15. Kapitel

Nie hätte sie gedacht, wie anstrengend es war, bei einem Casting in der Jury zu sitzen. Heike erwischte sich dabei, immer wieder verstohlene Blicke auf ihre Armbanduhr zu werfen. Inzwischen hatte sie sich ein bestimmtes Schema zurechtgelegt, wie sie die Bewerber beurteilen konnte. Dabei hatte sie sich an Tickmann gehalten, der neben ihr saß. An seiner Mimik konnte man leicht erkennen, ob er mit den Leistungen eines Probanten einverstanden war oder nicht.

»Ich brauche eine kleine Pause«, raunte ihr der Regisseur jetzt zu. Er erhob sich und bat um eine kleine Auszeit. »Eine Zigarettenlänge, mehr nicht«, fügte er hinzu, dann wandte er sich mit einem charmanten Lächeln an Heike. »Und?«, sagte er und friemelte umständlich eine Packung Marlboro aus der Hemdtasche. »Haben Sie schon einen Favoriten?«

»Zwei, um genau zu sein«, gab Heike zurück.

Seite an Seite gingen sie zum Ausgang. Im Foyer standen sie sich gegenüber. »Ich denke, die beiden sind genau der richtige Ersatz für Tim Heiger«, sagte Heike.

»Sie sind eine interessante Frau«, stellte Tickmann lächelnd fest und hielt ihr die Zigarettenpackung hin.

Heike schüttelte dankend den Kopf und atmete tief durch. »Danke«, erwiderte sie. Täuschte sie sich, oder flirtete der gut aussehende Regisseur mit ihr? »Und Sie sind ein Charmeur«, lächelte sie.

Er schwieg und paffte genießerisch den Rauch zur Decke. Dabei ließ er Heike nicht aus den Augen. »Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, professionell zu casten?«

»Nein«, lachte Heike. »Ich denke, ich bin beim Radio gut aufgehoben.« Sie dachte plötzlich an Stefan. Er hatte vorhin das Casting verlassen. »Ich muss mal kurz telefonieren«, entschuldigte sie sich und entging so einer neuen Flirtattacke von Mark Tickmann.

Er nickte. »Natürlich. Tun Sie sich keinen…« Der Regisseur wurde jäh unterbrochen, als zwei schwarz gekleidete Männer vom Wachdienst an ihnen vorüberrannten. Im gleichen Moment wurden im Nebenraum, wo die Bewerber warteten, Stimmen laut. »Was ist denn da …«

»Herr Tickmann, kommen Sie!« Heike hatte das Handy schon wieder in der Tasche verstaut und gab dem Regisseur ein Zeichen, ihr zu folgen. Zeitgleich erreichten sie den Nebenraum und sahen eben noch, wie sich zwei der jungen Männer prügelten. Im nächsten Moment ging der Sicherheitsdienst dazwischen und riss die Streithähne auseinander.

»Oh«, machte Heike, peinlich berührt und presste die Hand vor den Mund.

Tickmann blickte sich fragend zu ihr um. »Was - oh?«

»Das waren eigentlich meine beiden Favoriten beim Casting.«

* * *

»Heike - wir haben ihn!«

»Wir haben - wen?« Stefan klang völlig aufgelöst, als sie ihn am Telefon hatte.

»Unseren Stalker«, half er ihr. »Den Mörder von Heiger. Den Mann, der versucht hat, Gemmering abzuknallen.«

»Woher willst du das wissen?« Sie stand im Foyer der Villa Media. Draußen ging ein wahrer Platzregen nieder. Das Gewitter tobte genau über dem Gebäude des ehemaligen Schlachthofs. Dunkelheit hatte sich ausgebreitet, die Autos auf der Viehhofstraße fuhren nur Schritttempo. Ab und zu erhellte ein Blitz für Sekundenbruchteile die Weltuntergangsstimmung. Sie fröstelte, als sie durch die Fenster nach draußen blickte.

Mit wenigen Sätzen berichtete Stefan ihr, was er über Bemberg erfahren hatte. »Gernot Bemberg ist untergetaucht. Spurlos verschwunden, und die Mitbewohner der WG halten sich bedeckt. Sie rauchen Joints, weiß der Geier, wo sie das Zeug her haben, und offenbar haben die noch anderes auf dem Kerbholz. Und Bemberg scheint etwas … nun, abgedreht zu sein und will verhindern, dass Gemmering das Mädchen bekommt.«

»Das ist allerdings ein Hammer«, räumte Heike ein. »Wir müssen Kommissar Verdammt informieren.«

»Warte noch ein bisschen«, erwiderte Stefan.

»Warum?«

»Eine Frage bleibt noch offen: Hat sich Hansjürgen Jochims tatsächlich selbst umgebracht? Denk an die Arsenvergiftung, die das LKA nachgewiesen hat.«

Heike nickte. »Stimmt«, murmelte sie. »Aber ich glaube nicht, dass seine Frau da nachgeholfen hat. Sie bekommt ein Kind von Tim Heiger und hat andere Sorgen, als lebenslang hinter Gitter zu kommen.«

»Woher willst du das wissen?«

»Nenn es einfach mal weibliche Intuition«, erwiderte Heike.

Stefan stöhnte gequält auf. »Du bringst mich um den Verstand.«

Sie lachte. »Dito. Was hast du jetzt vor?«

»Ich bin unterwegs zu der Freundin von Gemmering.«

»Zu Kathrin Jungmann?«

»Joker, Schatz. Was macht das Casting?«

»Es geht hoch her. Gerade haben sich meine Favoriten geprügelt und sind jetzt aus dem Rennen.«

 

»Geht an diesem Filmprojekt eigentlich irgendwas glatt?«, stöhnte Stefan.

»Das frage ich mich auch.«

* * *

Bergische Schieferfassaden, weiße Tür- und Fensterrahmen sowie die typischen grünen Schlagläden bestimmten das Bild in Beyenburg.

Die kleinen Scheibenwischer des Käfers schwappten eifrig die Wassermassen beiseite, die gegen die Windschutzscheibe klatschten. Als Stefan vorbei am Mahnmal Kemna in Richtung Radevormwald fuhr, ließ er das hektische Großstadtleben hinter sich. Der Motor im Heck des Käfers blubberte zufrieden, als er das Gaspedal seines alten Gefährts tiefer durchtrat. In Ermangelung eines Gebläses hatte Stefan die Dreieckfenster aufgestellt, um ein Beschlagen der kleinen Scheiben zu verhindern. Vergeblich - und so wischte er in regelmäßigen Abständen den Beschlag mit einem Schwammkissen fort, um freie Sicht zu haben. Jemand hatte mal gesagt, dass Käferfahrer die freundlichsten Autofahrer der Welt seien: Sie würden stets winken, gerade bei schlechtem Wetter.

Sattes Grün der links und rechts ansteigenden Hügel bestimmten nun das Bild. Ab und zu überholte er einige eifrige Radfahrer, die sich von dem Regen nicht abhalten ließen. Dann lag linkerhand der Beyenburger Stausee. Dorfidylle am Rand der Großstadt. Die Regentropfen prasselten auf die Wasseroberfläche. Unbeeindruckt schien die Klosterkirche St. Maria Magdalena über den Schieferhäusern zu thronen. Bei Sonnenschein ein einmaliges Fotomotiv, dachte der Reporter.

Durch die Schwärmerei war Stefan so abgelenkt, dass er die richtige Abfahrt zur Beyenburger Freiheit verpasst hatte.

Er fluchte über sich selbst, bog an der nächsten Möglichkeit nach links ab und wendete, ohne die durchgezogene Linie vor der Verkehrsinsel zu beachten. Dann nahm er die erste Straße nach rechts und war wieder auf dem richtigen Weg. Die Straße führte steil bergan und der kleine Boxermotor hatte Mühe, das Tempo zu halten, das Stefan ihm abverlangte.

Am Obergraben, Am Untergraben, Beyenburger Furt - das waren die Straßennamen, die an ihm vorüberflogen. Stefan erinnerte sich lächelnd, dass die Straße Am Untergraben früher im Volksmund »Köttelsgasse« genannt worden war, weil entlang des Mühlengrabens einst hier die Fäkalien aus dem Obergraben abgeleitet worden waren. Das war mit dem Bau der Kanalisation im Jahr 1926 vorbei gewesen und nur wenige echte Beyenburger kannten noch die umgangssprachliche Bezeichnung der Straße.

Dann hatte er das kleine Schieferhaus erreicht, in dem Kathrin Jungmann lebte. Er parkte den Käfer direkt vor der Tür. Es war das Haus ihrer Eltern, in dem sie eine Etage bewohnte. Bevor er sich auf den Weg gemacht hatte, hatte er sein Kommen telefonisch angemeldet. Ein untersetzter Mann Ende vierzig öffnete ihm und betrachtete ihn misstrauisch.

»Mein Name ist Stefan Seiler, ich bin mit Ihrer Tochter Kathrin verabredet«, stellte er sich freundlich vor und setzte einfach mal voraus, dass es sich bei dem Hausherrn um Kathrins Vater handelte. Jungmanns Miene hellte sich ein wenig auf. »Radio, hm?«

»Richtig«, nickte Stefan. »Wupperwelle.«

»Ich kenne Ihre Stimme«, lächelte er. »Schön, einmal zu sehen, wie der Mann aussieht, dem die Stimme aus dem Radio gehört.«

»Ich hoffe, Sie sind nicht enttäuscht«, wagte Stefan einen Scherz.

Der Hausherr wandte sich um. »Kathrin, dein Besuch ist da«, rief er in Richtung der Treppe, die nach oben führte.

»Komme«, ertönte die Stimme der Studentin und kurz danach polterte sie eilig die Holztreppen herunter. Als sie Stefan sah, lächelte sie.    

»Ich geh dann mal nach dem Boot sehen«, brummte ihr Vater, nickte Stefan zu und verschwand von der Bildfläche.     

»Er ist Teilnehmer am legendären Drachenbootrennen auf dem Beyenburger Stausee«, erklärte sie, bat ihn herein und drückte die Haustür ins Schloss. Stefan hatte Probleme damit, sich den etwas aus den Fugen geratenen Vater einer Studentin im Drachenboot vorzustellen.

Sie lachte, als sie seine Miene sah und erklärte: »Er ist Techniker, kein Fahrer.« Sie deutete nach oben. »Kommen. Sie.«

Stefan folgte ihr ins obere Stockwerk. Hier führte sie ihn in eine Art kombiniertes Wohn- und Arbeitszimmer. Kathrin bot ihm einen Platz auf dem Sofa an, während sie sich den Bürostuhl vom Schreibtisch am Fenster heranzog.

»Es geht um Gernot Bemberg?«, fragte sie ohne weitere Umschweife. Stefan nickte. Unauffällig blickte er sich im Raum um. Bücher, Bücher und noch mal Bücher in den Regalen, ein kleiner Fernseher neben der Couch, eine kompakte Stereoanlage und einige Filmposter an den Wänden. Scheinbar war Kathrin Jungmann Leseratte und Filmfan gleichermaßen.

»Ja«, nickte Stefan erneut. »Bemberg soll Sie belästigt haben.«

»Allerdings.« Kathrins Blick glitt ins Leere. »Er war mir schon unheimlich. Er stellte mir nach, verfolgte mich auf Schritt und Tritt, gestand mir seine Liebe.«

»Doch Sie wollten nichts von ihm wissen?«

Kopfschütteln. »Natürlich nicht.« Sie tippte sich an die Stirn. »Er ist total irre. Ein Psychopath, wenn Sie mich fragen.«

»Wurde er jemals zudringlich? War er eine Gefahr für Sie?«

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Nicht für mich«, wisperte sie. »Aber für meinen Freund. Er hat versucht, ihn zu ermorden.«

Also doch. Jetzt hatte Stefan Gewissheit. Die junge Frau vor ihm, die gegen ihre Tränen ankämpfte, bestätigte seine Vermutungen. Er wollte sie fragen, woher sie das wisse, ob sie schon bei der Polizei gewesen war, ob sie wisse, wo Bemberg sich aufhält. Jede Menge Fragen schossen Stefan durch den Kopf, doch als er Kathrin Jungmann jetzt anblickte, wusste er, was er zunächst zu fragen hatte, wollte er überhaupt noch etwas von ihr erfahren. »Wie geht es Ihrem Freund jetzt?«

Ratlos schob sie die Unterlippe vor. »Rippenbrüche, eine Fraktur … ein gebrochener Arm.« Kathrin zuckte mit den schmalen Schultern. »Er wird es überleben. Aber welchen Sinn macht ein solcher Anschlag?« Sie starrte ihn an. »Was muss noch geschehen, um den Verrückten hinter Schloss und Riegel zu bringen?«

»Wie gut kannten Sie ihn?«, fragte Stefan vorsichtig weiter.

Kathrin strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und dachte nach. »Ich kannte ihn schon ziemlich gut. Ich weiß, dass er sich mit seinen Eltern verkracht hatte. Ich weiß, dass er mit zwei anderen Jungs von der Uni in einer WG lebt und ich weiß, dass diese Typen nicht ganz koscher sind.«

»Nicht ganz koscher?« Stefan wurde hellhörig.

»Ja. Sie waren in dunkle Geschäfte verwickelt, haben versucht, ihn einzuweihen und wollten ihn dazu bringen, bei ihnen mitzumachen.«

»Hat er mitgemacht?«

Schulterzucken. »Meines Wissens nach nicht, nein. Er war zu sehr von der Idee besessen, mich … mich …« Sie stockte, suchte nach der richtigen Beschreibung. »Er wollte mich heiraten und zur Mutter seiner Kinder machen.«

»Er schien langfristig zu denken«, brummte Stefan und grinste matt.

Kathrin schüttelte den Kopf. »Er war besessen von dem Gedanken, ich könnte ihn eines Tages lieben.«

»Stalking nennt man so etwas.«

Kopfnicken. »Ich war nicht sein einziges Opfer.«

»Ach?« Stefan richtete sich im Sofa auf.

»Er war auch besessen von der Idee, zu Tim Heiger eine Freundschaft aufzubauen.« Ihr Blick lag schwer auf ihm. »Er wollte die Freundschaft zu einem Schauspieler.« Jetzt lachte sie humorlos auf. »Irre, der Typ, was? Was sollte Heiger mit einem solchen Loser?«

»Wenn er auf ihren Freund geschossen hat, denken Sie, dass er auch Heiger auf dem Gewissen hat?« Vom Überfall auf Dirk Burbach, den Schwager des Schauspielers, sagte er nichts.

»Ich denke, das ist eine Nummer zu groß für ihn.«

»Warum? Stalker sind unberechenbar. Und alles deutet darauf hin, dass Bemberg ein Stalker ist. Kompromisslos und konsequent. Und genau das macht ihn so gefährlich.«

»Sie haben Recht.« Nachdenklich spielte sie mit ihren langen, blonden Haaren. »Er hat mir den Anschlag auf Lars selber gestanden.«

»Bitte?« Stefan traute seinen Ohren kaum.

»Er hat mir gestanden, dass er es gewesen ist, der auf meinen Freund geschossen hat.« Sie weinte lautlos, schniefte in ein Papiertaschentuch. »Ich sag's doch: Er ist total irre. Ein Verrückter, der ins Gefängnis gehört. Oder in eine geschlossene Anstalt.«

»Weiß die Polizei davon?«

»Natürlich, ich habe mich zwar schwer getan und lange mit mir gerungen, ob ich ihn wirklich anzeigen soll. Ich hatte einfach Angst, dass er Wind davon bekommen könnte und dann vielleicht sogar mir selbst gefährlich wird. Aber als ich mir dann vor Augen führte, was er meinem Freund angetan hat, bin ich doch zur Polizei gegangen. Bembergs Geständnis, von dem ich berichtete, sei zwar noch kein Beweis, aber natürlich würde man der Sache gewissenhaft nachgehen, sagte man mir auf der Wache. Mehr konnte ich nicht tun und bin wieder…«

Sie wurde jäh unterbrochen, als die Fensterscheibe mit einem berstenden Knall zu Bruch ging. Ein Scherbenregen flog durch das Zimmer. Stefan sprang auf, stieß Kathrin Jungmann unsanft von ihrem Stuhl und riss sie mit sich zu Boden. Er hatte die Situation sofort richtig eingeschätzt. Jemand hatte durch das Fenster auf sie geschossen. Kathrins gellender Schrei malträtierte sein Trommelfell. Ein feiner Blutfaden rann ihr Gesicht herunter. »Psst«, machte er und presste ihr eine Hand vor den Mund. »Er ist da.«