7
Ich lag auf dem Bett und starrte an die Decke. Es war still, doch wenn ich den Atem anhielt, hörte ich Olivia im Bad, die Autos auf der Straße, den Cercopithecus mit seinem Besen auf dem Hof, ein Telefon, das in der Ferne klingelte, den Brenner des Heizkessels, die Holzwürmer. Und ich roch den Geruch all der hier angehäuften Dinge, den beißenden Geruch vom Holz der Möbel, den strengen der feuchten Teppiche.
Ein dumpfer Schlag.
Ich hob den Kopf vom Kissen.
Die Tür zum Bad war halb offen.
Ich stand auf und ging nachschauen.
Olivia lag auf dem Boden, nackt, weiß, eingeklemmt zwischen der Toilette und dem Waschbecken. Sie versuchte aufzustehen, schaffte es aber nicht. Auf den nassen Fliesen rutschte sie aus wie ein Pferd auf dem Eis. Sie hatte kaum Schamhaare.
Ich stand still da und starrte sie an.
Sie wirkte wie ein Zombie. Ein Zombie, auf den man gerade geschossen hatte.
Sie sah mich, wie ich dort in der Tür stand, und zischte: »Raus hier! Hau ab! Mach die verdammte Tür zu!«
Ich holte den Morgenrock der Nunziante und hängte ihn ihr über die Türklinke. Als sie herauskam, in ein schmutziges Handtuch gewickelt, nahm sie ihn, schaute ihn an, zog ihn sich über, legte sich aufs Sofa und wandte mir, ohne ein Wort zu sagen, den Rücken zu.
Ich setzte mir die Kopfhörer auf. Ich hatte eine CD von Papa drin. Es war ein Klavierstück, das nie endete, und durch diese ruhige, sich immer wiederholende Musik fühlte ich mich weit weg, auf der anderen Seite einer Glasscheibe, als sähe ich einen Dokumentarfilm. Sie und ich, wir waren nicht im selben Raum.
Die Zeit verstrich, und meiner Schwester ging es immer schlechter. Sie zitterte, als hätte sie Fieber. Sie war eine Mole, an der sich Wellen des Schmerzes brachen. Sie hielt die Augen geschlossen, doch sie schlief nicht. Ich hörte, wie sie leise jammerte. »Verdammte Scheiße. Verflucht. Ich halte es nicht mehr aus … So schaffe ich es nicht.«
Die Musik hämmerte mir immer gleichbleibend in den Ohren, während meine Schwester vom Sofa aufstand, sich wieder hinsetzte, sich die Beine blutig kratzte, erneut aufstand, herumzappelte, den Kopf an die Schranktür lehnte. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt. Sie begann mit den Händen in den Hüften einzuatmen und auszuatmen. »Los, Oli, du kannst es schaffen … Los … Los, verdammt.« Dann kauerte sie sich, die Hände vors Gesicht gepresst, irgendwohin. Und so blieb sie eine ganze Weile.
Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Es schien, als wäre sie in dieser unbequemen Haltung eingeschlafen. Aber nein, sie stand auf und begann gegen alles zu treten, was ihr in den Weg kam.
Ich nahm die Kopfhörer ab, stand auf und packte sie am Handgelenk. »Du musst ruhig sein! So kann man uns hören! Ich bitte dich …«
Sie sah mich aus blutunterlaufenen Augen voller Hass an und stieß mich weg. »Scheiß auf ich bitte dich. Leck mich doch! Setz dir deine Dreckskopfhörer wieder auf. Du armer Idiot.« Sie verpasste dem Keramikhund einen Tritt, er fiel runter, und der Kopf brach ab.
Ich flehte sie an und versuchte sie zu stoppen: »Bitte … bitte … Lass das sein … Wir sind geliefert, wenn du so was tust. Verstehst du das?«
»Hau bloß ab. Ich schwöre bei Gott, ich bringe dich um.« Sie warf eine Glaslampe nach mir, die in tausend Stücke ging.
Mich überkam eine blinde Wut. Meine Muskeln spannten sich an, und ich schrie, als würde ich explodieren. »Nein, ich bringe dich um!« Mit gesenktem Kopf rannte ich auf sie zu. »Du sollst mich in Ruhe lassen! Verstehst du das?« Ich streckte die Arme aus und stieß sie von mir.
Olivia flog nach hinten, strauchelte und krachte mit einer Schulter gegen den Schrank. Sie war wie gelähmt, ungläubig, ihr Mund stand weit offen.
»Was willst du von mir? Verschwinde!«, knurrte ich.
Olivia kam auf mich zu und verpasste mir eine Ohrfeige. »Arschloch … Untersteh dich.«
Jetzt bringe ich sie um, dachte ich und befühlte meine glühende Wange. Ich spürte einen heißen Kloß im Hals, hielt die Tränen zurück, ballte die Fäuste und stürzte mich auf sie. »Hau ab, du Scheißjunkie!«
Wir landeten auf dem Sofa. Ich oben, sie unten. Olivia trat um sich, schlug mit den Fäusten in die Luft, um sich zu befreien, doch ich war stärker als sie. Ich packte ihre Handgelenke und schrie sie aus zehn Zentimetern Entfernung an: »Was, verdammt, willst du von mir? Sag mir das!«
Sie versuchte sich loszumachen, doch mit einem Mal, als fehlte ihr plötzlich die Kraft zu kämpfen, wehrte sie sich nicht mehr und ergab sich, und ich fiel auf sie.
Ich zog mich hoch und ging weg von ihr, am ganzen Körper zitternd und erschrocken darüber, was ich ihr hätte antun können. Ich hätte sie töten können. Ich begann, gegen Kartons zu treten, um mich zu beruhigen. Ich trat mir eine Glasscherbe in die Ferse, zog sie heraus und stöhnte vor Schmerz.
Olivia schluchzte, das Gesicht auf der Rückenlehne, die Beine zwischen die Arme gezogen.
»Jetzt reicht es!« Ich humpelte eilig zu meinem Rucksack, holte das Geld aus einem Umschlag und schrie: »Hier. Hier hast du’s. Mach was damit. Nimm’s. Hauptsache, du gehst.« Und ich warf das Geld auf sie drauf.
Olivia rappelte sich vom Sofa hoch und sammelte das Geld auf. »Du bist vielleicht ein Scheißkerl … Ich wusste doch, dass du Geld hast.« Sie nahm ihre Hose, knüllte das Geld in einer Hand zusammen und schloss die Augen. Aus ihren Augenwinkeln liefen Tränen. Die Schultern zuckten. »Nein. Ich kann nicht …« Sie ließ das Geld fallen und hielt sich eine Hand vors Gesicht. »Ich habe mir geschworen aufzuhören. Und diesmal … höre ich auf … sonst ist alles aus.«
Ich verstand nichts. Die Worte verloren sich in ihrem Schluchzen.
»Ich bin eine Schlampe … Ich hab’s mit dem … getrieben … Hab’s mit dem Typen getrieben … Wie konnte ich das nur tun?« Sie sah mich an und nahm meine Hand. »Ich habe für einen Schuss mit so einem Dreckskerl gevögelt. Dieses Schwein hat mich zwischen den Autos gevögelt. Wie widerlich … Sag mir, dass ich widerlich bin … Sag es, sag es … Ich bitte dich …« Sie brach zusammen und röchelte, als hätte man ihr mit der Faust in den Magen geschlagen.
Sie atmet nicht mehr, dachte ich und hielt mir die Ohren zu, doch ihr Röcheln durchbohrte meine Trommelfelle.
Jemand muss ihr helfen. Jemand muss herkommen. Sonst stirbt sie.
»Ich bitte euch … Ich bitte euch … helft mir«, flehte ich die Wände an.
Und dann sah ich sie da liegen.
Zwischen dem Geld auf dem Boden, allein und verzweifelt.
In mir brach irgendetwas auf. Der Riese, der mich an seine steinerne Brust gedrückt hielt, ließ mich frei.
»Verzeih mir, ich wollte dir nicht wehtun. Es tut mir leid …«
Ich nahm meine Schwester in die Arme und hob sie vom Boden hoch.
Sie bekam keine Luft mehr, als säße irgendetwas in ihrem Hals. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, schüttelte sie und klopfte ihr auf den Rücken. »Nicht sterben. Ich bitte dich. Nicht sterben. Ich helfe dir doch. Ich kümmere mich um dich …« Und ich spürte, wie ganz langsam ein wenig Luft in ihren Mund eindrang und die Brust erreichte. Nur ein bisschen am Anfang, dann, bei jedem Luftholen, ein wenig mehr, und zum Schluss murmelte sie: »Ich sterbe nicht. So leicht bin ich nicht umzubringen.«
Ich umarmte sie und legte meine Stirn an ihren Hals, drückte meine Nase an ihr Schlüsselbein und brach in Tränen aus.
Ich konnte nicht mehr aufhören. Ein Schwall Tränen folgte dem anderen, ich beruhigte mich für einen Moment, dann fing es wieder an, und ich weinte noch stärker als vorher.
Olivia zitterte und klapperte mit den Zähnen. Ich wickelte sie in eine Decke, doch sie bemerkte es kaum. Sie schien zu schlafen, aber sie schlief nicht. Vor Schmerz presste sie die Lippen aufeinander.
Ich fühlte mich nutzlos. Was sollte ich nun tun? »Magst du ein bisschen Coca-Cola? Ein Brötchen?«, fragte ich.
Sie gab mir keine Antwort.
Und schließlich fragte ich: »Soll ich Papa rufen?«
Sie öffnete die Augen und murmelte: »Nein. Ich bitte dich, tu das nicht.«
»Was kann ich dann tun?«
»Willst du mir wirklich helfen?«
Ich nickte.
»Dann musst du Schlafmittel für mich auftreiben. Ich muss schlafen. So halte ich es nicht aus.«
»Ich habe nur Aspirin, Paracetamol und Promethazin …«
»Nein, die nützen nichts.«
Ich setzte mich aufs Bett. Es war mir peinlich, sie wie ein Idiot anzustarren, ohne zu wissen, wie ich ihr helfen könnte.
Bei meiner Nonna Laura hatte ich das gleiche Gefühl. Seit zwei Jahren fraß ihr ein Tumor den Magen auf, und sie hatte eine Menge Operationen durchgemacht, und jedes Mal mussten wir sie besuchen, und sie war da in diesem kleinen Krankenhauszimmer: Kunstledersessel, Illustrierte wie Gente, der Espresso, den nur wir lasen, Formicamöbel, die Wände lindgrün, die Bar mit den trockenen Hörnchen, die angenervten Krankenschwestern mit den schrecklichen weißen orthopädischen Schuhen, die scheußlichen Kacheln auf dem kleinen Balkon ohne Pflanzen, und sie in dem Metallbett, vollgestopft mit Medikamenten, mit offenem Mund ohne Gebiss, und meine Eltern, die sie still ansahen, sich mit zusammengepressten Lippen gegenseitig matt anlächelten, während sie sich wünschten, dass sie möglichst bald sterben würde.
Ich verstand nicht, warum wir sie besuchen mussten. Nonna bekam kaum mit, dass wir da waren.
»Wir leisten ihr Gesellschaft. Das würde dir auch Freude machen«, sagte meine Mutter.
Nein, das stimmte nicht. Es ist peinlich, gesehen zu werden, wenn es einem schlecht geht. Und wenn einer im Sterben liegt, will er allein gelassen werden. Diese Sache mit den Besuchen verstand ich wirklich nicht.
Ich sah meine Schwester an. Sie zitterte am ganzen Leib.
Dann. Plötzlich fiel es mir ein.
Was war ich doch für ein Idiot. Ich wusste, wo es Medikamente gab. »Ich kümmere mich darum. Du bleibst hier, ich bin bald zurück.«