5

Um neun Uhr drang die Sonne in goldenen Strahlen durch die schmutzigen Scheiben. Vielleicht war es die Wärme der Heizungsrohre, jedenfalls hatte man Mühe, sich hier wach zu halten.

Ich gähnte und ging in Unterhosen und T-Shirt ins Bad, um mir die Zähne zu putzen.

Die Achselhöhlen blieben noch verschont. Ich war nicht gerade begeistert von der Idee, mich mit kaltem Wasser zu waschen, und außerdem durfte ich ruhig muffeln, wer musste mich schon riechen. Ich sprühte mich mit Selbstbräunungsspray ein und machte mir ein Brötchen mit Nutella.

Ich beschloss, ein paar Stunden der Erforschung des Kellers zu widmen. All dieses Zeug gehörte der Vorbesitzerin, der Contessa Nunziante, die ohne Verwandte gestorben war. Mein Vater hatte die Wohnung mitsamt ihren Möbeln und Sachen gekauft und alles hier untergestellt.

In den Schubladen einer dunklen Kommode fand ich bunte Kleider, Hefte mit Abrechnungen, ausgefüllte Rätselwochen, Schachteln voller Reißzwecken, Heftklammern, Füllfederhalter, transparente Steine, Muratti-Päckchen, leere Parfümfläschchen, trockene Lippenstifte. Es gab auch haufenweise Ansichtskarten. Cannes, Viareggio, Ischia, Madrid. Schwarz angelaufenes Silberbesteck. Brillen. Ich fand sogar eine blonde Perücke, die ich mir aufsetzte; dann zog ich einen Morgenrock aus orangefarbener Seide über. Ich begann im Keller umherzugehen, als wäre er der Salon in einem Schloss. »Guten Abend, Duca, ich bin die Contessa Nunziante. Ah, da ist ja auch die Contessa Sinibaldi. Ja, dieses Fest ist ein wenig langweilig, und ich habe den Marchese Cercopithecus noch gar nicht gesehen. Er wird doch nicht in den Krokodilgraben gefallen sein?«

Unter einem Stapel Möbel stand eine lange, mit roten und grünen Blumen bemalte Truhe, die wie ein Sarg aussah.

»Hier ruht der arme Goffredo. Er hat ein vergiftetes Schnitzel gegessen.«

Das Handy klingelte.

Ich stöhnte: »O nein! Was für ein Nerv! Bitte, Mama … Lass mich in Ruhe.«

Ich versuchte, es zu ignorieren, doch das schaffte ich nicht. Zum Schluss hielt ich es nicht mehr aus und kletterte zum Fenster hoch. Auf dem Display war eine Nummer, die ich nicht kannte. Wer war das? Mich rief nie jemand außer Mama, Nihal, Oma und manchmal Papa an. Unentschlossen starrte ich weiter auf das Handy. Irgendwann wurde ich zu neugierig und meldete mich. »Hallo?«

»Hallo, Lorenzo. Hier ist Olivia.«

Ich brauchte ein paar Sekunden, bevor mir klar wurde, wer diese Olivia war … Olivia, meine Stiefschwester. »Ja. Grüß dich …«

»Wie geht’s dir?«

»Gut, danke, und dir?«

»Gut. Entschuldige, wenn ich dich störe. Tante Roberta hat mir deine Nummer gegeben. Hör mal, ich wollte dich etwas fragen … Weißt du, ob deine Mutter und Papa zu Hause sind?«

Eine Falle!

Ich musste achtgeben. Vielleicht hatte Mama einen Verdacht und benutzte Olivia, um herauszufinden, wo ich wirklich war. Aber soweit ich wusste, sprachen Olivia und Mama nicht miteinander … »Keine Ahnung … Ich bin in den Skiferien.«

»Ah …« Die Stimme klang enttäuscht. »Dann amüsierst du dich sicher bestens.«

»Ja.«

»Aber sag mal, Lorenzo, sind denn dein Vater und deine Mutter normalerweise um diese Zeit zu Hause?«

Was für Fragen stellte sie bloß? »Papa ist um diese Zeit bei der Arbeit. Und Mama geht manchmal ins Fitnesscenter oder in die Galerie. Es kommt darauf an.«

Stille. »Verstehe. Und wenn sie nicht da sind, ist dann sonst jemand zu Hause?«

»Nihal ist da.«

»Wer ist Nihal?«

»Unser Hausangestellter.«

»Ah. Gut. Hör mal, tust du mir einen Gefallen?«

»Was denn?«

»Sag keinem, dass ich dich angerufen habe.«

»In Ordnung.«

»Versprich es mir.«

»Ich verspreche es dir.«

»Gut. Viel Spaß beim Skifahren. Habt ihr Schnee?«

»Ein bisschen.«

»Also dann mach’s gut. Und vergiss nicht: kein Wort zu irgendjemandem.«

»In Ordnung. Ciao.« Ich legte auf und nahm die Perücke ab. Ich versuchte zu verstehen, was die von mir wollte. Und warum wollte sie wissen, ob Papa und Mama zu Hause waren? Warum rief sie meine Eltern nicht an? Ich zuckte mit den Schultern. Das war nicht meine Angelegenheit. Aber wenn es eine Falle gewesen war, dann hatten sie mich nicht hereingelegt.

Das einzige Mal, dass ich meine Stiefschwester Olivia gesehen hatte, war Ostern 1998 gewesen.

Ich war zwölf Jahre alt und sie einundzwanzig. Die Male davor gelten nicht. Ein paar Sommer hatten wir in der Villa von Nonna Laura auf Capri verbracht, doch ich war zu klein gewesen, um mich daran zu erinnern.

Olivia war die Tochter meines Vaters und einer blöden Ziege aus Como, die meine Mutter hasste. Eine Zahnärztin, mit der mein Vater verheiratet gewesen war, bevor ich geboren wurde. Damals lebte er mit der Zahnärztin in Mailand und hatte Olivia bekommen. Dann hatten sie sich scheiden lassen, und Papa hatte Mama geheiratet.

Mein Vater sprach nicht gern über seine Tochter. Ab und zu besuchte er sie und kam jedes Mal schlecht gelaunt zurück. Soweit ich verstanden hatte, war Olivia verrückt. Sie tat so, als wäre sie Fotografin, richtete aber nur Chaos an. Aus dem Gymnasium war sie rausgeflogen und ein paarmal von zu Hause weggelaufen, und dann war sie in Paris mit Faustini, dem Steuerberater meines Vaters, zusammen gewesen.

All diese Dinge hatte ich stückchenweise mitbekommen, denn meine Eltern sprachen in meiner Gegenwart nicht über Olivia. Doch manchmal im Auto vergaßen sie, dass ich da war, und dann rutschte ihnen irgendetwas heraus.

Zwei Tage vor Ostern hatten wir meinen Onkel besucht, der in Campagnano wohnte. Auf der Fahrt hatte Papa zu Mama gesagt, er habe Olivia zum Mittagessen eingeladen, um sie zu überreden, nach Sizilien zu gehen. Dort waren Priester, und die würden sie an einem schönen Ort einschließen, wo es Obstbäume, Gemüsegärten und viele Dinge zu tun gab.

Ich hatte erwartet, dass Olivia hässlich wäre und ein unsympathisches Gesicht hätte wie die Stiefschwestern in Aschenputtel. Doch ganz im Gegenteil: Sie war unglaublich schön, eines jener Mädchen, bei denen du, sobald du sie ansiehst, knallrot wirst und jeder merkt, dass du sie schön findest, und wenn sie was zu dir sagt, weißt du nicht, was mit den Händen tun, du weißt nicht mal, wie du sitzen sollst. Sie hatte eine wahnsinnige Mähne blonder Locken, die ihr über den Rücken fielen, und graue Augen, und sie war übersät mit Sommersprossen, wie ich. Sie war groß und hatte einen vollen, üppigen Busen. Sie hätte die Königin in einem mittelalterlichen Reich sein können.

Während des Essens hatte sie kaum etwas gesagt. Danach hatten sie und Papa sich ins Arbeitszimmer zurückgezogen. Sie war gegangen, ohne sich von irgendwem zu verabschieden.

Ich dachte noch eine Weile über diesen komischen Anruf nach, dann sagte ich mir, dass ich ein viel größeres Problem hatte. Mein eigenes. Mit einer anderen Telefonkarte hätte ich eine SMS an meine Mutter schicken und so tun können, als wäre ich Alessias Mutter. Aber das würde nicht genügen. Mama wollte mit ihr sprechen.

Ich sagte mit Kopfstimme: »Guten Tag, Signora, ich bin … die Mutter von Alessia … Ich wollte Ihnen sagen, dass es Ihrem Sohn gut geht und er viel Spaß hat. Auf Wiederhören.«

Furchtbar. Sie hätte mich sofort erkannt.

Ich nahm das Handy und schrieb:

Mama, wir sind in einer Hütte im Hochgebirge. Das Handy hat keinen Empfang. Ich rufe dich morgen an. Hab dich lieb.

Damit gewann ich einen Tag.

Ich machte das Handy aus, verscheuchte meine Mutter aus meinem Kopf, warf mich aufs Bett, setzte mir die Kopfhörer auf und spielte Soul Reaver. Ich bekam es mit einem so schwierigen Boss zu tun, dass ich aus Wut, ihn nicht besiegen zu können, die Playstation ausschaltete und mir ein Brötchen mit Mayonnaise und eingelegten Pilzen machte.

Wie gut es mir ging. Wenn man mir Essen und Wasser gebracht hätte, wäre ich für den Rest meines Lebens hiergeblieben. Und mir wurde klar, dass es für mich eine Gnade des Himmels wäre, in Isolationshaft im Gefängnis zu landen.

Die Fliege hatte endlich den Schlupfwinkel gefunden, wo sie ganz sie selbst sein konnte, und genehmigte sich ein Nickerchen.

Ich riss die Augen auf.

Irgendjemand machte sich am Türschloss zu schaffen.

Ich hatte nicht im Entferntesten damit gerechnet, dass jemand in den Keller kommen könnte.

Ich starrte auf die Tür, doch ich schaffte es nicht, mich zu bewegen, es war, als klebte ich am Bett fest. Es schnürte mir die Kehle zu, und ich hatte Mühe zu atmen.

Dann, als hätte ich mich aus einem Spinnennetz befreit, sprang ich mit einem plötzlichen Satz vom Bett, stieß mit dem linken Knie gegen die Kante des Nachtschränkchens, unterdrückte mit zusammengebissenen Zähnen einen Schmerzensschrei und schob mich hinkend in den schmalen Raum zwischen Schrank und Wand. Von dort schlüpfte ich, wobei ich mir die Beine zerkratzte, unter einen Tisch, wo eine Menge Teppichrollen lagen. Ich streckte mich darauf aus, während mir das Blut in den Ohren pochte.

Draußen bekamen sie zum Glück die Tür nicht auf. Das Schloss war alt, und wenn man den Schlüssel zu tief hineinsteckte, ließ er sich nicht drehen.

Aber dann ging die Tür doch auf.

Ich biss in den stinkenden Teppich.

Von dort unten sah ich nur ein Stück Fußboden. Ich hörte Schritte, und dann erschienen Jeans und schwarze Cowboystiefel.

Nihal besaß keine Stiefel. Mein Vater trug Church’s und im Sommer Mokassins. Meine Mutter hatte eine Menge Stiefel, aber keine so hässlichen. Und der Cercopithecus hatte nur alte ausgetretene Turnschuhe. Wer konnte das sein?

Egal, wer es sein mochte, er würde sehen, dass der Keller bewohnt war. Es war alles da: Bett, Lebensmittel, ein laufender Fernseher.

Inzwischen drehten die Stiefel eine Runde durch den Keller, als suchten sie etwas. Sie näherten sich meinem Bett und blieben stehen.

Der Mensch in den Stiefeln holte durch den Mund Luft, als wäre er erkältet. Er hob eine Dose vom Tisch hoch und stellte sie wieder zurück. »Ist da jemand?« Eine weibliche Stimme.

Ich kaute auf dem Teppich herum. Wenn ich nicht entdeckt werde, sagte ich mir, besuche ich jeden Tag meinen Vetter Vittorio, diesen Clown. Ich schwöre bei Gott, ich werde sein bester Freund.

»Wer ist da?«

Ich schloss die Augen und hielt mir mit den Händen die Ohren zu, doch trotzdem hörte ich, wie sie herumlief, Sachen hin und her rückte, etwas suchte.

»Komm da raus. Ich habe dich gesehen.«

Ich machte die Augen wieder auf. Eine dunkle Figur saß auf meinem Bett.

»Beweg dich.«

Nein, ich würde mich niemals von hier unten wegbewegen, nicht einmal tot.

»Bist du taub? Komm da raus.«

Vielleicht war es besser, wenn ich wusste, wer es war. Ich zog mich hoch, und wie ein Hund, den man mit der Schnauze im Kühlschrank erwischt hat, kroch ich raus.

Auf dem Bett saß Olivia.

Sie war sehr abgemagert, und ihre eckigen Backenknochen traten hervor. Ihr Gesicht sah angespannt und müde aus, und die langen blonden Haare hatte sie sich abgeschnitten. Über den Jeans trug sie ein ausgebleichtes T-Shirt mit Camel-Logo und eine blaue Matrosenjacke.

Sie war nicht mehr schön wie vor zwei Jahren.

Sie schaute mich verblüfft an. »Was machst du hier?«

Wenn ich irgendetwas hasste, dann, dass mich jemand in Unterhosen sah, ganz besonders eine Frau. Total verlegen hob ich meine Hosen vom Boden auf und zog sie an.

»Warum hast du dich hier versteckt?«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich war so durcheinander, dass ich es gerade mal schaffte, mit den Schultern zu zucken.

Meine Stiefschwester stand auf und sah sich um. »Vergiss es, interessiert mich nicht. Ich suche einen Karton, den ich meinem … unserem Vater gegeben habe. Der Hausangestellte oben hat mir gesagt, er müsste hier sein. Er konnte nicht mitkommen, weil er bügeln musste. Ist der blöd oder was?«

Nihal war wirklich ein bisschen blöd zu Leuten, die er nicht gut kannte. Er hatte die schlechte Angewohnheit, alle von oben herab zu behandeln.

»Es ist ein großer Karton, auf dem Olivia steht. Du kannst mir helfen, ihn zu finden.«

Ich begann eifrig zu suchen, weil ich froh war, dass meine Stiefschwester sich kein bisschen dafür interessierte, warum ich mich hier aufhielt.

Doch keine Spur von diesem Karton. Es gab zwar Kisten, aber auf keiner stand Olivia.

Meine Stiefschwester schüttelte den Kopf. »Siehst du, wie dein Vater auf meine Sachen aufpasst?«

Ich sagte leise: »Er ist auch dein Vater.«

»Du hast recht …« Olivia ballte die Faust zum Zeichen des Sieges. Unter einer Konsole, direkt hinter der Kellertür, stand ein mit Klebstreifen umwickelter Karton mit der Aufschrift WOHNUNG OLIVIA ZERBRECHLICH.

»Da ist er ja. Sieh dir nur an, wo sie ihn abgestellt haben. Hilf mir mal, der ist schwer.«

Wir schleppten ihn in die Mitte des Kellers.

Olivia hockte sich im Schneidersitz hin, zog das Klebeband ab und begann Bücher, CDs, Kleider, Schminkzeug hervorzuholen und auf den Boden zu werfen. »Da ist es.«

Es war ein weißes Buch mit einem abgenutzten Umschlag. Das große Heft. Der Beweis. Die dritte Lüge. Trilogie.

Sie blätterte es auf der Suche nach irgendetwas durch und sprach mit sich selbst. »Es war hier drin, verdammt. Ich kann es nicht glauben. Antonio muss es gefunden haben, dieser Scheißkerl.« Sie sprang plötzlich auf. Ihre Augen wurden feucht. Sie stemmte die Arme in die Hüften, sah zur Decke und trat wie eine Furie gegen den Karton. »Du Arschloch! Du Arschloch! Ich hasse dich. Das hast du mir auch noch weggenommen. Und was soll ich verdammt noch mal jetzt machen?«

Ich sah sie eingeschüchtert an, konnte mich aber nicht zurückhalten zu fragen: »Was war denn da drin?«

Sie setzte sich auf den Boden und hielt sich eine Hand vors Gesicht.

Ich dachte, sie fängt gleich an zu weinen.

Sie sah mich an. »Hast du Geld?«

»Was?«

»Geld. Ich brauche Geld.«

»Nein. Tut mir leid.« Tatsächlich hatte ich welches, Papa hatte es mir für die Skiferien gegeben, aber ich wollte es sparen, um mir eine Stereoanlage zu kaufen.

»Sag mir die Wahrheit.«

Ich schüttelte den Kopf und breitete die Arme aus. »Ich schwöre. Ich habe kein Geld.«

Sie musterte mich, als wollte sie herausfinden, ob ich log. »Tu mir einen Gefallen. Pack alles zurück in den Karton und mach ihn wieder zu.« Sie öffnete die Kellertür. »Ciao.«

Ich sagte: »Hör mal.«

Sie blieb stehen. »Was gibt’s?«

»Sag bitte niemandem, dass ich hier bin. Auch Nihal nicht. Wenn du was sagst, bin ich erledigt.«

Olivia schaute mich an, ohne mich zu sehen, sie dachte an irgendetwas anderes, irgendetwas, das ihr Sorgen machte. Dann flatterte sie mit den Lidern, als wollte sie sich selbst aufwecken. »Ist gut. Ich sage niemandem was.«

»Danke.«

»Aber dein Gesicht ist ganz orange. Du hast es übertrieben mit dem Selbstbräuner.« Sie schloss die Tür.

Bei der Operation Bunker häuften sich die Probleme. Mama wollte mit Alessias Mutter sprechen. Olivia hatte mich erwischt. Und ich hatte auch noch ein orange leuchtendes Gesicht.

Ich sah mich immer wieder im Spiegel an und las noch mal die Anwendungshinweise für das Selbstbräunungsmittel. Da stand nichts darüber, wie lange es dauerte, bis es wieder wegging.

Ich fand eine alte Flasche Vim und rieb mir das Gesicht damit ein. Dann legte ich mich aufs Bett.

Sicher war ich mir nur einer Sache, nämlich dass Olivia nichts sagen würde. Sie schien mir keine Petze zu sein.

Nach zehn Minuten wusch ich mir das Gesicht, doch danach war es noch genauso orange.

Ich kramte in dem Karton meiner Schwester. Sie hatte alles vollkommen durcheinander reingeworfen. Hauptsächlich waren Kleider und Schuhe drin. Ein altes Notebook. Ein Fotoapparat ohne Objektiv. Ein Buddha aus stinkendem Holz. Mit einer runden und großen Schrift beschriebene Blätter. Meistens waren es Aufstellungen: Erledigungs-, Gäste- und Einkaufslisten. In einer kleinen blauen Mappe fand ich Fotos von Olivia, als sie noch gut aussah. Auf einem lag sie auf einer roten Samtcouch und hatte nur ein Männerhemd an, und man konnte ein Stück von ihrem Busen sehen. Auf einem anderen saß sie auf einem Stuhl und zog sich mit einer Zigarette im Mund die Strümpfe an. Das Foto, das mir am besten gefiel, war von hinten aufgenommen, sie hatte den Kopf zum Objektiv gedreht. In einer Hand hielt sie eine Brust. Und sie hatte endlos lange Beine.

Ich durfte nicht mal daran denken. Olivia war zu fünfzig Prozent meine Schwester.

Unter den Fotos war ein kleineres in Schwarz-Weiß. Mein Vater, mit langen Haaren, Jeans und Lederjacke, saß auf dem Poller einer Mole mit einem Mädchen, wahrscheinlich Olivia, die auf seinen Knien ein Eis aß.

Ich musste lachen. Ich hätte nie gedacht, dass mein Vater sich, als er jung war, so furchtbar anzog. Ich kannte ihn nur mit grau melierten, kurzen Haaren, im grauen Anzug mit Krawatte und in Schuhen mit Lochmuster. Doch da, mit dieser Frisur wie ein Tennisspieler von früher, schien er glücklich.

Da war auch ein Brief, den Olivia an Papa geschrieben hatte.

Lieber Papa,

ich schreibe dir, um dir für das Geld zu danken. Jedes Mal, wenn du mir mit deinem Geld aus der Patsche hilfst, frage ich mich: Und wenn es auf der Welt kein Geld gäbe, wie würde dein Vater dir dann helfen? Und dann frage ich mich, ob es die Schuldgefühle sind oder die Liebe, die du für mich empfindest, was dich dazu treibt. Und weißt du was? Ich will es nicht wissen. Ich habe Glück, einen Vater wie dich zu haben, der mich meine Erfahrungen machen lässt und mir hilft, wenn ich etwas falsch mache, also praktisch immer. Aber jetzt ist es genug, ich will nicht mehr, dass du mir hilfst.

Du hast mich nie gemocht, du kannst mich einfach nicht leiden. Wenn du mit mir zusammen bist, dann bist du immer sehr ernst. Vielleicht weil ich der lebende Beweis eines totalen Irrtums bin und dir jedes Mal, wenn du an mich denkst, wieder einfällt, was für eine Dummheit es war, meine Mutter zu heiraten. Aber daran habe ich keine Schuld. Da bin ich mir vollkommen sicher. Was den ganzen Rest angeht, nicht. Wer weiß, wenn ich mich mehr um dich bemüht hätte, wenn ich versucht hätte, die trennende Mauer zwischen uns einzureißen, vielleicht wäre es dann anders geworden.

Mir kam der Gedanke, dass ich, wenn ich ein Buch über mein Leben schreiben sollte, das Kapitel über dich Hasstagebuch nennen würde. Irgendwie muss ich lernen, dich nicht zu hassen. Ich muss lernen, dich nicht zu hassen, wenn dein Geld kommt und wenn du mich anrufst, um zu fragen, wie es mir geht. Ich habe dich zu sehr gehasst, ohne mich zu schonen. Ich habe es satt, das zu tun.

Also danke ich dir noch einmal, doch wenn du in Zukunft den Impuls verspürst, mir helfen zu wollen, dann verdräng ihn. Du bist ja der Meister der Verdrängung und des Schweigens.

Deine Tochter
Olivia

Ich las den Brief wenigstens dreimal. Ich glaubte nicht, dass Olivia Papa so hasste. Ich wusste, dass sie sich nicht verstanden, aber er war doch immer noch ihr Vater. Was sollte der Mist! Sicher, wenn man Papa nicht kannte, konnte man leicht meinen, er wäre nicht nett. Einer von denen, die immer ernst sind und, wie es scheint, ganz allein die Welt regieren müssen. Aber wenn man ihn im Sommer am Meer oder im Winter beim Skifahren erlebte, war er sehr lieb und sympathisch. Und außerdem war es Olivia, die ihn nicht sehen wollte, die immer aggressiv war und sich mit der Zahnärztin gegen ihn verbündet hatte. Papa tat sein Möglichstes, um die Beziehung wiederherzustellen.

»Hasstagebuch … Ein bisschen übertrieben. Und was will sie überhaupt mit diesem ganzen Geld«, sagte ich laut vor mich hin. Es war richtig gewesen, ihr nichts zu geben. Sie verdiente es nicht. Und Nacktfotos von sich hatte sie auch noch machen lassen.

Ich warf das ganze Zeug in den Karton und stellte ihn wieder an seinen Platz.

Es mochte drei Uhr nachts sein, ich schwebte mit aufgesetzten Kopfhörern durchs Dunkel und spielte Soul Reaver, als ich das Gefühl hatte, da wäre ein Geräusch im Keller. Ich nahm die Kopfhörer ab und ließ langsam den Blick schweifen.

Irgendjemand klopfte ans Fenster.

Ich tat einen Satz nach hinten, und es überlief mich eiskalt, als hätte ich Härchen auf dem Rücken und jemand würde darüberfahren. Ich unterdrückte einen Schrei.

Wer konnte das sein?

Wer immer es war, er hörte nicht auf zu klopfen.

Die Scheiben reflektierten den bläulichen Schimmer des Bildschirms und mich, der wie vom Donner gerührt dastand.

Ich versuchte zu schlucken, konnte aber nicht. Mir war schwindlig vor Angst. Ich atmete ein und atmete aus. Ich musste ruhig bleiben. Es bestand keine Gefahr. Das Fenster hatte Gitter, da kam niemand durch, falls er nicht weich wie ein Krake war.

Ich knipste die Taschenlampe an und richtete sie zitternd auf das Fenster.

Hinter der Scheibe war Olivia, die mir ein Zeichen gab, aufzumachen.

»Was für ein Nerv!«, seufzte ich. Ich ging zum Fenster und öffnete es. Eiskalte Luft strömte herein. »Und was willst du jetzt?«

Sie hatte rote Augen und schien sehr müde. »Ich klopfe seit einer halben Stunde, verdammt.«

»Ich hatte Kopfhörer auf. Was gibt’s?«

»Ich muss deine Gastfreundschaft in Anspruch nehmen, kleiner Bruder.«

Ich tat so, als würde ich nicht verstehen. »Wie meinst du das?«

»Ich meine, dass ich nicht weiß, wo ich schlafen soll.«

»Und du willst hier schlafen?«

»Du sagst es.«

Ich schüttelte den Kopf. »Keine Chance.«

»Warum nicht?«

»Darum nicht. Das ist mein Keller. Ich bin hier drin. Er ist nur für eine Person gedacht.«

Sie schaute mich schweigend an und schien zu glauben, ich würde Witze machen.

Ich musste hinzufügen: »Entschuldige, so ist es. Ich kann dich wirklich nicht …«

Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Es ist tierisch kalt hier draußen. Bestimmt fünf Grad unter null. Ich weiß verdammt noch mal nicht, wohin ich gehen soll. Ich bitte dich um einen Gefallen.«

»Tut mir leid.«

»Weißt du was? Du bist der Sohn deines Vaters.«

»Unseres Vaters«, verbesserte ich sie.

Sie zog ein Päckchen Marlboro heraus und zündete sich eine an. »Erklär mir doch mal, warum ich heute Nacht nicht hierbleiben kann. Wo liegt das Problem?«

Was sollte ich ihr sagen? Ich spürte, wie Wut in mir aufstieg, sie drückte mir gegen das Zwerchfell. »Du bringst mir alles durcheinander. Es gibt keinen Platz. Es ist gefährlich. Ich bin inkognito hier. Ich kann nicht aufmachen. Geh woandershin. Besser noch: Ich habe eine Idee, klingel oben. Sie lassen dich bestimmt im Gästezimmer schlafen. Da wirst du dich wohlfühlen …«

»Bevor ich bei diesen beiden Arschlöchern schlafe, lege ich mich auf eine Bank in der Villa Borghese.«

Was erlaubte sie sich? Was hatte Papa bloß Schlimmes getan, um so eine Tochter zu verdienen? Ich versetzte der Wand einen Tritt. »Bitte … Ich bitte dich … Hier ist alles in Ordnung, ich habe alles bestens organisiert, perfekt, und jetzt kommst du und bringst alles durcheinander …« Ich merkte, dass ich quengelte, und ich hasste es zu quengeln.

»Also … Wie heißt du? Lorenzo. Lorenzo, hör mir mal gut zu. Ich bin brav gewesen. Heute Morgen hast du mich gebeten, nichts zu verraten, und ich habe nichts verraten. Ich habe dich nichts gefragt. Ich will nichts wissen. Das ist deine Angelegenheit. Ich bitte dich um einen Gefallen. Wenn du einen Moment den Keller verlässt und mir die Haustür aufmachst, komme ich herein. Niemand wird uns sehen.«

»Nein. Ich habe geschworen, dass ich nicht rausgehe.«

Sie sah mich an. »Wem hast du das geschworen?«

»Mir selbst.«

Sie zog an der Zigarette. »Weißt du, was ich jetzt tue? Ich hänge mich an die Sprechanlage und sage ihnen, dass du im Keller bist. Was hältst du davon?«

»Das würdest du nie tun.«

Sie setzte ein fieses Grinsen auf. »Ach nein? Da kennst du mich aber schlecht …« Sie ging in die Mitte des Gartens und sagte mit ziemlich lauter Stimme: »Achtung, Achtung! Im Keller hält sich ein Junge versteckt. Es ist Lorenzo Cuni, der so tut, als wäre er in den Skiferien … Liebe Hausbewohner …«

Ich warf die Arme gegen die Gitter und flehte: »Still! Sei still, ich bitte ich.«

Sie sah mich belustigt an. »Dann mach auf, oder soll ich das ganze Haus aufwecken?«

Ich konnte nicht glauben, dass sie so gemein war. Sie hatte mich reingelegt. »Okay. Aber morgen früh gehst du wieder. Versprichst du mir das?«

»Ich verspreche es dir.«

»Ich komme. Geh zur Haustür.«

Ich ging so eilig los, dass ich erst, als ich über den Flur lief, merkte, dass ich keine Schuhe anhatte. Ich musste wahnsinnig schnell sein. Zum Glück war es spät. Meine Eltern kamen oft spät nach Hause, aber nicht erst um drei Uhr nachts.

»Wenn ich mir vorstelle, ich mache die Haustür auf und begegne meinen Eltern … Wie scheißpeinlich!«, sagte ich mir, während ich die Treppe hochstieg, immer zwei Stufen auf einmal. Um den Cercopithecus musste man sich nachts keine Sorgen machen. Er schlief nicht, sondern verfiel in eine Art Lethargie, hatte er mir erklärt, und schuld daran waren Zigeuner, die seinen Wach-Schlaf-Rhythmus durcheinandergebracht hatten. Vor drei Jahren waren sie in sein Souterrain eingedrungen und hatten ihn mit einem Betäubungsspray besprüht. Da gab es nun all diese Wohnungen voller Geld, Gemälde und Juwelen, und diese Dummköpfe waren ausgerechnet beim Cercopithecus eingebrochen. Sie hatten eine Brille und ein Radio mitgenommen. Kurz und gut: Der Arme hatte drei Tage am Stück geschlafen. Nicht einmal auf der Erste-Hilfe-Station hatten sie es geschafft, ihn wach zu halten. Seit dem Tag, hatte er mir erklärt, war er immer müde. Und wenn er einschlief, hatte er einen unheimlich tiefen Schlaf: »Wenn ein Erdbeben kommt, bin ich geliefert. Was zum Teufel haben mir diese verdammten Zigeuner bloß ins Gesicht gesprüht?«

Ich durchquerte den Hausflur. Den kalten Marmor unter den Füßen.

Ich öffnete die große Eingangstür, und da stand sie und wartete auf mich.

»Danke, kleiner Bruder«, sagte sie.