19. Kapitel

Kennt Ihr eine Peggy?« Stefan schoss aus der Hüfte; er wollte den Überraschungseffekt an der Haustüre voll ausnutzen.

»Nein - sollten wir?«, fragte Erik Meyer. »Übrigens -Bemberg ist auf getaucht.« Meyer fuhr sich durch das kurz geschorene Blondhaar und machte den Eingang frei. Er ging durch den Korridor vor in Richtung Wohnzimmer. Dort roch es nach Cannabis.

Berti Anders hockte auf einem klapprigen Bürostuhl am Computer und klickte stupide auf einer Maus herum. Auf dem Monitor gab es bunte Bilder, offenbar ein neues Spiel. Die Klimpermusik schien Meyer zu nerven.

»Mach das aus«, herrschte er seinen Mitbewohner an und ließ sich auf dem knallroten Sitzsack nieder. Anders kam der Bitte mit einem Seufzen nach und begrüßte Heike und Stefan. An Heike haftete sein Blick etwas länger. Stefan und Heike blieben stehen.

»Bemberg sitzt«, erklärte Erik Meyer nun, nahm die Brille von der Nase und putzte sie am Stoff seines T-Shirts ab. »Die haben ihn eingebuchtet, die Bullenschweine.«

»Er hat auf Kathrin Jungmann geschossen«, sagte Stefan.

»Ich hörte davon.« Meyer drehte sich einen Joint. »Auch eine Tüte?«, fragte er die Gäste. Stefan und Heike verneinten.

»Was wollt ihr?«

»Also«, kam Stefan auf den Beginn des Gespräches zurück. »Kennt ihr eine Peggy? Peggy Bach?«

»Nicht die Bohne«, brummte Meyer, paffte an seinem Joint und lehnte sich entspannt zurück. Beinahe wäre er rückwärts von seinem Sitzsack gerutscht. Ein würziger Duft breitete sich im Wohnzimmer aus.

Heike rümpfte die Nase.

»Sie betreibt eine Apotheke in Ronsdorf«, half Stefan den Studenten auf die Sprünge. Täuschte er sich, oder lag da ein nervöses Zucken in Meyers Augenwinkeln?

Der blonde Hüne tauschte einen Blick mit Berti Anders. »Meinetwegen«, sagte er dann gleichgültig. »Warum sollte ich sie kennen?«

»Die Einfahrt zum Hintereingang der Apotheke ist ziemlich eng«, sagte Stefan nun. »Da hat sich schon manch einer den Wagen kaputtgefahren.« 

Das saß. Anders wurde tiefrot. Und auch Erik Meyers Wangenknochen mahlten. Er nahm den Joint aus dem Mundwinkel und zerdrückte den Rest im Aschenbecher, der auf dem Glastisch stand und schon fast überquoll.

»Was soll das?« Meyer entschied sich für die Offensive. »Du redest wie ein Bulle.« Seine Augen versprühten Funken.

»Ist ja auch egal«, brummte Stefan grinsend. »Jedenfalls hat man in Peggy Bachs Apotheke eingebrochen und einige Medikamente gestohlen, darunter ein sehr giftiges Mittel. Ein tödliches Mittel, sozusagen.«

Meyer sprang auf und blaffte Stefan an: »Was soll das Affentheater? Bezichtigst du uns eines Einbruchs? Du quatschst wie ein Bulle. Sei bloß vorsichtig!«

»Das gebe ich gern zurück«, grinste Stefan unbeeindruckt. »Ihr solltet vorsichtig sein.« Dann wandte er sich Heike zu. »Komm, wir gehen.«

* * *

»Das war ziemlich wacklig eben«, rügte sie ihn, als sie unten auf der Straße standen.

Stefan winkte ab. »Ich habe mit offenen Karten gespielt und einige Fragen gestellt. Und so, wie diese Typen reagiert haben, stecken sie hinter dem Bruch. Offen gestanden, ich überlege, ob ich Kommissar Verdammt anrufen soll.«       

Seite an Seite gingen sie zum Käfer. Der Lack glänzte wie eine Speckschwarte. Die Dämmerung hatte eingesetzt. »Da gibt es nichts zu überlegen«, erwiderte Heike. »Die Studenten haben so viel Dreck am Stecken, das geht schon auf keine Kuhhaut mehr.«

»Ich kann sie nicht nach ihrem Alibi befragen und ich kann sie auch nicht verhaften«, lächelte Stefan und schloss seinen VW-Käfer auf. Sie sanken in die Sitze.

»Jedenfalls hast du sie aufgescheucht. Jetzt gibt es kein Zurück mehr, Stefan. Wir müssen die Polizei informieren.«

Er nickte. »Vermutlich hast du Recht. Die Spurensicherung sollte sich Meyers alten VW-Bus ansehen. Sie wird die Scherben des Rückglases schon zuordnen können und Meyer nach einem Alibi zum Einbruchzeitpunkt befragen.« Stefan nickte eicht mit dem Kopf. »Das ist für uns eine Nummer zu groß.«

»Genau. Jetzt ist Kommissar Verdammt am Zug«, stimmte Heike ihm zu. »Immerhin haben wir ihm den Weg bereitet.« Sie lachte. »Das kennt er ja so von uns.«

»Und unser Vorsprung bringt ihn jedes Mal auf die Palme«, lachte Stefan und startete den Motor. »Fehlt nur noch ein Glied in der Kette - die Verbindung zwischen dem Arsendiebstahl und dem Tod von Hansjürgen Jochims. Was iat das eine mit dem anderen zu tun?«

Heike zuckte die Schultern. Die Ampel am Wichlinghauser Markt stand auf Rot und so nutzte sie die Chance, sich zu Stefan hinüberzubeugen und ihn zu küssen. »Die Fäden nüssen nur noch richtig verbunden werden«, sagte sie dann. ›Es scheint, als wäre hier einiges ziemlich verworren. Der Mord an Tim Heiger und der Anschlag auf Lars Gemmering gehen also auf das Konto von Bemberg, einem Psychopathen. Zwei Mitbewohner seiner Studenten-WG brechen in eine Apotheke ein und entwenden Arsen. Schwarzmarktwert?« Sie pustete die Luft aus. »Keine Ahnung, was Arsen bringt - wenn es das Zeug überhaupt illegal zu kaufen gibt.«

Die Ampel war umgesprungen, Stefan legte den Gang ein, bog nach rechts ab und lenkte den Käfer die Wichlinghauser Straße hinunter. »Was wollen zwei Elektrostudenten mit Arsen?«, fragte er und warf ihr einen raschen Seitenblick zu. Dann schlug er sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Ich hab's«, sagte er aufgeregt. »Ich habe dir doch von meinem ersten Besuch bei den Studenten erzählt.«

»Ja - und?«

»Nun, ich wurde doch zufällig Zeuge einer etwas fragwürdigen Diskussion. Da war die Rede von einer Chefin und von lukrativen Aufträgen.«

»Stellt sich nur die Frage, wer diese geheimnisvolle Chefin ist«, überlegte Heike und nagte auf der Unterlippe.

»Für sachdienliche Hinweise wäre Ihnen jede Polizeidienststelle sehr dankbar«, erwiderte Stefan mit säuerlicher Miene. Vor dem Eisenbahnviadukt drosselte er das Tempo auf knapp dreißig Stundenkilometer, da der Starenkasten vor der Schule in seine Richtung zeigte. Danach beschleunigte er ein wenig, um den Käfer schließlich an der Einmündung auf die Berliner Straße ausrollen zu lassen. »Also nehmen wir unsere Hausaufgaben mit nach Hause. Und morgen geht es weiter.«

»Egal, ich habe Hunger«, sagte Heike nun und massierte sich den Magen. »Lass uns Feierabend machen für heute.«

* * *

An diesem Abend war Michaela Heiger-Burbach lange wach. Sie fand einfach keine Ruhe, und so genoss sie eine laue Sommernacht auf der Terrasse ihres Hauses am Rand von Cronenberg. Sie stand mit einem Glas Wein auf der Veranda und blickte hinauf in den sternklaren Nachthimmel. Alles könnte so schön sein, wenn da nicht diese Affäre wäre, die schwer auf ihren Schultern lastete. Sie schürzte die Lippen. Ein nachdenkliches Lächeln lag auf ihrem Gesicht, als sie an Dirk dachte. Er war ein guter Anwalt. Als Ehemann war er nicht ganz so gut - immer wieder vergaß er seine Ehefrau und vernachlässigte sie für den Job, für den Sport und für seine Freunde. Irgendwann hatte ein Freund sie angerufen und ihr gesteckt, dass Dirk eine andere hatte. Sie hatte sich wie vor den Kopf gestoßen gefühlt, als sie diesen Hinweis erhielt.

Angeblich hatte man ihn eng umschlungen in Düsseldorf auf der Kö gesehen - leider nicht mit ihr, sondern mit einer dunkelhaarigen Schönheit.

Dirk hatte also ein Verhältnis, eine Affäre mit einer anderen Frau.

Nie zuvor hatte Michaela Heiger-Burbach sich so erniedrigt gefühlt. Er hatte sie belogen und betrogen. Noch am gleichen Tag hatte sie ihren Mann zur Rede gestellt, hatte gefragt, was denn dran sei an den Gerüchten. Er hatte gelacht und alles abgestritten. Niemals sei er in Düsseldorf gewesen. Er hatte hoch und heilig geschworen, sie, und nur sie, zu lieben. Und offenbar hatte er seine Rolle gut gespielt, denn sie hatte ihm geglaubt. Bis zu dem Tage, als das Knöllchen aus der Landeshauptstadt gekommen war. Dirk hatte bei seiner Stippvisite in Düsseldorf falsch geparkt und prompt ein Knöllchen bekommen.

Doch so sehr er auch ihre Vorwürfe abstritt, hatte er sich doch von Tag zu Tag mehr verändert. Er schien Geheimnisse vor ihr zu haben, oft telefonierte er noch spät abends in seinem Heimbüro bei geschlossener Türe. Mit einem Mandanten, wie er beteuerte. Auch die Tatsache, dass er in letzter Zeit ziemlich oft mit seinem Handy herumhantierte und SMS schrieb, war ihr keineswegs verborgen geblieben.

Michaela Heiger-Burbach war von Rachegedanken wie besessen gewesen. Sie wollte sich Hals über Kopf in eine Affäre stürzen, mit dem nächstbesten Mann ins Bett gehen, nur um Dirk alles heimzuzahlen. Doch das entsprach nicht ihrer Natur.

Sie war eine treue Seele, anhänglich und häuslich.

Und nun so etwas.

Allein der Gedanke an das Erlebte ließ Tränen in ihre Augen steigen. Mit einem einzigen großen Schluck leerte sie das Weinglas, schnürte den Gürtel ihres Morgenmantels enger und spürte bereits die Wirkung des Alkohols. Sie wollte vergessen. Und sie wollte vergeben. Sie wollte ihn einfach nicht verlieren, nicht hergeben. Nicht abgeben an eine andere Frau. Sie war eine starke Frau. Und die Datei, die sie im Computer ihres Mannes geöffnet hatte, sprach eine eindeutige Sprache. Jemand versuchte, ihn zu erpressen.

Es ging um die Scheidung des Regisseurs Mark Tickmann.

Schon damals war dreckige Wäsche gewaschen worden, leider nicht nur in der Presse. Michaela Heiger-Burbach betrat das Wohnzimmer durch die offene Glasfront, ging zur Hausbar und schenkte sich neuen Wein ein. In Gedanken schmiedete sie einen Plan, wollte endlich alles ins Reine bringen. Sie würde um Dirk kämpfen.

Und da kam ihr Stefan Seiler in den Sinn, der Radioreporter.

Er hatte sich des Falles angenommen, hatte sich für den Anschlag auf Dirk Burbach interessiert, war sogar mitten in der Nacht hergekommen, um ihr zuzuhören. Ein fast wehmütiges Lächeln erhellte ihr Gesicht. Der junge Radiomann sah gut aus, obwohl er kein Schönling war. Und er hatte die Fähigkeit zuzuhören.

Was redete sie sich da nur ein?

Sie war sicherlich ein paar Jahre älter als er. Dennoch hatte sie das Funkeln in seinen Augen gesehen. Hatte er Interesse an ihr?

Sie konnte sich gut vorstellen, mit ihm eine heiße Affäre zu beginnen. Sie schüttelte nachdenklich den Kopf und ging wieder hinaus in die laue Nacht. Während sie von ihrem Wein nippte, kreisten ihre Gedanken um Stefan Seiler. Sollte sie ihn ansprechen? Sollte sie versuchen, ein Verhältnis mit ihm zu beginnen?

»Nein«, sagte sie schließlich leise zu sich selbst. »Ich habe es gar nicht nötig, meinen Marktwert zu testen, nur, weil ich siebenunddreißig Jahre alt bin.« Mit einem Lächeln auf den sinnlichen Lippen dachte sie an Dirk. Er pflegte zu sagen, dass der Mann, der sie nicht toll finden würde, homosexuell sein müsse. Sie sah blendend aus, das sagte er ihr immer wieder. Liebte Dirk sie noch?

Warum vernachlässigte er sie dann?

Ein Bleigürtel legte sich um ihre Brust. Sie schloss die Augen, ging ins Haus zurück, leerte im Wohnzimmer das Glas mit einem weiteren Schluck und stellte es auf dem Tisch ab. Dann ging sie ins Bad, streifte den Morgenmantel vom Körper und betrachtete sich nackt im Spiegel. Ja, vermutlich hatte Dirk Recht: Sie war durchaus zufrieden mit ihrem Aussehen. Ihre Hände glitten über ihren Körper. Der Bauch war straff, die Hüften in Ordnung. Auch die Zellulitis hielt sich in Grenzen. Die Brüste waren fest. 75 B, nicht zu viel und nicht zu wenig. Sie hatte eigentlich keinen Grund, mit sich unzufrieden zu sein. Gut, gegen die ersten Fältchen konnte man mit Cremes kämpfen. Nein, sie fand sich okay.

Michaela Heiger-Burbach zuckte erschrocken zusammen, als draußen das Telefon anschlug. Eilig zog sie den Morgenmantel über und rannte ins Wohnzimmer.

»Hallo?« Ihre Stimme zitterte noch leicht.

Im Hörer herrschte Stille, dann vernahm sie ein Keuchen.

»Hallo - wer ist denn da?«, rief sie mit schriller Stimme ins Telefon.

»Frau Heiger-Burbach?« Es war eine männliche Stimme, eine junge männliche Stimme.

»Wer sind Sie?«

»Mein Name ist Meyer, aber das tut nichts zur Sache. Sind Sie alleine?«

»Was geht Sie das an?« In ihr schlug eine Alarmglocke an. Nach den Zwischenfällen der letzten Tage war sie sehr wachsam geworden.

»Ich muss Sie sprechen, Frau Heiger-Burbach. Es ist an der Zeit, reinen Tisch zu machen. Können wir uns sehen? Es geht um Ihren Mann. Es ist zu viel geschehen. Dinge, die nicht hätten geschehen dürfen.«

»Allerdings«, nickte sie und war bemüht, ihrer Stimme einen selbstsicheren Klang zu verleihen. »Woher kennen Sie mich?«

»Ich war an dem brutalen Überfall auf Ihren Mann beteiligt. Und …«, er machte eine Pause, »es tut mir Leid.«

Sie wusste nicht, woran es lag. Da war etwas in seiner Stimme, das einfach ehrlich klang. Das Bedauern war echt. Ein Timbre, eine Nuance, die ihr signalisierte, dass es der Anrufer ernst meinte. »Sie … Sie haben meinen Mann zusammengeschlagen? «

»Nun …«, stammelte er. »Ja, ich war mit dabei. Und wie gesagt - es tut mir sehr Leid. Deshalb ist es an der Zeit, dass ich mit offenen Karten spiele.«

»Immer zu«, sagte die blonde Frau und gewann sichtlich die Oberhand in dem Telefonat. Ihr Herz raste. »Schießen Sie los!«

»Nein«, rief der Anrufer. »Nicht am Telefon … bitte!« Er klang flehend. »Wir sollten uns treffen, und zwar noch bevor Ihr Mann aus dem Krankenhaus entlassen wird. Gerne auch an einem neutralen Ort.«      

»Gut«, erwiderte sie nach einigem Zögern. »Morgen können wir uns sehen. Bitte haben Sie Verständnis dafür, wenn ich das Haus jetzt nicht mehr verlassen möchte.«

»Natürlich.« Eine Pause. »Dann melde ich mich morgen Vormittag bei Ihnen.« Es klickte am anderen Ende der Leitung, dann war die Verbindung unterbrochen. 

Draußen wurde ein Wagen angelassen. Es knatterte ohrenbetäubend, und das Motorengeräusch durchschnitt die idyllische Stille. Michaela Heiger-Burbach rannte zur großen Fensterfront und sah einen Kastenwagen, der sich entfernte.