»Hat er nicht«, stimmte Peer Finke zu. Man hat ihn in die Gerichtsmedizin nach Düsseldorf gebracht, wo seine Leiche obduziert wurde. Das ist Routine nach einem Selbstmord. Die Toxikologen sind auch tatsächlich fündig geworden. Hansjürgen Jochims starb offensichtlich nicht an den Schlaftabletten. Man fand Spuren von Arsen in seinem Körper.«

Stefans überlegte. Vor Ewigkeiten hatte er einmal ein Seminar über Toxikologie besucht. Wie war das noch gewesen? Arsen riecht nach Knoblauch, erinnerte er sich. »Gibt es einen Tatverdächtigen?«

»Ja, seine Frau … Henrike Jochims.«

Stefan zuckte unmerklich zusammen. »Die eigene Frau?« Es würde passen. Die Art des Mordes würde eher zu einer Frau passen.

»Ja, man sucht jetzt nach einem Motiv. Ein Alibi für die Tatzeit hat sie nämlich nicht. Und da es in ihrer Ehe kriselte, steht sie ganz oben auf der Liste der Verdächtigen. Sie hatte heute in den frühen Morgenstunden Besuch von der Kripo und sitzt seitdem in U-Haft.« Peer holte tief Luft. »Aber das ist nur die halbe Geschichte. Man will ihr nämlich auch den Mord an ihrem Exfreund, Tim Heiger, anlasten.«

Das war etwas zu einfach für Stefan. Eine enttäuschte Liebe, eine gescheiterte Ehe. Eine unglückliche Dreiecksbeziehung sollte Schuld am Tod von zwei Menschen sein?: »Ich melde mich, wenn ich etwas Neues erfahre und hake sofort nach, wenn ich in der Redaktion bin«, versprach er Peer und legte auf. Etwas betreten kehrte er zu Heike in die Küche zurück. »Es sieht aus, als hätte Henrike Jochims Recht gehabt.«

»Kein Selbstmord?« Heike schüttete sich Kaffee nach.

»Kein Selbstmord. Er wurde ermordet. Und Henrike Jochims unter Mordverdacht verhaftet.«