2. Kapitel

Und das war der Sommerhit des letzten Jahres, das war Aisha von Outlandish. Sie hören die ›Nachtschicht‹, schönen guten Abend, ich bin Stefan Seiler.«

Stefan Seiler zog einen Regler auf, setzte den Kopfhörer ab, lüftete das Baseballcape und fuhr sich durch die kurzen, braunen Haare. Er stand vom Drehstuhl hinter dem Mischpult auf - ihm blieben dreieinhalb Minuten Zeit, ehe er den nächsten Titel starten musste - und wanderte durch das gläserne Studio. In der benachbarten Redaktion war nur noch ein einziger Arbeitsplatz beleuchtet - der in der Nachrichtenredaktion. Dort saß heute Heike Göbel, seine Freundin und Kollegin. Ein Nachrichtenredakteur war ausgefallen und Heike hatte sich bereit erklärt, den Nachtdienst in der Nachrichtenredaktion zu übernehmen. Dass sie bei dieser Gelegenheit mit Stefan zusammenarbeitete, war ein angenehmer Nebeneffekt, wie sie fand. Heike saß mit dem Rücken zu ihm, doch jetzt sprang sie von ihrem Schreibtisch auf, wandte sich zu ihm um und winkte aufgeregt. Eilig huschte sie zum Studio, sah, dass die rote On Air-Lampe über der Tür nicht brannte, und kam hereingestürzt. 

»Es gibt einen Mord«, sprudelte es aus ihr heraus.

Er nahm sie in den Arm und drückte sie an sich.

»Stefan - bitte«, mahnte sie ihn.

»Schon gut«, nickte er. »Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps.«

»Das hier wird dich wirklich interessieren!« Heike wedelte mit einem weißen DIN-A4-Blatt herum. »Das kam gerade aus dem Polizeipräsidium.«

»Erzähl«, forderte Stefan sie auf und ließ sich auf dem Stuhl hinter den Reglern nieder. Mit gespannter Miene musterte er sie. Heike war etwas kleiner als er, von zierlicher Statur, trug die blonden Haare modisch kurz, geradezu keck. Ihre großen, blauen Augen funkelten aufgeregt, und jede Nachtschicht-Müdigkeit war aus ihrem gleichmäßig geschnittenen Gesicht wie weggewischt. Ihre Wangen glühten rot vor Aufregung, daran konnte auch das dezente Make-up nichts ändern.

»Jemand wurde erschossen. Vor einer Stunde, an der Wesendonkstraße.«

Stefan schob die Unterlippe vor. »Ein Dealer? Ein Zuhälter?«

»Viel besser - da kommst du nie drauf!«

»Heike, Schatz, mach es nicht so spannend, die Musik ist gleich zu Ende.« Stefan deutete auf den CD-Player.

»Ein ziemlich bekannter Schauspieler wurde auf offener Straße erschossen, mit einem gezielten Schuss ins Herz.«

Nervös trommelte Stefan auf dem Mischpult herum. Er rollte mit den Augen.

»Sagt dir der Name Tim Heiger etwas?«

»Nein …« Stefan war überrascht. Er stockte, glaubte, sich verhört zu haben. »Das heißt: Natürlich sagt mir der Name etwas, klar. Aber … Tim Heiger nachts in der Wesendonkstraße?« Er wiegte den Kopf. »Was treibt der nachts in dieser Gegend?«

»Sein Manager hatte ihm dort ein Hotelzimmer besorgt, weil in den nächsten Tagen die Dreharbeiten zum neuen Film Wuppertod von Mark Tickmann hier im Tal beginnen sollen.«

Mehrfach hatte die Wupperwelle über das Filmprojekt berichtet. Nachdem man in Städten wie Berlin, München und Köln so ziemlich jede Straßenecke, jeden Hinterhof und jedes markante Gebäude mehrfach abgedreht hatte, mauserte sich Wuppertal seit einiger Zeit zur Filmstadt.

Tickmanns neuestes Werk sollte also wieder einmal in seiner Heimatstadt, hier in Wuppertal spielen. Dafür hatte der Regisseur einige namhafte Filmgrößen unter Vertrag genommen. So auch Tim Heiger.

»Das ist ja heiß«, staunte Stefan und pfiff. Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Jetzt ist Heiger also wuppertot. Makaber, was? Heike, mach schnell eine Meldung fertig, die wir im laufenden Programm unterbringen.«

Sie lächelte ihn charmant aus ihren blauen Augen an und beugte sich zu ihm hinab, um ihm einen Kuss auf die Stirn zu hauchen. Dann zeigte sie ihm das DIN-A4-Blatt. »Schon geschehen. Kannst es sofort reinnehmen.«

Er ergriff den Zettel, überflog den Text und nickte. Heike und er waren ein eingespieltes Team. Sie saß bereits auf dem zweiten Studiostuhl, dem des Nachrichtensprechers, und machte Kopfhörer und Mikrofon bereit.

Er warf einen Blick auf das Display des CD-Racks, setzte sich den Kopfhörer auf, räusperte sich ein letztes Mal und gab Heike ein Zeichen. Dann zog er den Regler herunter und schaltete die Mikros frei.

»Sie hören die ›Nachtschicht‹ hier auf der Wupperwelle, ich bin Stefan Seiler.« Kurze Pause. »Wie wir gerade erfahren haben, gab es vor einer Stunde einen kaltblütigen Mord hier bei uns im Tal. Bei mir im Studio ist jetzt Heike Göbel aus der Nachrichtenredaktion.« Er blickte zu ihr hinüber. »Heike«, sprach er sie dann an. »Was ist da geschehen?«

»Ja, Stefan«, nahm Heike den Faden auf. »Wie uns das Polizeipräsidium soeben meldet, gab es einen Mordanschlag in der Nähe der Elberfelder Wesendonkstraße. Das Mordopfer dürfte uns allen bekannt sein - es handelt sich um den Schauspieler Tim Heiger.«

»Wie wir mehrfach berichtet haben, sollte Heiger ja eine Hauptrolle im neuen Film von Mark Tickmann spielen.«

»Ja, Stefan. Die Dreharbeiten zum Film Wuppertod sollten in den nächsten Tagen beginnen. Aus diesem Grunde war Heiger heute Nacht aus Berlin angereist, wo er noch am Mittag für Aufnahmen in den Babelsberger Filmstudios vor der Kamera stand. Offenbar war er auf dem Weg in sein Hotel, als er von einem bislang unbekannten Täter mit einem gezielten Schuss ins Herz getötet wurde. Tim Heiger war anscheinend auf der Stelle tot. Gefunden wurde er von Passanten aus einer benachbarten Gaststätte.«

»Du sagtest, der Täter sei unerkannt entkommen. Gibt es schon einen Hinweis auf den Mörder oder das Mordmotiv?«

»Nein, Stefan. Die Polizei tappt noch völlig im Dunkeln, aber die Ermittlungen der Kripo laufen auf Hochtouren.«

»Danke, Heike, für die ersten Infos zum Mord am Schauspieler Tim Heiger. Heiger wurde vor einer Stunde hier bei uns in Wuppertal erschossen.« Stefan machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr. »Wir halten Sie natürlich auf dem Laufenden. Und nun ein Hit aus der Achtzigern, hier kommen die Bangels mit Manie Monday.«

Er schloss das Mikro und startete die CD, die er noch während des Gespräches mit Heike eingelegt hatte. Sie konnten reden.

»Das ist zum Mäusemelken«, schimpfte Heike und setzte den Kopfhörer ab.

Stefan blickte seine Freundin verständnislos an. »Ich wusste gar nicht, dass du ein Fan von Tim Heiger bist, äh, warst.«

»Das ist es nicht. Ich mache seit einer Ewigkeit mal wieder die Nachrichten und ausgerechnet in dieser Nacht passiert etwas.« Sie schüttelte den blonden Bubikopf. »Ausgerechnet so etwas!«

»Ah«, entfuhr es Stefan Seiler. Er nickte verständnisvoll. »Ich kapiere: Es wurmt dich, dass du an deinen Schreibtisch gefesselt bist und nicht losziehen kannst, um vor Ort zu recherchieren.« Er lächelte. Heike liebte es, heiße Geschichten direkt an Ort und Stelle auszugraben.

»Eben«, nickte Heike und erhob sich seufzend. »Ich bin sicher, dass sich Kommissar Verdammt hoch erfreut die Hände reibt, weil ich diesmal nicht am Ball bin.«

Kommissar Verdammt hieß eigentlich Norbert Ulbricht. Er war Kommissar bei der Wuppertaler Mordkommission und hatte bereits öfters - mehr oder weniger freiwillig - mit den Reportern der Wupperwelle zusammengearbeitet. Den Spitznamen hatte Ulbricht sich in Journalistenkreisen eingefangen, weil jedes zweite Wort aus seinem Mund »verdammt« war.

»Und - Heike?!«

Sie wandte sich in der offenen Studiotür zu ihm um. »Stefan?«

»Versuch mal, ob du jemanden von seinem Management erreichst.«

»Von … von Kommissar Verdammts Management?« Sie legte die Stirn in Falten und musterte Stefan wie einen Geisteskranken. »Hat der jetzt schon einen eigenen Manager?«

»Unsinn«, lachte er. »Heigers Management. Sein Agent, der ihm die Reise nach Wuppertal organisiert hat. Vielleicht gibt es so was wie eine offizielle Pressemitteilung.«

»Klar«, nickte Heike. »Das hatte ich gerade vor.«

Damit war sie aus dem Studio verschwunden und begann an ihrem Schreibtisch in der Nachrichtenredaktion mit der Arbeit. Stefan erwischte sich dabei, wie er ihr mit einem Lächeln auf den Lippen nachblickte.

* * *

Kommissar Ulbricht rieb sich die Hände. Er rauchte. Mal wieder viel zu viel. Schon vor Monaten hatte er sich das Rauchen abgewöhnen wollen. Vergeblich. Und noch etwas nervte ihn: Er fror.

Seine Laune war auf dem Tiefpunkt angelangt und die Zigarettenschachtel war auch schon wieder leer. Norbert Ulbricht knüllte die Schachtel zusammen und warf sie seufzend in den Fußraum des Fonds. Er schüttelte den Kopf.

»Warum immer ich?«, fragte Ulbricht sich halblaut und drückte die Kippe im Aschenbecher des Opel Omega aus. Er hockte vornüber gebeugt im Beifahrersitz seines Dienstwagens und starrte durch die Windschutzscheibe hinaus in die Nacht an der Wesendonkstraße. Jupp Bock lief wie ein aufgescheuchtes Huhn zwischen den uniformierten Kollegen herum und stand mehr im Weg herum, als dass er half. Er war eine Witzfigur - doch er war da, um Ulbricht zu unterstützen. Norbert Ulbricht schüttelte gelangweilt den Kopf. Aus dem Jungen würde nie etwas werden.         

Zahlreiche Streifenwagen waren auf der Bildfläche erschienen und hatten das Viertel großräumig abgesperrt. Blaulicht geisterte unwirklich durch die Nacht. Es war still geworden in der Straße - zu still für diese Gegend, wo sich oft lichtscheues Gesindel herumtrieb. Das Erscheinen der Polizei hatte einige Gestalten dazu bewegt, lieber das Feld zu räumen. Ab und zu hörte man verzerrte Stimmen aus den Funkgeräten der Polizisten.

Der Leichenwagen mit dem toten Tim Heiger war eben abgefahren und eigentlich gab es hier für Ulbricht nichts mehr zu tun. Die Jungs von der Spurensicherung machten ihre Arbeit. Uniformierte Polizisten nahmen die Zeugenaussagen auf. Dennoch blieb Ulbricht am Tatort. Er hoffte, dass es wenigstens eine heiße Spur gab. Doch nichts dergleichen zeichnete sich ab. Er hasste so etwas. Und es war eine Frage der Zeit, wann die ersten Journalisten hier auftauchten. Diesmal hatte er die Kollegen angewiesen, niemanden durchzulassen. Und neugierige Reporter schon mal gar nicht.

Mit einem Laut des Selbstbedauerns auf den Lippen erhob er sich schwerfällig aus dem Sitz und winkte seinen Assistenten heran. »Kommen Sie her, Bock«, rief er ihn herbei.

Jupp Bock war Anfang dreißig, dunkelblond und hatte eine blasse, fast wächserne Haut. Der Junge hatte sich vermutlich noch nie dem Sonnenlicht ausgesetzt, durchzuckte es Ulbricht. Woher sein Vorname stammte, wusste im Präsidium kein Mensch. Vermutlich ein Spitzname, als Abkürzung von Josef.

»Was gibt es Neues?«, fragte Ulbricht und versenkte die Hände in den Taschen seines ungebügelten Trenchcoats. Mit den ausgetretenen Hush Puppies und den verwaschenen Bundfaltenjeans aus den Achtzigern wirkte er wie Inspektor Columbo. Man sah schon an seinem Kleidungsstil, dass Norbert Ulbricht ein eingefleischter Junggeselle war.

»Tut mir Leid, Chef«, bedauerte Bock und zuckte die schmalen Schultern. »Die Spur des Täters verläuft sich im Sande.«

»Sch… schade«, bremste Ulbricht sich im letzten Moment. »Es muss doch einen Hinweis geben.«

»Wir haben Zeugen, die kurz zuvor ein Taxi beobachtet haben. Die Kollegen haben sich mit der Taxizentrale in Verbindung gesetzt. Dort kann man uns sagen, wann welcher Wagen hier in der Gegend unterwegs war. Vielleicht haben wir dann einen Hinweis.«

»Ein Taxifahrer, der seinen Fahrgast ermordet?« Ulbricht machte eine ausladende Handbewegung. »Hier?« Er schüttelte den Kopf. »Bock, wenn ich meinen prominenten Fahrgast - aus welchem Motiv auch immer - umbringen will, dann fahre ich mit ihm raus aus der Stadt, ins Grüne, wo mich niemand beobachten kann.«

»Zumindest hätten wir mit dem Fahrer einen Zeugen.«

»Ja«, nickte Ulbricht. »Oder so.« Er hatte es gewusst: Bock taugte zu nichts. Er war ein Klugscheißer.