10

Meine Schwester schlief zwei Tage lang, stand nur auf, um zu trinken und zu pinkeln. Ich räumte den Keller auf, brachte das Monster um und spielte Soul Reaver zu Ende. Ich nahm Brennen muss Salem in Angriff, las von Menschen, die zu Vampiren werden, von Spukhäusern, von mutigen Kindern, die es mit Untoten aufnehmen, und mein Blick wandte sich meiner Schwester zu, die in die Decke eingehüllt schlief. Ich hatte das Gefühl, dass sie in meinem Schlupfwinkel geschützt war, versteckt, dass niemand ihr etwas Böses tun konnte.

Meine Mutter rief an. »Hallo, wie geht’s dir?«

»Alles okay.«

»Du rufst nie an. Wenn ich dich nicht anrufe … Hast du Spaß?«

»Viel.«

»Bist du traurig, dass du morgen zurückfahren musst?«

»Ja. Ein bisschen …«

»Wann fahrt ihr los?«

»Früh. Gleich nach dem Aufstehen.«

»Und was macht ihr heute?«

»Ski fahren. Weißt du, wen ich in der Tofana getroffen habe?«

»Nein.«

Ich schaute meine Schwester an. »Olivia.«

Einen Moment lang war es still. »Olivia. Welche Olivia? Deine Stiefschwester?«

»Ja.«

»Ja sag mal … Sie ist vor ein paar Tagen hier gewesen und hat wohl nach irgendwelchen Sachen gesucht. Jetzt verstehe ich, vielleicht brauchte sie was zum Anziehen für die Berge … Wie geht es ihr denn?«

»Gut.«

»Wirklich? Das hätte ich nicht gedacht. Papa hat gesagt, dass sie eine schwierige Zeit durchmacht. Die Arme hat eine Menge Probleme, ich hoffe sehr, dass sie ihren Weg findet …«

»Magst du sie denn gern, Mama?«

»Ich?«

»Ja.«

»Ja, ich mag sie gern, doch es ist nicht leicht, mit ihr auszukommen. Aber du, benimmst du dich auch ordentlich? Bist du freundlich zu Alessias Mutter? Hilfst du im Haus? Machst du dein Bett?«

»Ja.«

»Sie scheint mir sehr nett, Alessias Mutter. Grüß sie von mir und sag ihr noch einmal vielen Dank.«

»Ja … Hör mal, ich muss jetzt Schluss machen …«

»Ich hab dich lieb, mein Kleiner.«

»Ich dich auch … Ach, Alessias Mutter hat gesagt, dass sie mich nach Hause bringt, wenn wir ankommen.«

»Sehr gut. Ruf mich an, sobald du in der Nähe von Rom bist.«

»In Ordnung. Ciao.«

»Ciao, mein Schatz.«

Olivia saß mit nassen, nach hinten gekämmten Haaren in einem geblümten Kleid der Contessa auf dem Sofa und rieb sich die Hände: »Na, wie wollen wir unseren letzten Abend feiern?«

Nach diesem langen Schlaf ging es ihr viel besser. Ihr Gesicht sah entspannter aus, und sie sagte, die Beine und Arme täten ihr nicht mehr so weh.

»Ein kleines Abendessen?«, fragte ich.

»Ein kleines Abendessen. Und was kannst du mir Gutes anbieten?«

»Also …« Ich sah nach, welche Vorräte wir noch hatten. »Wir haben fast alles aufgegessen. Thunfisch und Artischockenherzen in Öl? Und als süßen Nachtisch Waffeln?«

»Perfekt.«

Ich stand auf und öffnete den Schrank. »Ich habe eine Überraschung …« Ich zeigte ihr das Bier.

Olivia riss die Augen auf. »Du bist ein Held. Wo hast du das denn her?«

Ich lächelte. »Vom Cercopithecus. Ich habe es ihm geklaut, als ich vom Krankenhaus zurückgekommen bin. Es ist warm …«

»Das macht nichts. Du bist grandios«, sagte sie und nahm das Schweizer Messer, machte zwei Flaschen auf und gab mir eine.

»Ich mag kein Bier …«

»Ach komm. Wir wollen doch feiern.« Sie setzte die Flasche an und trank sie in einem Zug zur Hälfte aus. »Himmel, Bier ist vielleicht gut.«

Ich setzte auch die Flasche an und tat so, als fände ich es gar nicht so eklig.

Wir deckten den kleinen Tisch mit einer Tischdecke, die wir unter den Sachen der Contessa gefunden hatten. Wir zündeten eine Kerze an und aßen alle Artischockenherzen und zwei Dosen Thunfisch. Zum Nachtisch die Waffeln.

Nachher warfen wir uns im dunklen Keller mit vollem Bauch aufs Sofa und legten die Füße auf den kleinen Tisch. Das Kerzenlicht beleuchtete sie. Sie waren gleich. Weiß, lang und mit mageren Zehen.

Olivia steckte sich eine Muratti an und stieß eine Rauchwolke aus. »Erinnerst du dich denn, wie wir im Sommer auf Capri waren?«

Das Bier hatte meine Zunge gelöst. »Nicht so richtig. Ich weiß nur noch, dass es eine Menge Treppen gab. Und dann war da ein Brunnen, aus dem Eidechsen kamen. Und große Zitronen gab es.«

»Und du erinnerst dich nicht daran, wie sie dich ins Wasser geworfen haben?«

Ich wandte mich zu ihr hin, um sie anzusehen. »Nein.«

»Wir waren mit Papas Motorboot vor den Faraglioni.«

»Das Motorboot habe ich auf Fotos gesehen. Es war aus glänzendem Holz. Es hieß Sweet Melody II. Es gibt sogar ein Foto, auf dem Papa Wasserski fährt.«

»Es wurde von einem tiefgebräunten Seemann mit Lockenkopf und Goldkettchen gefahren. Du hattest irrsinnige Angst vor dem Wasser. Sobald du den Strand sahst, hast du geschrien, bis man dir Schwimmflügel dranmachte. Du bist nicht mal auf die Fähre gegangen, wenn du keine anhattest. Also, an diesem Tag waren wir auf offener See, und alle sind geschwommen, und du hast dich wie ein Krebs an die Leiter geklammert und uns zugeschaut. Wenn jemand gesagt hat, du sollst ins Wasser kommen, bist du durchgedreht. Dann haben wir Seeigel mit Brot gegessen. Papa und der Seemann hatten eine Menge Wein getrunken, und der Seemann hat erzählt, dass sie ihre Kinder, um ihnen die Angst vor dem Wasser zu nehmen, ohne Schwimmflügel und Rettungsring ins Meer werfen. Sie gehen ein bisschen unter, doch nach kurzer Zeit beginnen alle zu schwimmen. Du warst im Cockpit und spieltest mit deinen Sachen. Sie sind von hinten gekommen, haben dir die Schwimmflügel abgestreift, und du hast angefangen, um dich zu schlagen, hast geschrien, als wollten sie dir die Haut abziehen, und ich habe ihnen gesagt, sie sollen dich loslassen, doch sie haben nicht auf mich gehört. Im Gegenteil, sie haben dich ins Wasser geworfen.«

Ich hörte ihr ungläubig zu. »Und meine Mutter hat nichts gemacht?«

»Sie war an dem Tag nicht dabei.«

»Und was ist dann passiert?«

Sie lächelte. »Du bist untergegangen. Papa ist ins Wasser gesprungen, um dich rauszuholen. Doch nach einem Moment bist du wieder aufgetaucht und hast geschrien, als wärst du von einem Hai gebissen worden. Du hast mit den Armen um dich geschlagen und … bist geschwommen.«

»Wirklich?«

»Ja, wie ein kleiner Hund, die Augen traten dir aus den Höhlen, und dann hast du dich an die Leiter geklammert und bist so schnell rausgeklettert, als hättest du in Lava gesteckt.«

»Und dann?«

»Dann bist du in die Kabine gerannt und hast dich unter die Koje gekauert. Du hast gezittert und mit offenem Mund geatmet. Papa versuchte dich zu beruhigen, sagte, du wärst ein großartiger Schwimmer, dass du keine Schwimmflügel mehr bräuchtest. Doch du hast weiter geheult. Hast ihn angeschrien, dass er weggehen soll.«

»Und dann?«

»Du bist plötzlich eingeschlafen. Bist weggesackt, als hätte man dich betäubt. So etwas habe ich noch nie gesehen.«

»Und du … Was hast du gemacht?«

»Ich habe mich neben dich gesetzt. Dann ist das Motorboot losgefahren. Und du und ich sind in der Kabine geblieben, wo es nach Bilge roch und alles vibrierte und ratterte.«

»Du und ich?«

»Ja.« Sie nahm einen Zug aus der Zigarette. »Du und ich.«

»Wie komisch. Ich erinnere mich an nichts. Papa hat nie mit mir darüber gesprochen.«

»Natürlich nicht, er hatte Scheiße gebaut … Und wenn deine Mutter davon erfahren hätte, hätte sie ihm den Kopf abgerissen. Gehst du denn mittlerweile schwimmen?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ja.«

»Du hast keine Angst vor dem Wasser?«

»Nein. Eine Weile war ich sogar im Schwimmverein. Aber ich habe damit aufgehört. Mit Wasser in den Ohren kann ich nicht denken. Und ich hasse Schwimmbäder.«

Olivia drückte die Zigarette in der Thunfischdose aus. »Was hasst du am allermeisten auf der Welt?«

Da gab es vieles. »Vielleicht Überraschungspartys. Vor zwei Jahren hat meine Mutter eine für mich organisiert. Diese ganzen Leute, die mich beglückwünscht haben. Ein Albtraum. Neujahr finde ich auch ziemlich furchtbar. Und du?«

»Ich … Lass mich nachdenken. Ich hasse Hochzeiten.«

»Ja, die sind auch grauenhaft.«

»Warte!« Olivia stand auf. »Sieh mal, was ich gefunden habe.« Sie hob einen viereckigen roten Koffer hoch und machte ihn auf. Drinnen war ein Plattenspieler. »Wer weiß, vielleicht funktioniert der noch.«

Wir schlossen ihn an, und der Plattenteller drehte sich. Sie begann in einem Karton voller Platten zu suchen. »Nein … Sieh mal hier, was für ein Wunder.« Sie zog eine Single heraus und zeigte sie mir. »Ich liebe dieses Lied.« Sie legte die Platte auf und sang mit unsicherer Stimme bei Marcella Bella mit: »Mi ricordo montagne verdi e le corse di una bambina con l’amico mio più sincero, un coniglio dal muso nero …«

Ich drehte die Lautstärke ein wenig herunter. »Leise … Leise … Sie können uns hören. Die Barattieri oder der Cercopithecus …«

Doch Olivia hörte nicht zu. Sie tanzte vor mir herum, wiegte sich zur Musik und sang mit leiser Stimme: »Poi un giorno mi prese il treno, l’erba, il prato e quello che era mio scomparivano …«

Sie nahm meine Hände, sah mich mit feuchten Augen an und zog mich an sich. »Il mio destino è di stare accanto a te, con te vicino più paura non avrò, e un po’ bambina tornerò.«

Ich stöhnte und schämte mich, als ich anfing zu tanzen. Das war die Sache, die ich am meisten hasste. Tanzen.

Doch an diesem Abend tanzte ich, und während ich tanzte, raubte mir ein neues Gefühl, lebendig zu sein, den Atem. In wenigen Stunden würde ich diesen Keller verlassen. Und alles würde wieder wie vorher sein. Und doch wusste ich, dass jenseits dieser Tür die Welt war. Und dass sie mich erwartete. Dass ich mit den anderen reden konnte, als wäre ich einer von ihnen. Entscheiden, etwas zu tun, und es tun. Ich konnte weggehen. Ich konnte ins Internat. Ich konnte mein Zimmer neu einrichten.

Der Keller war dunkel. Ich hörte das regelmäßige Atmen meiner Schwester, die auf dem Sofa lag.

Sie hatte fünf Flaschen Bier und ein Päckchen Muratti niedergemacht.

Ich konnte nicht einschlafen. Ich hätte gern weiter geredet, ich dachte an den Diebstahl beim Cercopithecus, daran, wie ich die anderen in die Skiferien hatte fahren sehen, an das Abendessen mit Bier und an meine Schwester und mich, die wir uns wie Erwachsene unterhalten und zu Montagne verdi getanzt hatten.

»Olivia?«, flüsterte ich.

Sie brauchte eine Weile, bis sie antwortete. »Ja.«

»Schläfst du?«

»Nein.«

»Was machst du, wenn wir hier rausgehen?«

»Ich weiß nicht … Vielleicht gehe ich weg.«

»Wohin?«

»Ich habe so eine Art Freund in Bali.«

»Bali in Indonesien?«

»Ja, er lehrt Yoga und macht Massagen in einem Ort am Meer mit lauter Palmen. Da gibt es jede Menge bunter Fische. Ich will herausfinden, ob wir noch zusammen sind. Ich will probieren, wirklich mit ihm zusammen zu sein. Wenn er will …«

»Mit ihm zusammen sein«, murmelte ich mit dem Mund auf dem Kissen.

Er hatte Glück, dieser Typ. Er konnte sagen: Olivia ist mit mir zusammen. Ich würde auch gern nach Bali reisen. Zusammen mit Olivia das Flugzeug nehmen. Und lachen und beim Check-in anstehen, ohne etwas miteinander reden zu müssen. Sie und ich fliegen zu den bunten Fischen. Und Olivia würde zu ihrem Freund sagen: »Das ist Lorenzo, mein Bruder.«

»Wie heißt dein Freund?«, fragte ich, wobei ich Mühe hatte zu sprechen.

»Roman.«

»Ist er nett?«

»Ich bin sicher, er würde dir gefallen.«

Es war schön, dass Olivia mich gut genug kannte, um zu wissen, dass mir ihr Freund gefallen würde. »Hör mal, ich muss dir etwas erzählen … Ich habe gesagt, dass ich zum Skilaufen nach Cortina fahren würde, weil ich Mist gebaut habe. Ich war in der Schule und hörte, dass meine Klassenkameraden Ski fahren gehen würden. Mich haben sie nicht eingeladen. Mir liegt auch gar nichts daran, mit den anderen wegzufahren. Aber ich bin nach Hause gegangen und habe Mama gesagt, ich wäre auch eingeladen. Und sie hat es geglaubt und sich gefreut und hat angefangen zu weinen, und da habe ich nicht mehr den Mut gehabt, ihr die Wahrheit zu sagen, und deshalb habe ich mich hier versteckt. Und weißt du was? Seitdem habe ich die ganze Zeit versucht zu kapieren, warum ich sie angelogen habe.«

»Und hast du es kapiert?«

»Ja. Weil ich mitfahren wollte. Weil ich mit ihnen Ski laufen gehen wollte, ich kann gut Ski fahren. Weil ich ihnen die geheimen Pisten zeigen wollte. Und weil ich keine Freunde habe … Ich wollte einer von ihnen sein.«

Ich hörte, dass sie aufstand. »Mach mir mal Platz.«

Ich rückte ein Stück, und sie legte sich neben mich und nahm mich fest in den Arm. Ich spürte ihr knochiges Knie. Ich legte eine Hand auf ihre Taille, ich konnte ihre Rippen zählen. Dann streichelte ich über ihren Rücken. Unter den Fingern die spitzen Wirbel. »Olivia, versprichst du mir etwas?«

»Was?«

»Dass du nie mehr Drogen nimmst. Nie mehr.«

»Das schwöre ich dir bei Gott. Nie mehr. Auf diese Scheiße falle ich nicht mehr herein«, flüsterte sie mir ins Ohr. »Und du, mein kleiner Schwachkopf, versprichst du mir, dass wir uns wiedersehen?«

»Ich verspreche es dir.«

Als ich wach wurde, war meine Schwester gegangen.

Sie hatte mir eine Nachricht dagelassen.