8
Es fiel ein feiner Regen, und ich nahm die Linie 30.
Zum Glück hielt der Cercopithecus gerade sein Mittagsschläfchen, als ich aus dem Haus ging.
Ich setzte mich hinten in den Wagen und zog mir die Kapuze meines Sweatshirts in die Stirn. Ich war ein Geheimagent mit dem Auftrag, meine Schwester zu retten, und nichts würde mich aufhalten.
Das letzte Mal, als wir meine Großmutter ins Krankenhaus brachten, hatte sie mir, kurz bevor wir die Wohnung verließen, ins Ohr geflüstert: »Schatz, nimm aus dem Nachtschränkchen alle Medikamente und versteck sie in meiner Tasche. Die verdammten Ärzte in der Klinik geben mir nicht genug gegen die Schmerzen. Aber lass dich nicht erwischen.«
Es war mir gelungen, die Medikamente in ihre Tasche zu stecken, ohne dass es jemand bemerkte.
Ich stieg wenige Schritte von Villa Ornella entfernt aus.
Doch als ich vor der Klinik stand, war all mein Mut dahin. Ich hatte meiner Großmutter versprochen, dass ich sie allein besuchen würde, aber ich hatte es nie getan. Ich kriegte es nicht hin, mit ihr so zu reden, als wären wir noch bei ihr zu Hause. Und wenn ich mit Papa und Mama hingegangen war, hatte ich es als Qual empfunden.
»Los, Lorenzo, aber jetzt schaffst du es«, sagte ich zu mir selbst und sah mich auf dem Parkplatz um. Die Autos meines Vaters und meiner Mutter waren nicht da. Mit zwei Sätzen brachte ich die Treppe am Eingang der Klinik hinter mich und durchquerte im Laufschritt die Halle. Die Schwester am Empfang hob den Kopf vom Bildschirm ihres Computers, konnte aber kaum mehr als einen Schatten auf der Treppe verschwinden sehen. Ich rannte hoch zum dritten Stock, dann den langen Gang mit den weißen und braunen Fliesen entlang. Es waren 3225. Ich hatte sie an dem Tag, als Nonna operiert wurde, gezählt. Den ganzen Nachmittag war ich mit meinem Vater im Krankenhaus geblieben, und sie war und war aus dem Operationssaal nicht nach oben gekommen.
Ich lief am Schwesternzimmer vorbei. Dort drinnen lachten sie. Ich wandte mich nach rechts, ein lebender Toter schlurfte auf mich zu. Er trug einen hellblauen Schlafanzug mit dunkelblauen Borten. Gelocktes weißes Brusthaar schaute aus dem V der Jacke heraus. Eine blassblaue Narbe zog sich über einen Backenknochen und endete am Mund. Eine Frau auf einer Krankenbahre betrachtete das stürmische Meer auf einem Bild an der Wand. Aus einer Tür kam ein kleines Mädchen heraus, wurde aber gleich von der Mutter zurückgeholt.
Zimmer 103.
Ich wartete, bis mein Herz langsamer schlug, und drückte die Klinke herunter.
Der Urinbeutel war fast voll. Das Gebiss lag in einem Glas auf dem Nachtschränkchen. Der Tropf am Infusionsständer. Nonna Laura schlief im Gitterbett. Die Lippen waren in ihren weit offenen Mund gefallen. Sie war so klein und mager, dass mir der Gedanke kam, ich könnte sie auf die Arme nehmen und wegtragen.
Ich trat näher, betrachtete sie und biss mir innen in die Backe.
Wie alt sie war. Ein Häufchen Knochen, überzogen von einer runzligen und schuppigen Haut. Ein Bein ragte unter dem Betttuch hervor. Es war schwarz und blau und trocken wie ein Stock, der Fuß ganz krumm und der große Zeh nach innen gebogen, als steckte ein Eisendraht darin. Es roch nach Talkum und Alkohol. Die Haare, die sie, als es ihr gut ging, immer unter einem Haarnetz getragen hatte, waren offen und fielen lang und weiß auf das Kissen, wie bei einer Hexe.
Vielleicht war sie tot. Doch auf ihrem Gesicht lag nicht der Frieden von Toten, sondern ein leidender und harter Ausdruck, als flösse ein Strom des Schmerzes durch ihren Körper.
Ich trat ans Fußende des Betts und deckte ihr Bein mit dem Betttuch zu. Ihre Wildledertasche stand im Schrank. Ich machte sie auf, nahm alle Fläschchen und Arzneischachteln heraus und steckte sie in die Taschen meiner Jacke. Als ich den Reißverschluss zuzog, hörte ich hinter mir ein Flüstern: »Lo…ren…zo… Bist du das?«
Ich wandte mich ruckartig um. »Ja, Nonna. Ich bin’s.«
»Lorenzo, bist du mich besuchen gekommen?« Ein plötzlicher Schmerz verzerrte ihr Gesicht. Nonna Laura hielt die Augen halb geschlossen. Sie waren verschleiert und in runzlige Falten gebettet.
»Ja.«
»Schön. Setz dich zu mir …«
Ich setzte mich auf einen Metallhocker neben das Bett.
»Nonna, ich sollte …«
»Gib mir deine Hand.«
Ich nahm ihre Hand. Sie war warm.
»Wie viel Uhr ist es?«
Ich sah zur Uhr an der Wand. »Zehn nach zwei.«
»Morgens …« Sie bewegte sich und drückte sanft meine Hand. »Oder …?
»… nachmittags, Nonna.«
Ich musste gehen. Es war gefährlich hierzubleiben. Wenn die Schwestern mich sahen, würden sie es sicher meinen Eltern sagen.
Nonna war still und atmete durch die Nase, als wäre sie eingeschlafen, dann drehte sie sich und suchte eine bessere Lage.
»Hast du Schmerzen?«
Sie legte eine Hand auf den Magen. »Hier … Es hört nie auf. Es tut mir leid, dass du mich leiden siehst. Es ist scheußlich, so zu sterben.« Sie brachte ein Wort nach dem anderen heraus, als müsste sie die Wörter in einer leeren Schachtel suchen.
»Du stirbst doch nicht«, murmelte ich, den Blick auf den gelben Urinbeutel gerichtet.
Sie lächelte. »Nein, noch nicht. Mein Körper will nicht. Er will nicht verstehen, dass es zu Ende ist.«
Ich wollte ihr sagen, dass ich los müsse, doch mir fehlte der Mut dazu. Ich starrte die Kleider auf dem hölzernen Kleiderständer an, da waren der blaue Rock, die weiße Bluse, die dunkelrote Strickjacke.
Sie wird sie nie wieder anziehen, dachte ich. Vielmehr: Man wird sie ihr anziehen, wenn man sie in den Sarg legt.
Ich sah hoch zu der Lampe aus mattem Glas, die an einer Messingstange von der Decke hing. Warum war dieses Zimmer so hässlich? Wenn einer stirbt, sollte er ein wunderschönes Zimmer haben. Ich würde in meinem eigenen Zimmer sterben.
»Nonna, ich muss los …« Ich wollte sie umarmen. Vielleicht war es zum letzten Mal. Ich fragte sie: »Darf ich dich umarmen?«
Meine Großmutter schlug die Augen auf und deutete ein Nicken an.
Ich drückte sie sanft, presste das Gesicht aufs Kissen und nahm den scharfen Geruch nach Arznei wahr, den vom Waschmittel des Kopfkissenbezugs und den herben Geruch ihrer Haut.
»Ich sollte … Ich muss gehen und lernen.« Ich zog mich hoch.
Sie fasste mich am Handgelenk und seufzte. »Erzähl mir etwas … Lorenzo. Dann denke ich nicht daran.«
»Was denn, Nonna?«
»Ich weiß nicht. Was du willst. Eine schöne Geschichte.«
»Jetzt?« Olivia wartete auf mich.
»Wenn es dir nicht passt, ist es nicht schlimm …«
»Eine wahre oder eine erfundene Geschichte?«
»Eine erfundene. Entführ mich irgendwohin.«
Ich hatte tatsächlich eine Geschichte. Eines Morgens in der Schule hatte ich sie mir ausgedacht. Doch meine Geschichten behielt ich für mich, denn wenn ich sie erzählte, vergingen sie wie Feldblumen, die man gepflückt hat, und gefielen mir nicht mehr.
Aber diesmal war es anders.
Ich setzte mich auf dem Hocker bequemer hin. »Also, diese Geschichte … Nonna, du erinnerst dich doch an den kleinen Roboter, den du im Swimmingpool in Orvieto hast? Diesen gelb-violetten, der dazu dient, den Swimmingpool zu reinigen? Dieser kleine Roboter hat innen drin eine Art elektronisches Gehirn, das lernt, wie der Boden des Swimmingpools beschaffen ist, sodass er ihn ordentlich reinigen kann, ohne immer über die gleichen Stellen zu gehen. Erinnerst du dich an den Roboter, Nonna?« Ich wusste nicht, ob sie schlief oder wach war.
»Diese Geschichte handelt von einem kleinen Roboter, der Swimmingpool-Putzer ist. Er heißt K19, wie die russischen U-Boote. Also … Eines Tages versammeln sich in Amerika alle Generäle und der Präsident der Vereinigten Staaten, um zu überlegen, wie man Saddam Hussein umbringt. Sie haben alles Mögliche versucht, um ihn auszuschalten. Seine Villa ist eine Festung in der Wüste, er hat Boden-Luft-Raketen, die hochsteigen, sobald die amerikanischen Raketen kommen, und sie in der Luft abschießen. Der amerikanische Präsident ist verzweifelt, denn wenn er nicht sofort Saddam Hussein umbringt, wird er entlassen. Wenn seine Generäle nicht innerhalb von zehn Minuten eine Möglichkeit finden, den Diktator auszuschalten, schickt er sie alle nach Alaska. Irgendwann steht ein General auf, ein kleiner Mann, ein Computerexperte, der nie etwas sagt, weil er nichts zählt, und meint, dass er eine Idee hat. Alle schütteln den Kopf, doch der Präsident bedeutet ihm, er soll sprechen. Der kleine General erklärt, dass Saddam aus Angst vor versteckten Bomben nichts kauft. Einmal hatte er eine Ananas bestellt, und drinnen steckte eine Bombe, die seinen Koch umgebracht hat. Also lässt er alles, was er in der Villa hat, in den Kellern bauen. Fernseher, Videorekorder, Kühlschränke, Computer, alles. Doch es gibt eine Sache, die bekommen sie nicht hin. Deshalb muss er sie außerhalb kaufen: Swimmingpool-Reinigungsroboter. Saddams Swimmingpool ist so groß, dass sein Roboter die Orientierung verliert, und der Wüstenwind weht ohne Ende und trägt Sand in den Pool. Die besten Roboter, solche, die einen riesigen Swimmingpool wie seinen reinigen können, stellen sie nur in Amerika her.«
Ich schwieg.
»Hast du verstanden, Nonna?«
Sie antwortete nicht. Ganz sachte versuchte ich, meine Hand freizubekommen.
»Erzähl weiter …«, murmelte sie.
»Saddam badete mit seinen zwölf Frauen, und der Boden des Swimmingpools war immer ganz schmutzig. Am Ende entscheidet er sich, auch wenn es gefährlich ist, einen Roboter aus Amerika per Post zu bestellen. Er lässt ihn von einem seiner Adjutanten kaufen, um keinen Verdacht zu erregen. Nur dass die CIA das Telefonat abgehört hat. Die Fabrik soll ihm in der nächsten Woche einen Roboter schicken. Der kleine General sagt, dass er eine geniale Idee hat. Er nimmt den Roboter und verändert ihn. Er baut ihm einen superintelligenten Computer ein, den er gerade erfunden hat, und programmiert ihn, Saddam zu töten. Außerdem stattet er ihn mit Miniatomraketen aus, mit Batterien, die Strom mit zweitausend Volt erzeugen, und Giftpfeile kann er auch abschießen. Der Präsident der Vereinigten Staaten ist zufrieden. Das ist eine tolle Idee. Er sagt zu dem kleinen General, dass er sich sofort an die Arbeit machen soll. Der kleine General geht in die Roboterfabrik, nimmt sich einen Roboter und arbeitet die ganze Nacht an ihm. Er baut ihm den Computer ein und programmiert ihn, Saddam zu töten und, um sicher zu sein, auch jeden, der mit ihm im Swimmingpool badet. Als er fertig ist, fühlt er sich todmüde, doch der Roboter ist perfekt, er sieht so aus wie alle anderen. Sein Codename ist K19. Nur dass am Morgen der Mann kommt, der ihn verschicken muss, und sich irrt. Er glaubt, es sei der reparierte Roboter für eine Familie, die in der Nähe von Los Angeles lebt. Er verpackt ihn und versendet ihn. Als er bei der Familie ankommt, nehmen sie ihn und setzen ihn in den Pool. K19 beginnt den Boden des Swimmingpools zu reinigen, das kann er nämlich auch sehr gut. Doch als der Vater und die Kinder baden gehen, werden sie augenblicklich durch einen Stromstoß getötet, der sie alle röstet.«
»Wer waren sie denn? Die Enkel der Finotti?« Meine Großmutter hatte den Kopf vom Kissen gehoben.
»Wer sind die Finotti?«, fragte ich.
»Marino Finotti, der Ingenieur aus Terni … Sind die nicht im Swimmingpool umgekommen?«
»Aber nei-hein, das hier sind Amerikaner, was hat Terni damit zu tun?«
»Bist du sicher?« Sie wurde unruhig.
»Ja, Nonna, beruhige dich.« Ich erzählte weiter. »Also … Der Roboter wartet zwei Tage, die Leichen schwimmen im Pool, doch Saddam kommt nicht, und da er ja ein intelligenter Roboter ist, begreift er, dass sie ihn in den falschen Swimmingpool gebracht haben müssen. Mit seinen Saugketten klettert er die Seitenwände hoch und steigt heraus, auf der Suche nach einem neuen Swimmingpool. Die Gegend in Amerika, wohin sie ihn geschickt haben, Nonna, ist voller Swimmingpools, bei jedem Haus gibt es einen, es sind wahnsinnig viele, Millionen, und er beginnt von einem zum anderen zu gehen und bringt auf der Suche nach Saddam alle um, die ein Bad nehmen. Wenn er einen anderen Roboter trifft, zerstört K19 ihn und putzt dann den Pool. Er richtet ein Gemetzel an. Halb Kalifornien wird umgebracht. Die Armee kommt. Sie lassen alle Soldaten gegen ihn marschieren, sie beschießen ihn mit Laser, doch es ist nichts zu machen. Zum Schluss fordern sie Flugzeuge an, die Bomben auf Kalifornien werfen. K19 wird getroffen, eine seiner Saugketten zerbricht, und er gerät ins Schleudern, doch er gibt nicht auf. Er läuft auf die Autobahn, verfolgt von Panzern, die auf ihn schießen. K19 geht in Stücke, der Motor macht ein komisches Geräusch, und er ist völlig fertig. Er kommt am Ende der Straße an und steht vor dem größten Pool, den er je gesehen hat. Das Wasser ist schmutzig, und es gibt Wellen. In der Zwischenzeit rückt die Armee näher. K19 betrachtet den Pool, er ist so groß, dass man gar nicht sehen kann, wo er aufhört. Die Sonne geht darin unter, und es gibt riesige Luftmatratzen. Niemand hat ihm erklärt, dass dies das Meer ist und dass es keine Luftmatratzen sind, sondern Schiffe. K19 weiß nicht, was tun. Er fragt sich, wie er diesen endlosen Pool je reinigen soll. Zum ersten Mal hat er Angst. Als er am Ende der Mole angekommen ist, dreht er sich um: Da ist die Armee. Er will schon kämpfen, doch dann überlegt er es sich noch einmal, macht einen Satz, stürzt sich ins Meer und verschwindet.« Mein Mund war trocken. Ich nahm die Wasserflasche vom Nachttischchen und goss mir ein Glas ein.
Meine Großmutter bewegte sich nicht, sie war eingeschlafen.
Die Geschichte hatte ihr nicht gefallen.
Ich stand auf, doch da flüsterte Nonna: »Und dann?«
»Wie? Und dann?«
»Wie endet es?«
Die Geschichte war zu Ende. Fertig. Und mir schien dieses Ende gut.
Und außerdem hasste ich das Ende von Geschichten. Am Ende müssen sich die Dinge immer, im Guten oder im Schlechten, regeln. Mir gefiel es, von sinnlosen Kämpfen zwischen Aliens und Irdischen zu erzählen, von Reisen durchs All auf der Suche nach nichts. Mir gefielen wilde Tiere, die einfach so lebten, ohne zu wissen, dass sie sterben mussten. Mich machte es verrückt, wenn ich einen Film sah, dass Papa und Mama immer über das Ende diskutierten, als wäre das das Wichtigste und der Rest der Geschichte zählte nichts.
Und außerdem, im wirklichen Leben, ist da auch nur das Ende wichtig? Zählte das Leben von Nonna Laura nichts, und nur ihr Tod in dem hässlichen Krankenhaus war wichtig?
Ja, vielleicht fehlte der Geschichte von K19 etwas, doch die Idee vom Selbstmord im Meer fand ich gut. Ich wollte Nonna Laura gerade sagen, dass die Geschichte zu Ende sei, als mir plötzlich ein anderer Schluss einfiel.
»Das Ende geht so: Zwei Jahre später sind Forscher an einem Strand auf einer tropischen Insel. Es ist Nacht, Vollmond. Sie haben sich hinter einer Düne versteckt und beobachten mit Ferngläsern den Strand. Plötzlich kommen Meeresschildkröten aus dem Wasser, sie wollen ihre Eier ablegen. Die Schildkröten klettern auf den Sand, graben mit ihren Flossen ein Loch und legen die Eier ab. Und dann kommt auch K19. Er ist ganz mit Algen und Muscheln überzogen. Er schiebt sich langsam auf den Strand und macht mit den Saugketten ein tiefes Loch, deckt es zu und kehrt dann zusammen mit den Schildkröten ins Meer zurück. In der Nacht darauf tauchen aus dem Sand eine Menge kleiner Schildkröten auf. Und aus einem Loch kommen viele winzig kleine K19, wie Spielzeugpanzer, und gehen mit den kleinen Schildkröten ins Meer.« Ich holte Luft. »Ende der Geschichte. Gefällt sie dir?«
Meine Großmutter nickte mit geschlossenen Augen, und in diesem Augenblick öffnete sich die Zimmertür, und eine Krankenschwester, die genauso aussah wie John Lennon, kam mit einem Tablett voller Medikamente herein. Sie war nicht auf Besucher gefasst und stutzte.
Wir starrten uns eine Sekunde lang an, dann murmelte ich einen Gruß und machte mich davon.