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Ich habe mit drei Jahren zu sprechen angefangen, und Reden ist nie meine Stärke gewesen. Wenn ein Fremder das Wort an mich richtete, antwortete ich mit Ja, Nein, Weiß nicht. Und wenn er hartnäckig war, gab ich ihm die Antwort, die er hören wollte. Warum muss man etwas noch aussprechen, wenn man es schon gedacht hat?

»Lorenzo, du bist wie eine Fettpflanze, du wächst, ohne zu stören, du brauchst nur einen Tropfen Wasser und ein bisschen Licht«, sagte mal ein altes Kindermädchen aus Caserta zu mir.

Um mich zum Spielen zu bringen, ließen meine Eltern Au-pair-Mädchen kommen. Doch ich spielte lieber allein. Ich machte die Tür zu und stellte mir vor, mein Zimmer wäre ein Würfel, der durch den leeren Raum fliegt.

Die Probleme fingen in der Grundschule an.

Ich habe nur wenige Erinnerungen an diese Zeit. Ich erinnere mich an die Namen meiner Lehrerinnen, an den Oleander auf dem Hof, die silbrigen Schalen voller dampfender Makkaroni in der Mensa. Und an die anderen.

Die anderen waren all jene, die nicht meine Mutter, mein Vater und meine Nonna Laura waren.

Wenn die anderen mich nicht in Ruhe ließen, wenn sie mir zu nahe kamen, stieg ein roter Strom meine Beine hoch, überschwemmte meinen Magen, floss bis in meine Fingerspitzen, und ich ballte die Fäuste und reagierte.

Als ich Giampaolo Tinari von der Mauer stieß und er mit dem Kopf auf den Beton fiel und die Wunde auf der Stirn genäht werden musste, haben sie zu Hause angerufen.

Im Lehrerzimmer sagte die Lehrerin zu meiner Mutter: »Er wirkt wie einer, der am Bahnhof steht und auf den Zug nach Hause wartet. Er stört niemanden. Doch wenn ein Mitschüler ihn ärgert, schreit er, läuft vor Wut rot an und wirft mit allem, was er zu fassen bekommt.« Die Lehrerin hatte verlegen zu Boden geschaut. »Manchmal macht er einem Angst. Ich weiß nicht … Ich würde Ihnen raten …«

Meine Mutter brachte mich zu Professor Masburger. »Du wirst sehen, er hilft vielen Kindern.«

»Wie lange muss ich denn da bleiben?«

»Eine Dreiviertelstunde. Zweimal in der Woche. In Ordnung?«

»Das geht ja«, sagte ich.

Wenn meine Mutter glaubte, so würde ich wie die anderen, war mir das recht. Alle, einschließlich meiner Mutter, sollten denken, dass ich normal war.

Nihal brachte mich hin. Eine dicke Sekretärin mit einem Parfüm, das nach Bonbons duftete, führte mich in ein Zimmer mit niedriger Decke, wo es feucht roch. Das Fenster ging auf eine graue Mauer hinaus. An den braunen Wänden hingen alte Schwarz-Weiß-Fotos von Rom.

»Liegen denn hier alle drauf, die Probleme haben?«, fragte ich Professor Masburger, als er auf eine gepolsterte Liege mit ausgebleichtem Brokatstoff zeigte.

»Gewiss. Alle. So spricht es sich leichter.«

Perfekt. Ich würde so tun, als wäre ich ein normales Kind mit Problemen. Es war nicht schwer, sie zu täuschen. Ich wusste genau, wie die anderen dachten, was ihnen gefiel und was sie sich wünschten. Und wenn das, was ich wusste, nicht genügte, würde diese Liege, auf der ich mich ausstreckte, wie ein warmer Körper, der Wärme auf einen kalten Körper überträgt, die Gedanken der Kinder, die vor mir hier gelegen hatten, auf mich übertragen.

Und so erzählte ich ihm von einem anderen Lorenzo. Einem Lorenzo, der sich schämte, mit den anderen zu sprechen, aber der wie die anderen sein wollte. Es gefiel mir, so zu tun, als würde ich die anderen mögen.

Wenige Wochen nach Beginn der Therapie hörte ich meine Eltern im Wohnzimmer leise reden. Ich ging ins Arbeitszimmer, nahm ein paar Bücher aus dem Regal und presste mein Ohr an die Wand.

»Was hat er denn nun?«, fragte Papa.

»Eine narzisstische Störung, hat er gesagt.«

»In welchem Sinn?«

»Er sagt, Lorenzo sei unfähig, Empathie für andere zu empfinden. Für ihn existiere nichts außerhalb seines emotionalen Kreises, nichts löse bei ihm etwas aus. Er glaube, außergewöhnlich zu sein und dass nur außergewöhnliche Menschen wie er selbst ihn verstehen könnten.«

»Weißt du, was ich denke? Dass dieser Masburger ein totaler Trottel ist. Mir ist noch nie ein Junge begegnet, der liebevoller ist als unser Sohn.«

»Das stimmt, aber er ist nur zu uns so, Francesco. Lorenzo denkt, wir seien außergewöhnliche Menschen, und betrachtet alle anderen als unter seinem Niveau.«

»Ist er ein Snob? Will der Professor uns das sagen?«

»Er sagt, er habe ein übergroßes Ego.«

Mein Vater fing an zu lachen. »Zum Glück. Stell dir nur vor, er hätte ein armseliges Ego. Es reicht, wir befreien ihn aus den Händen dieses unfähigen Professors, bevor er ihn wirklich durcheinanderbringt. Lorenzo ist ein normaler Junge.«

»Lorenzo ist ein normaler Junge«, wiederholte ich.

Mit der Zeit habe ich verstanden, wie ich mich in der Schule benehmen musste: mich abseits halten, aber nicht zu sehr, sonst fiel ich auf.

Ich war wie eine Sardine zwischen anderen Sardinen, tarnte mich wie ein dürres Insekt zwischen trockenen Zweigen. Und ich lernte, meine Wut zu kontrollieren. Ich entdeckte, dass ich einen Tank im Magen hatte, und wenn er voll war, ließ ich ihn durch die Beine abfließen, und die Wut endete in der Erde, drang ins Innere der Welt ein und verzehrte sich im ewigen Feuer.

Nun nervte mich niemand mehr.

In der Mittelstufe wurde ich aufs St. Joseph geschickt, eine englische Schule voller Kinder von Diplomaten, in Italien verliebter Künstler, vermögender amerikanischer und italienischer Manager, die sich das Schulgeld leisten konnten. Hier waren alle fehl am Platz. Sie sprachen unterschiedliche Sprachen und schienen auf der Durchreise. Die Mädchen blieben für sich, und die Jungen spielten auf einer großen Wiese vor der Schule Fußball. Mir ging es gut.

Doch meine Eltern waren nicht zufrieden. Ich musste Freunde haben.

Fußball ist ein schwachsinniges Spiel, alle rennen hinter einem Ball her, doch den anderen gefällt es. Wenn ich dieses Spiel lernte, war es geschafft. Ich würde Freunde haben.

Ich nahm meinen Mut zusammen und stellte mich ins Tor, wo niemand reinwollte, und entdeckte, dass es gar nicht so übel war, es gegen gegnerische Angriffe zu verteidigen. Es gab da einen gewissen Angelo Stangoni, dem niemand den Ball abjagen konnte, wenn er ihn erst einmal hatte. Er tauchte blitzschnell vor dem Tor auf und hatte einen wahnsinnig starken Schuss. Eines Tages bringen sie ihn mit einem Tritt zu Fall. Elfmeter. Ich baue mich in der Mitte vom Tor auf. Er nimmt Anlauf.

Ich bin kein Mensch, sage ich mir, ich bin ein Gnuzzo, ein potthässliches und irrsinnig geschicktes Wesen, erzeugt in einem umbrischen Laboratorium, das nur eine einzige Aufgabe im Leben hat und dann in Ruhe sterben kann: die Erde gegen einen tödlichen Meteoriten verteidigen.

Und Stangoni schoss mit aller Kraft und zielte direkt auf die rechte Seite, und ich sprang, wie nur ein Gnuzzo springen kann, und streckte die Arme aus, und der Ball war in meinen Händen, und ich hatte ihn gehalten.

Ich erinnere mich, dass meine Kameraden mich umarmten, und das war schön, weil sie glaubten, ich wäre einer von ihnen.

Sie nahmen mich in die Mannschaft auf. Jetzt hatte ich Kameraden, die mich zu Hause anriefen. Meine Mutter meldete sich und freute sich, sagen zu können: »Lorenzo, es ist für dich.«

Ich sagte, ich ginge zu meinen Freunden, doch in Wirklichkeit versteckte ich mich bei meiner Nonna Laura. Sie lebte mit Pericle, einem alten Basset, und Olga, der russischen Pflegerin, in einer Dachwohnung in unserer Nähe. Wir verbrachten die Nachmittage damit, Canasta zu spielen. Sie trank Bloody Marys und ich Tomatensaft mit Pfeffer und Salz. Wir hatten einen Pakt geschlossen: Sie deckte meine Geschichte mit den Freunden, und ich erzählte nichts über die Bloody Marys.

Doch die Mittelstufe war bald vorbei, und mein Vater rief mich in sein Arbeitszimmer. Als ich im Sessel saß, sagte er zu mir: »Lorenzo, ich habe gedacht, es wird Zeit, dass du auf ein staatliches Gymnasium gehst. Es reicht mit diesen Privatschulen für Muttersöhnchen. Sag mal, magst du lieber Mathematik oder Geschichte?«

Ich warf einen Blick auf all seine dicken Bände über die alten Ägypter und die Babylonier, die ordentlich im Bücherregal aufgereiht standen. »Geschichte.«

Er gab mir einen zufriedenen Klaps. »Ausgezeichnet, alter Freund, wir haben den gleichen Geschmack. Du wirst sehen, das humanistische Gymnasium gefällt dir.«

Als ich am ersten Schultag vor dem staatlichen Gymnasium ankam, wäre ich fast ohnmächtig geworden.

Das war die Hölle auf Erden. Da waren Hunderte von Schülern. Es wirkte, als wollten alle zu einem Konzert. Einige waren sehr viel älter als ich. Sogar mit Bart. Die Mädchen mit Busen. Alle auf Mopeds, mit Skates. Manche rannten. Manche lachten. Manche schrien. Manche gingen in die Bar, manche kamen heraus. Einer kletterte auf einen Baum und hängte den Rucksack eines Mädchens an einen Ast, und die warf mit Steinen nach ihm.

Die Angst raubte mir den Atem. Ich lehnte mich gegen eine Mauer voller Kritzeleien und Zeichnungen.

Warum musste ich zur Schule gehen? Warum war die Welt so? Du wirst geboren, gehst zur Schule, arbeitest und stirbst. Wer hatte beschlossen, dass es so richtig war? Konnte man nicht anders leben? Wie die Urmenschen? Wie meine Nonna Laura, die als Kind von Lehrern, die zu ihr ins Haus kamen, unterrichtet worden war? Warum konnte ich es nicht auch so machen? Warum ließen sie mich nicht in Ruhe? Warum musste ich wie alle anderen sein? Warum konnte ich nicht für mich allein in den kanadischen Wäldern leben?

»Ich bin nicht wie sie. Ich habe ein übergroßes Ego«, flüsterte ich, während drei riesige Kerle, die sich untergehakt hatten, mich wegstießen, als wäre ich ein Kegel. »Verzieh dich, du Bazille.«

In Trance sah ich, wie meine Beine, die sich anfühlten, als wären sie aus Holz, mich ins Klassenzimmer trugen. Ich setzte mich in die zweitletzte Bank, ans Fenster, und versuchte mich unsichtbar zu machen.

Doch ich entdeckte, dass die Technik der Tarnung auf diesem feindlichen Planeten nicht funktionierte. Die Raubtiere in dieser Schule waren sehr viel höher entwickelt und aggressiver und bewegten sich in Rudeln. Jedes Stillsein, jedes abweichende Verhalten fiel sofort auf und wurde bestraft.

Sie hatten es auf mich abgesehen. Sie machten sich darüber lustig, wie ich angezogen war und dass ich nicht sprach. Und dann fingen sie an, mit dem Schwamm nach mir zu werfen.

Ich flehte meine Eltern an, mich auf eine andere Schule zu schicken. Eine für Verhaltensgestörte oder Taubstumme wäre perfekt gewesen. Ich dachte mir alle möglichen Entschuldigungen aus, um zu Hause bleiben zu können. Ich lernte nicht mehr. Im Unterricht verbrachte ich die Zeit damit, die verbleibenden Minuten zu zählen, bis ich aus diesem Gefängnis herauskam.

Eines Vormittags täuschte ich Kopfschmerzen vor, blieb zu Hause und sah im Fernsehen einen Dokumentarfilm über Mimikry bei Insekten.

Irgendwo in den Tropen lebt eine Fliege, die Wespen imitiert. Sie hat einen gelb-schwarz gestreiften Hinterleib, Fühler und hervorstehende Augen und sogar einen falschen Stachel. Sie tut nichts, sie ist harmlos. Doch als Wespe verkleidet wird sie von den Vögeln, den Eidechsen, sogar den Menschen gefürchtet. Sie kann ganz ruhig in Wespennester eindringen, die zu den gefährlichsten und bestbewachten Orten der Welt gehören, und niemand erkennt sie.

Ich hatte alles falsch gemacht.

Das war es, was ich tun musste.

Die Gefährlichsten imitieren.

Ich zog die gleichen Sachen an wie die anderen. Sneakers von Adidas, Jeans mit Löchern, schwarzes Kapuzenshirt. Ich gab meinen Scheitel auf und ließ mir die Haare wachsen. Ich wollte auch einen Ohrring, doch meine Mutter verbot es mir. Zum Ausgleich schenkten sie mir zu Weihnachten ein Moped. Das gewöhnlichste.

Ich ging wie sie. Breitbeinig. Ich warf die Schultasche auf den Boden und versetzte ihr Fußtritte.

Ich imitierte sie zurückhaltend. Es ist nur ein kleiner Schritt von der Imitation zur Karikatur.

Während des Unterrichts saß ich in der Bank und tat so, als würde ich zuhören, doch in Wirklichkeit dachte ich an meine eigenen Angelegenheiten und erfand Science-Fiction-Geschichten. Ich ging sogar zum Sport, lachte über die Witze der anderen, spielte den Mädchen blöde Streiche. Ein paarmal gab ich auch den Lehrern unverschämte Antworten. Und lieferte bei Klassenarbeiten leere Blätter ab.

Der Fliege war es gelungen, alle zu täuschen, perfekt integriert in die Wespengesellschaft. Sie glaubten, ich wäre einer von ihnen. Ein cooler Typ.

Zu Hause erzählte ich, dass mich in der Schule alle nett fänden, und dachte mir lustige Geschichten aus, die mir passiert waren.

Doch je mehr ich diese Farce inszenierte, desto stärker wurde mein Gefühl, anders zu sein. Der Graben, der mich von den anderen trennte, wurde tiefer. Allein war ich glücklich, bei den anderen musste ich Theater spielen.

Das machte mir manchmal Angst. Würde ich sie für den Rest meines Lebens imitieren müssen?

Es war, als würde die Fliege in meinem Inneren mir die Wahrheiten sagen. Sie erklärte mir, dass Freunde dich schon nach einem Augenblick vergessen haben, dass Mädchen gemein sind und sich über dich lustig machen, dass die Welt da draußen nur Wettbewerb, Unterdrückung und Gewalt ist.

Eines Nachts hatte ich einen Albtraum, aus dem ich schreiend erwachte. Ich entdeckte, dass das T-Shirt und die Jeans meine Haut und die Adidas meine Füße waren. Und unter der Jacke, so hart wie ein Exoskelett, krabbelten hundert Insektenbeine.

Alles lief mehr oder weniger gut, bis ich mir eines Vormittags einen Augenblick lang wünschte, ich wäre keine als Wespe verkleidete Fliege mehr, sondern eine echte Wespe.

In der Pause streifte ich normalerweise, damit ich nicht auffiel, durch die Gänge voller Schüler, als hätte ich irgendetwas zu tun. Dann, kurz vor dem Läuten, setzte ich mich wieder in meine Bank und aß die Pizza bianca mit Schinken, die alle beim Hausmeister kauften. Im Klassenzimmer war die übliche Schwammschlacht in Gange. Zwei Gruppen, die sich gegenüberstanden und aufeinander zielten. Wenn ich getroffen worden wäre, hätte ich zurückgeworfen und versucht, dabei, wenn möglich, niemand zu erwischen, um keinen Vergeltungsschlag auszulösen.

Hinter mir saß Alessia Roncato. Sie sprach ununterbrochen mit Oscar Tommasi, und die beiden schrieben eine Namensliste auf einen Zettel.

Was war das für eine Liste?

Mich sollte das überhaupt nichts angehen, echt nichts, doch diese verdammte Neugierde, die sich grundlos ab und zu einstellte, trieb mich dazu, mit dem Stuhl nach hinten zu rücken, um verstehen zu können, was sie sagten.

»Meinst du denn, sie erlauben es ihm?«, fragte Oscar Tommasi gerade.

»Wenn meine Mutter mit ihnen redet«, antwortete Alessia Roncato.

»Ist denn Platz für uns alle?«

»Klar, es ist groß genug …« Irgendjemand fing an zu schreien, und ich konnte nichts mehr hören.

Wahrscheinlich überlegten sie, wen sie zu einer Party einladen sollten.

Als wir aus der Klasse gingen, setzte ich mir die Kopfhörer auf, schaltete aber die Musik nicht ein. Alessia Roncato und Oscar Tommasi standen zusammen mit dem Sumerer und Riccardo Dobosz an der Schulmauer. Alle wirkten aufgedreht. Der Sumerer spielte Skifahren und bog sich wie beim Slalom. Dobosz sprang ihm auf den Rücken und tat so, als wollte er ihm die Luft abdrücken. Ich konnte nicht verstehen, was Alessia zu Oscar Tommasi sagte. Doch ihre Augen leuchteten, als sie den Sumerer und Dobosz ansah.

Ich näherte mich der Gruppe bis auf wenige Meter, und schließlich bekam ich problemlos mit, um was es ging.

Alessia hatte sie zu Skiferien in ihr Haus in Cortina eingeladen.

Diese vier waren anders als die anderen. Sie machten ihr eigenes Ding, und man sah, dass sie dicke Freunde waren. Es schien, als wäre um sie herum eine unsichtbare Blase, in die niemand eindringen konnte, wenn sie es nicht wollten.

Alessia Roncato war die Anführerin, und sie war das schönste Mädchen der Schule. Aber sie spielte sich deshalb nicht auf, und sie versuchte nicht, irgendwem ähnlich zu sein, sie war sie selbst und sonst nichts.

Oscar Tommasi war spindeldürr und bewegte sich wie ein Mädchen. Sobald er sprach, lachten alle. Riccardo Dobosz war still und immer finster wie ein Samurai.

Doch am besten gefiel mir der Sumerer. Ich wusste nicht, warum man ihn so nannte. Er hatte ein Cross-Motorrad und war in allen Sportarten gut, es hieß, im Rugby würde er mal ein Champion. Groß wie ein Schrank, hatte er Hände wie aus Knete, einen Bürstenschnitt und eine platte Nase. Meiner Meinung nach konnte der Sumerer eine Dogge mit einem gezielten Schlag erledigen. Er war in der Sekunda, aber er verhielt sich nie wie ein Arsch gegenüber den Jüngeren. Für ihn waren die in den unteren Klassen ein wenig wie die Milben in Matratzen. Auch wenn sie da sind, sieht man sie nicht.

Sie waren die Fantastischen Vier und ich der Silver Surfer.

Der Sumerer stieg auf sein Motorrad und ließ Alessia dazuklettern. Sie schlang die Arme um ihn, als hätte sie Angst, ihn zu verlieren, und sie fuhren mit quietschenden Reifen los. Auch die anderen Schüler traten nach und nach den Heimweg an, und die Straße leerte sich. Der Plattenladen und das Elektrogeschäft machten Mittagspause und hatten die Rollläden heruntergelassen.

Nur ich war noch da.

Ich musste nach Hause gehen. Wenn ich in zehn Minuten nicht auftauchte, würde meine Mutter anrufen. Ich schaltete das Handy aus. Starrte auf die gesprayten Graffiti an der Wand, bis sie unscharf wurden. Farbkleckse auf einer Hausmauer.

Hätte Alessia auch mich eingeladen, dann hätten sie sehen können, wie gut ich Ski fuhr. Ich hätte ihnen geheime Abfahrten abseits der Pisten zeigen können.

Ich fuhr nach Cortina, seit ich auf der Welt war. Ich kannte alle Pisten und eine Menge Tiefschneeabfahrten. Meine liebste fing am Monte Cristallo an und endete mitten im Ort. Man kam durch Wald, es gab unglaubliche Sprünge, und einmal sah ich direkt hinter einem Haus zwei Gämsen. Später könnten wir dann ins Kino gehen und im Lovat eine heiße Schokolade trinken.

Ich hatte so viele Dinge mit ihnen gemeinsam. Dass Alessia ein Haus in Cortina hatte, konnte kein reiner Zufall sein. Und dann begriff ich: Auch sie waren Fliegen, die so taten, als wären sie Wespen. Nur dass sie sehr viel besser als ich die anderen zu imitieren verstanden. Wenn ich mit nach Cortina gekommen wäre, hätten sie kapiert, dass ich wie sie war.

Als ich nach Hause kam, war meine Mutter gerade dabei, Nihal das Rezept für Ossobuco zu erklären. Ich setzte mich, machte die Besteckschublade auf und zu und sagte: »Alessia Roncato hat mich zum Skifahren nach Cortina eingeladen.«

Meine Mutter sah mich an, als hätte ich ihr gesagt, dass mir Hörner gewachsen wären. Sie setzte sich, holte tief Luft und stammelte: »Wie ich mich freue, Schatz.« Und sie umarmte mich ganz fest. »Das wird sicher toll. Entschuldige mich einen Moment.« Sie stand auf, lächelte mich an und schloss sich im Bad ein.

Was war mit ihr los?

Ich legte ein Ohr an die Tür. Sie weinte und zog ab und zu die Nase hoch. Dann hörte ich, dass sie das Wasser aufdrehte und sich das Gesicht wusch.

Was war denn los?

Sie telefonierte mit dem Handy. »Francesco, ich muss dir etwas erzählen. Unser Sohn ist in die Skiferien eingeladen worden … Ja, in Cortina. Siehst du, dass wir uns keine Sorgen machen müssen … Stell dir vor: Vor Freude musste ich weinen wie eine Blöde. Ich habe mich im Bad eingeschlossen, damit er es nicht merkt …«

Ein paar Tage lang versuchte ich, meiner Mutter zu sagen, dass es eine Lüge war, dass ich nur Quatsch gemacht hatte, aber sie war so glücklich und begeistert, dass ich mich geschlagen gab, mit dem Gefühl, einen Mord begangen zu haben.

Das Problem war nicht, ihr zu sagen, dass ich alles erfunden und niemand mich irgendwohin eingeladen hatte. Das war demütigend, doch ich hätte es ertragen können. Nicht ertragen hätte ich aber die Frage, die mit Sicherheit gefolgt wäre.

»Lorenzo, warum hast du mir denn diese Lüge erzählt?«

Auf diese Frage gab es keine Antworten.

Nachts in meinem Zimmer versuchte ich eine zu finden.

»Weil …«

Es war, als wäre mein Gehirn plötzlich blockiert.

»Weil ich ein Arschloch bin.« Das war die einzige Antwort, die ich mir geben konnte. Aber ich wusste, dass sie nicht ausreichte, darunter lag etwas, von dem ich nichts wissen wollte.

Und so ließ ich mich am Ende von der Strömung forttragen und begann selbst daran zu glauben. Ich erzählte sogar dem Cercopithecus von den Skiferien. Ich wurde immer überzeugender und reicherte die Geschichte mit Einzelheiten an. Mit dem Hubschrauber würden wir zu einer Hütte ins Hochgebirge fliegen.

Ich machte ihnen eine Szene, bis sie mir Ski, Skischuhe und eine neue Jacke kauften. Und im Laufe der Zeit begann ich zu glauben, Alessia hätte mich wirklich eingeladen.

Wenn ich die Augen schloss, sah ich sie näher kommen. Ich machte gerade die Kette vom Moped, und sie schaute mich aus ihren blauen Augen an, fuhr sich mit den Fingern durch den blonden Pony, stellte einen Nike auf den anderen und sagte: »Hör mal, Lorenzo, wir gehen mit ein paar Leuten Ski laufen, willst du mitkommen?«

Ich dachte kurz darüber nach und antwortete ruhig: »Okay, ich komme mit.«

Dann, eines Tages, als ich in meinem Zimmer war und die neuen Skistiefel trug, fiel mein Blick auf den Türspiegel des Kleiderschranks, und ich sah ein Jüngelchen in Unterhosen, weiß wie ein Wurm, mit Beinen, die wie Stöcke aussahen, mit ein paar wenigen Haaren darauf, mit einer Hühnerbrust und diesen lächerlichen roten Dingern an den Füßen, und nach einer halben Minute, in der ich mit halb offenem Mund dieses Jüngelchen anstarrte, sagte ich zu ihm: »Wo fährst du hin?«

Und das Jüngelchen im Spiegel antwortete mir mit einer seltsam erwachsenen Stimme: »Nirgendwohin.«

Ich warf mich samt Skistiefeln und mit dem Gefühl aufs Bett, jemand hätte eine Tonne Schutt auf mir abgeladen. Ich sagte mir, dass ich keine Ahnung hätte, wie ich aus diesem Schlamassel, den ich angerichtet hatte, wieder herauskommen sollte, und dass ich mich, sollte ich auch nur noch ein einziges Mal der Versuchung nachgeben und glauben, dass Alessia mich eingeladen hatte, aus dem Fenster stürzen würde und amen und bye-bye und arrivederci und vielen Dank.

Das war der einfachste Weg. Ich hatte doch sowieso ein Scheißleben.

»Schluss! Ich muss ihr sagen, dass ich nicht fahren will, weil Nonna Laura im Krankenhaus ist und an Krebs stirbt.« Ich zauberte eine todernste Stimme hervor, schaute zur Decke und sagte: »Mama, ich habe beschlossen, nicht mit Ski fahren zu gehen, weil es Nonna so schlecht geht. Was ist, wenn sie stirbt und ich bin nicht da?«

Das war eine ausgezeichnete Idee … Ich zog die Skistiefel aus und tanzte durchs Zimmer, als hätte der Fußboden angefangen zu glühen. Ich sprang aufs Bett und von dort auf den Schreibtisch und drehte Pirouetten zwischen Computer, Büchern und dem Kasten mit den Schildkröten und sang dabei die Nationalhymne. »Fratelli d’Italia, l’Ialia s’è desta.« Ein Satz, und ich hing am Bücherregal: »Dell’elmo di Scipio …«!

Was tat ich bloß?

»S’è cinta la te … sta.«

Benutzte ich den Tod meiner Großmutter, um mir selbst aus der Klemme zu helfen?

Nur ein Monster wie ich konnte sich so etwas Widerwärtiges ausdenken.

»Schäm dich!«, schrie ich, warf mich aufs Bett und drückte mein Gesicht ins Kissen.

Wie konnte ich mich bloß aus dieser Lüge befreien? Ich war doch kurz vorm Durchdrehen.

Plötzlich sah ich den Keller vor mir.

Dunkel. Einladend.

Und vergessen.