Die Scheusale aus dem Leipziger Norden

Inzwischen war wieder der Alltag eingekehrt. Mackenrodt ließ mir erst einmal Narrenfreiheit, denn sein Braunschweiger Geschäft war durch meine Mithilfe halbwegs gut gelaufen. Nach kurzer Zeit stand Mackenrodt wieder auf der Matte, weil er antike Feuerstätten, also von der »Kanone« bis zum Kachelofen, erwerben wollte. Außerdem bat er mich auszukundschaften, ob es in den Grundstücken noch historisch bedeutsame Baustoffe gab. Er hatte überall seine Finger drin. Nach einiger Zeit erfuhr ich, dass einer seiner heißen Drähte zur Firma Gerhard Boepple nach Berlin-Neukölln in die Sonnenallee führte. Ich beschloss, mich der längsten Magistrale Leipzigs, also der Schumannstraße von Hausnummer 1 bis 450 zu widmen. Außerdem gab es in ihr doppelt so viele Grundstücke einschließlich der Hinterhäuser, in die man von außen natürlich keinen Einblick hatte.

Ich begann also mit dem Anfang der Georg-Schumann-Straße und plante, mich erst einmal rechtsseitig in westliche Richtung zu bewegen. Dabei wählte ich natürlich ältere Grundstücke aus, besonders solche, bei denen man in den Zimmern auf hohe Zimmerdecken schließen konnte. Allerdings gehörten manche Feuerstätten einfach zum Inventar der jeweiligen Grundstücke, so dass es dann nie die Möglichkeit gab, solche Öfen offiziell abzutragen. Ich befand mich bereits in Höhe der fünfziger Hausnummern und betrat ein x-beliebiges Grundstück. Ich stieg ins vierte Obergeschoss. Dort stand die Korridortür offen, an der ein herrliches Emailschild mit kalligraphisch aufgedrucktem Vor- und Zunamen des ehemaligen Familienoberhauptes Karl Wachsmuth prangte. Derartige Namensschilder waren für mich immer äußerst anmutend. Leute mit besonders klebrigen Fingern waren auf sie besonders scharf. Ich stellte mir oft die Frage, was sich hinter solchen Schildern verbirgt – logisch, eine Generation fortgeschrittenen Alters! Eine erbärmlich abgemagerte Hauskatze sah mich durch den Türspalt an. Ich klopfte am Oberlicht. Als sich nichts rührte, schob ich behutsam die Tür auf und betrat den Korridor. Die Katze strich ohne Argwohn um meine Hosenbeine und miaute. Es hörte sich wie ein Klagelied an. Ich hustete laut und klopfte an eine der Türen, die halb offen standen. Dabei entdeckte ich einen so genannten Kopenhagener Rundofen aus dem 19. Jahrhundert und einen transportablen, herrlichen Gussofen. Der gusseiserne Ofen wurde wohl erst vor kurzem aus dem Schornstein gerissen, um ihn später abzutransportieren. Es roch nach Grude oder Rohkohlenkoks, so, wie in der Küche meiner Großeltern, wenn im Winter der Sturm auf den Schornstein drückte und Rauch durch die Ofenritzen drang. In diesem Raum hauste die Wohnungsinhaberin bei Tag und Nacht. Hier hatte sich inzwischen eine schauerliche Nasskälte ausgebreitet. In einer Zimmerecke befand sich ein stationärer, fast zimmerdeckenhoher, türkisfarbiger Jugendstil-Kachelofen mit wuchtigem Gesims. Es war ein Produkt der Firma Teichert aus Meissen. Dieser Ofen war seit langer Zeit außer Betrieb. Alles stand angeblich zum Verkauf – zunächst erst einmal. Da saß also Frau Wachsmuth ein wenig nach vorn gebeugt in einem Sessel, als wollte sie jeden Moment aufspringen. Ihre Hände waren blaugefroren. Sie umklammerten einen Gehstock. Diese stark gehbehinderte Frau, weit über achtzig Jahre alt, benutzte eine Toilette auf halber und morscher Treppe. Sie bot mir diese Öfen, natürlich aus der Not geboren, wie »sauer Bier« an. Sie trug nicht nur das letzte Hemd auf ihrem Körper, sonst waren auch Büfett und Regal wie leergefegt. Überhaupt, ich stand inmitten schrottreifen Mobiliars. »Was soll ich machen?«, meinte die Dame, »ich brauch das Geld, vor allem bei dieser hohen Miete! Wenn Sie die Öfen übernehmen würden?« Mir schnürte es die Kehle zu. Ich sah mich im Zimmer um. Mein Blick blieb am leeren Stubenbüfett hängen. »Das Geschirr, welches ich besaß«, dabei zeigte die Frau auf dieses Möbelstück, »hat ein Händler in Kommission genommen«. »Welcher Händler?«, fragte ich. »Ach«, entgegnete die Frau, »der war mit meinem Zeug so schnell verschwunden, und ich ... ach Gott, ein Vermögen wollte ich ja nicht! Und es war doch Meissner Porzellan – ein Kaffeeservice für zwölf Personen, drei Tassen sind zu Bruch gegangen, durch den Zahn der Zeit, wissen sie? Dieses Geschirr stammte aus der Erbmasse meiner Eltern!«. Dann zeigte mir die Rentnerin eine schmutzige, stark beschädigte Untertasse, ein Beweisstück, welches der Dieb außer Acht ließ. Ich traute meinen Augen nicht – es war Marcolini, die Meissner Epoche vom Ende des 18. Jahrhunderts. Ich schwieg. Dann fuhr Frau Wachsmuth fort: »Der Händler hat gesagt, dass das Porzellan mit der Meissner Manufaktur nichts zu tun hat. Das will ich gar nicht glauben! Den Namen dieses Mannes habe ich vergessen – ach Jott, vielleicht hat er ihn auch nicht genannt! Er hat mir jedenfalls versprochen, dass ich in zwei Tagen mein Geld bekomme! Und dann hat er alle meine Schubfächer aufgezogen. Ich weiß auch nicht so genau, was da alles so im Einzelnen noch drin war. Jedenfalls fehlt eine alte Granatbrosche und eine Damentaschenuhr, 750er Gelbgold. Sie sehen ja, wie schlecht ich bestellt bin!« Dabei zeigte die Frau auf ihre Füße, die von oben bis unten verbunden waren. Diesen Anblick war ich gewohnt es waren die offenen Beine derjenigen Leute, die einer fachgerechten Wundversorgung entbehrten und die man wegen dieser Wundgerüche mied. In einer Zimmerecke standen Kartons, in denen sich blutverschmierte und eitrige Binden befanden. Aus diesem Grund machte sich, begünstigt durch die nasskalte Atmosphäre in den Wohnräumen, ein furchtbarer Gestank breit. Die Müll- und Ascheeimer quollen über, ebenso die Mülltonnen auf dem Hof.

Ich entdeckte an den Zimmerwänden helle Flecken und Nägel darüber, an denen einst Bilder hingen. Die Frau schluchzte. Jetzt redete sie sich ihren Gram von der Leber – kurzum, sie war schlicht und einfach ausgeraubt worden. Der so genannte Kommissionär war mit allem, was nicht niet- und nagelfest war, vor etwa 14 Tagen von dannen gezogen. Ein Zechpreller der besonderen Art war also am Wirken und verstieß laut deutschem Recht gegen die guten Sitten. Ich verwarf diesen Paragraphen, denn hier gab es eine völlig andere Sachlage – der Dieb ging über Leichen und konzentrierte sich auf gehandikapte Leute. Seine überaus nette und zuvorkommende, als biedere Hauswirtschaftshilfe verkappte Gangsterbraut, war vom Einkauf notwendigster Artikel des täglichen Bedarfs für die alte Dame nie zurückgekehrt. Ich inspizierte eine Art Kinderzimmer. Hier bot sich ein ebenso furchtbares Bild wie in den übrigen Räumen – der morsche Fußboden z. B. war eingebrochen, der Putz an der Zimmerdecke hing zum Teil in großen Fladen herunter. »Nehmen Sie doch die Öfen!«, bat die Frau. Wohlgemerkt – man schrieb den 10. November! Ich lehnte im Interesse dieser Frau kategorisch ab und kündigte einen erneuten Besuch für den nächsten Tag an. Das Gebäude, in welchem die Frau wohnte, war übrigens ein Acht-Familienhaus und bis auf die Räumlichkeiten der Frau Wachsmuth leergezogen. Dazu befand sich betreffende Wohnung unterm Dach. Das Dachgesims war teilweise herunter gebrochen und der Wind fegte in ungünstigem Fall Schnee und Regen über die Zimmerdecken. Bevor ich verschwand, trug ich die übervollen Mülleimer auf den Hof und versuchte, den Müll in den Mülltonnen zu dezimieren. Dabei trat ich mit den Füßen gegen die Wandungen derer, oder wuchtete die Behälter auf dem Pflaster des Hofes hin und her – nichts! Ich schmiss den Müll auf eine illegale Mülldeponie, die ich im Grundstück entdeckte und stieg wieder ins vierte Obergeschoss. Jetzt waren die schmutzigen Mullbinden an der Reihe. Ich stopfte sie in Plastsäcke, die ich Gott sei Dank fand und schleuderte sie später in einen städtischen Müllcontainer. Am Abend fuhr ich zu Mackenrodt und berichtete von meinem Fund und vor allem von den chaotischen Zuständen in betreffendem Haushalt und davon, dass die Existenzgrundlage einer kranken alten Rentnerin in verbrecherischer Art und Weise zerstört wurde.

Mackenrodt war außer sich, nicht wegen der ausgeraubten Wohnung, sondern wegen des wertvollen Geschirrs, das man ihm angeblich vor der Nase wegschnappte und wegen der tollen Öfen. Er hatte sofort einen Antiquitätenalmanach von 1989 parat, in diesem Fall nicht brandneu, aber mit halbwegs aktuellen Preisangaben. Der Kopenhagener Rundofen stand mit zweitausend DM zu Buche, ebenso der transportable Gussofen. Der Kachelofen der Firma Teichert wurde schon mit knapp neuntausend DM versteigert. All das interessierte mich nicht im Geringsten. Ich redete wie ein Buch auf Mackenrodt ein und konnte schließlich den äußeren, harten Kern dieses Geschäftemachers sprengen. Er zog in Erwägung, diese Scheusale des Leipziger Nordens vom Diebesgut zu befreien. Ich schlug natürlich vor, die gestohlene Ware, falls wir sie in die Hände bekämen, der ehemaligen Besitzerin auszuhändigen. Mackenrodt sah mich an, als redete ich irre und tippte sich an die Stirn. »Wat soll’n dette?«, fragte er, »vielleicht holt die Olle de Pollezei, wat’n dann?! Kannste beweisen, det de ‘ne saubere Weste hast? Nee! Also, wenn ick mir einsetze, denn will ick det Zeuch ooch hamm! Vor allem – wat is’n mit die Bilder, die dort jehang’ haben? Wenn wa rauskriejen, wo der Dieb wohnt, schickich ‘n Paar Leute ins Renn’! Mach’n wa allet ohne Pollezei logo!« Mackenrodt war also mit allen Wassern gewaschen. Ich vermutete sogar, dass er sich irgendwann in der Schutzgelderpresserscene bewegt hat, natürlich nicht als Opfer! Ich sah Mackenrodt so ungläubig an, dass er mir den Hörer seines Funktelefones vor die Nase hielt. Er forderte mich auf, das Polizeirevier am Eutritzscher Markt anzurufen. Nach langem Hin und Her tat ich’s. Eine schnarrende, weibliche Dienststimme war zu vernehmen. Sie fragte nach dem Teilnehmer. Weil ich nicht sofort reagierte, meinte die Teilnehmerin, ich könne gern Fraktur reden, denn auch anonyme Anrufer fänden Gehör! Ich wollte nicht Fraktur reden, denn ich fragte mich, warum und mit wem?! Mir war unklar, wie ich den Fall kurz und trotzdem prägnant schildern sollte, zumal die Dame am anderen Ende der Leitung auf Grund ihrer Zeitknappheit ungehalten wurde. Ich begann also damit, dass ich das Haus, die Wohnung und die hilfebedürftige Person durch reinen Zufall entdeckt hätte. »So etwas gibt’s nicht!«, fiel mir die Polizistin ins Wort. Wut stieg in mir hoch, doch ich fuhr unbeirrt fort und begann den Tatbestand nach meiner Version darzulegen. Nach wenigen Minuten wollte mich die Dame vom Polizeirevier beinahe als den eigentlichen Täter entlarvt haben. Da war die Rede von Alibis, von Nachweisen meiner Identität, von Fingerabdrücken in der Wohnung der Geschädigten und davon, dass es womöglich zwei oder mehr Täter geben könnte. Zum Schluss sollte ich mich unverzüglich zum Revier begeben. Mackenrodt hielt seine rechte Ohrmuschel so an den Telefonhörer, dass er den polizeilichen Wortlaut mitbekam. Er grinste hämisch und nickte mir zu. Dann drückte er die Gabel herunter und das Gespräch war beendet. »Det is nu der Dank von die Bull’n an dir braven Staatsbürja, hmm?«, triumphierte Mackenrodt. Mit der Polizei hatte er nie etwas am Hut. »Keene Angst von wejen die Fangschaltung«, sagte er, »mein wasserjekühltet Funktelefon kann keena orten un außadem isset nich registriert!« Zugegeben – ich war froh, dass mich Mackenrodt über diese Tatsache unterrichtete! Er ging tatsächlich mit einem mobilen Telefon der ersten Generation um und das war gut so! Mein Anruf bei der Polente konnte höchstens mitgeschnitten werden. Mein Bericht war überhaupt Nonsens. Mit einer offiziellen Anzeige gegen Unbekannt hätte ich mein eigenes Grab geschaufelt. Es gab, wie ich später erfuhr, so etwas wie eine Antiquitätenmafia und betreffender Mafiosi, der zurzeit im Leipziger Norden umging, verstand sein Handwerk, sogar in fachlicher Hinsicht!

Am nächsten Morgen fuhren wir wieder in die Georg-Schumann-Straße. Die Korridortür stand offen, wie am Vortag. »Freilich, ich hab die Tür offen gelassen, wissen Sie, falls ich mal schreien muss!«, gab die Wohnungsinhaberin bekannt. Das Haus war sonst unbewohnt. Wen wollte die Frau bei Gefahr also zusammenschreien? Mackenrodt bewegte sich durch die Wohnung wie ein Elefant im Porzellanladen. Dabei pilgerte er durch alle Zimmer, gaffte in alle Schränke und Schubläden und hob sogar einige Sofadecken in die Höhe. »Dich hamm se ausjenomm’ wie ‘ne Weihnachtsjans, Oma, wahh?!«, so der Flegel Mackenrodt. Dabei sah er der Frau Wachsmuth lachend ins Gesicht, als hätte es sich um einen Dummenjungenstreich gehandelt. Jetzt strich die zum Erbarmen abgehungerte Katze auch um seine Beine. Er erwiderte diese Liebkosung, indem er dem Tier mit der Hand über den Rücken strich, dann verschwand er ohne Worte. Ich nahm an, dass er das Grundstück nach Brauchbarem inspizieren wollte. Nach wenigen Minuten stand Mackenrodt wieder im Flur und trug unterm Arm eine Vierteljahresration Kittekat und fünf Liter 1,5% prozentige H-Milch aus dem naheliegenden Konsum. »Is jut für Katzen wejen die Fettprozente, weeste?«, sagte er zu Frau Wachsmuth. »Ich versteh’ die Welt nicht!«, antwortete sie. »Brauchste ooch nich!«, war die Antwort, »bin ja nich de Welt!« Mackenrodt war freilich nicht die Welt, aber in gewissen Situationen doch ganz umgänglich. Jetzt wurschtelte er ungeniert in Utensilien der Mieterin herum und fand irgendwo eine Automatenvisitenkarte, die jeder hergelaufene Hanswurst per Knopfdruck entwerfen konnte.

»Kiek ma! Da denkste Wunda wat un’s is doch’n richtijes Scheißding, diese Visitenkarte, damit kann jeder hochstapeln!«, sagte Mackenrodt und hielt mir seine Karte unter die Nase: »‘S is’n richtijes Comple... Complementkärtchen aus die Druckerei!«, stotterte er. Dabei vergaß Mackenrodt, dass jeder Scharlatan über solche tollen Legitimationsmittel ebenfalls verfügen konnte, wann immer er wollte. Ich kam plötzlich auf eine Idee: Die Karte trug weder Namen noch Adresse, war aber mit allem möglichen Schnickschnack bedruckt. Da sah man ein menschliches Haupt und darüber breitete die Mutter Gottes ihre Hände schützend aus. Rechts unten war eine Telefonnummer erkennbar »In der Not!«, stand gedruckt darunter. Ganz klar – es war die Rufnummer eines mobilen Telefons – wie sollte es anders sein, denn so wiegten sich alle Übeltäterinnen und Übeltäter in Sicherheit. »Hach!«, sagte Frau Wachsmuth, »da ist ja mein Lesezeichen! Neulich war eine Hauswirtschaftshilfe an der Wohnungstür, der angeblich übel geworden war. ‘S war so ‘ne Blondine mit blassem Gesicht – bestimmt war sie schwanger! Naja, ich habe sie in die Wohnung gelassen, weil sie um ein Glas Wasser bat. Dann hat sie geredet wie ein Buch und zum Schluss war sie mit ihren Gedanken ganz und gar bei meinen Ersparnissen. Ach Gott noch mal, die junge Frau wollte sicher wissen, wie’s um uns Rentner so steht, die auf eine Mindestrente angewiesen sind – das ist doch kein schlechter Zug! Komisch, das Glas Wasser hat die Dame dann doch nicht angerührt. Und wenn ich etwas benötigen würde, könnte sie alle wichtigen Dinge für mich erledigen, meinte sie. Ich nehme doch etwas für meinen Kreislauf ein und habe darum gebeten, sie möge mein Rezept einlösen. Dem Mädel habe ich fünfzig DM gegeben, obwohl sie für das Medikament nur sechs DM gebraucht hätte. Ich hatte es nicht anders. Die junge Frau meinte, sie müsse sich beeilen wegen der Öffnungszeiten der Apotheke und ist losgestiefelt. Mit der Visitenkarte, die Sie da in der Hand haben, hat mich die junge Frau für Ihren Selbsthilfeverein anwerben wollen und gemeint, sie müsse das Kärtchen aber wieder zurücknehmen, da es im Moment nur das einzige Exemplar sei!« »Und?«, fragte ich ungeduldig, »wo ist diese Frau jetzt?« »Na, sie ist seit einer Woche verschwunden. Ich brauch meine Tabletten dringend!« Die Einnahme dieser Medizin war eben seit einer Woche überfällig und der alten Dame ging es ohnehin schlecht. »Dem armen Ding ist bestimmt etwas passiert!«, meinte Frau Wachsmuth. Dabei klatschte sie verzweifelt in die Hände. In Wirklichkeit war die Blondine seit vierzehn Tagen überfällig. Ich riss Mackenrodt die Visitenkarte aus der Hand, weil ich auf eine Idee gekommen war. Leider hatte ich keine Möglichkeit, die Adresse mit dieser Rufnummer zu identifizieren. So fasste ich den Gedanken, wenigstens den Namen der Diebin durch anwählen zu ermitteln. Mackenrodt beschäftigte sich momentan mit einem der alten Kachelöfen. Dabei war er mit dem Kopf bis zur Hälfte ins Ofenloch gekrochen und hatte sein Gesicht mit Ruß dekoriert. Er war hell begeistert. Um diesen Ofen abzutragen, war natürlich die Genehmigung des Grundstückseigentümers erforderlich. Mackenrodt plante, noch am gleichen Tag Feuerung, also Kohle, Kohlenanzünder und auch Holz für den Beistellherd in der Küche heranzukarren. Damit bestand wieder die Möglichkeit, sich erneut Zugang zur Wachsmuth’schen Wohnung zu verschaffen. Vorher hatte er wohl noch einige Termine in der Eisenacher Straße ,abzurubeln’, so formulierte er es jedenfalls. Zum einen handelte es sich um die Teilauflösung eines Haushalts und zum anderen um die Bewertung zweier alter Vertikos. Letzten Endes war ich mit von der Partie. Wir fuhren also in die Eisenacher Straße. Die betreffenden Grundstücke lagen nebeneinander und waren für den Abbruch vorgesehen. Die geplante Teilauflösung schien uns wichtiger. Wir läuteten an der Wohnungstür, an der sich wieder mal ein schönes altes Namensschild, Julius Hamann, befand. »Sehr verräterisch!«, sagte ich. »Wieso?«, fragte Mackenrodt. »Man kann leicht auf die Altersgruppe der Familie schließen, die dahinter wohnt!«, antwortete ich. Es rührte sich nichts, obwohl Mackenrodt mit der Wohnungsinhaberin verabredet war. Nach einer Weile wurde das Oberlicht der Korridortür geöffnet. Da war eine kleine, alte Frau, die sich auf die Zehenspitzen stellen musste, um uns wahrnehmen zu können. »Was woll’n Se’n?«, war die Frage. Mackenrodt erinnerte daran, dass er für die Besichtigung des Haushaltes Hamann avisiert war. Die Frau krachte das Oberlicht einfach wieder zu. Wir ließen nicht locker und läuteten nochmals, dieses Mal ziemlich lange. Jetzt ging das Oberlicht wieder auf und Frau Hamann ließ ein Donnerwetter los. Sie schimpfte auf Gott und alle Welt, die in die Taschen ehrlicher, rechtschaffener Leute grapschte, um sich auf kriminelle Art und Weise zu bereichern. »Wat denn, Muttchen?!«, so Mackenrodt. Er war bei der Alten schließlich an der falschen Adresse. »Ich bin nich Ihr Muttchen, vorschtanden?!«, war die Antwort. Nach langem Hin und Her gelang es mir, die Frau zu besänftigen. Sie öffnete sogar die Korridortür einen Spalt, dann zog sie vom Leder: »Da war so ‘ne Ische von Altenhilfe, die mir was von Nächstenliebe vorbrabbelte. Zwischendursch wollte se ’n Glas Wasser, weil ihr übel war. Vielleicht war‘s Aas schwanger?! Der angehende Vater müsste se sitzen lassen – das wünschte isch! Oh Gott! Dann hat se mir so ‘ne komische Wisitengarde unter de Nase gehalten. Isch gloobe, da war so’n heiliges Motiv offgedruckt. Drunter stand noch ne ellenlange Delefonnummer und de Offschrift – für’n Notfall!. Dann hat das Balg gesacht, dass es nur noch eene dieser Wisitengarden besitzt, sie müsste erscht widder welsche drucken lassen und hat se widder eingesteckt. Raffeniert eingefädelt, nisch? Drecksche Fingernäschel hattes Luder! Plötzlich war’s verschwunden. Das Glas Wasser hat die Frau gar nisch angerührt. Bevor isch gemerkt hab, dass meine Handtasche mit Inhalt fort war, hat schon wieder eener geklingelt und ‘n Mann stand draußen. Der hat nach alten Nähmaschinen gefragt. Ich hab’n reingelassen und ihm das Ding gezeischt. Is ‘ne »Singer« von 1900. Der Mann hat sisch in Wirlichkeit nur für meine Elfenbeinminiatur interessiert. Er hat gesagt, dass er die Maschine nehmen würde, doch erst Geld holen müsse, denn so viel hätte er nich in dor Dasche. Dann isser verschwunden, natürlisch mit meiner Miniatur! Von der Polente hab ich mir abber was anhören müssen, weil ich irgendwelche Typen in de Wohnung gelassen habe, einfach so!« In den Augen der Rentnerin lag Verbitterung. Dann schmiss sie uns die Tür vor der Nase zu, schaute jedoch wieder durch das Oberlicht. Man sah nur Augen und Nasenspitze der Frau. »Eigentlich machen Se geen schlechten Eindruck, aber heute werd’s nüscht mit uns! Isch muss den Ärger erscht verdauen – gomm‘ Se nächste Woche widder!«, sagte sie.

»Da hamm wa noch die Teilufflösung!«, erinnerte mich Mackenrodt. Das betreffende Grundstück befand sich am anderen Ende der Eisenacher Straße. Die Haustür war verschlossen. Wir läuteten im ersten Obergeschoss. Da schnarrte es durch die Sprechanlage, dass es zurzeit höchst »unpässlich« sei zu läuten, weil man im Hause derzeit die obligatorische Mittagsruhe hielte. »Sehr witzig, 11.15 Uhr!«, sagte ich mir. Ich hätte gern noch einen zweiten Versuch gestartet, um an die Leute heranzukommen. Dieses Mal machte sogar der selbstbewusste Mackenrodt einen Rückzieher. Natürlich hatten sich die Ereignisse im Leipziger Norden herumgesprochen. Die Leute machten jedenfalls ihre Schotten dicht.

Wir haben die Funktelefonnummer der Trickdiebin gewählt – vergeblich! Mehrere Tage vergingen. Erneute Versuche schlugen fehl. Ich fingierte ein saftiges Antiquitätensammelsurium, bei dem die Langfinger mit Sicherheit auf den Leim gehen würden. Um ein nettes Verkaufsangebot zu entwerfen, musste ich erst eine »Strohperson« finden. Es gelang mir, wenn es auch mehrere Tage in Anspruch nahm. Da gab es eine gewisse Frau Almstädt, hypermodern eingerichtet. Von allem angeführten Inventar gab es nicht die Bohne. Dazu befand sich, natürlich zu ihrem Leidwesen, ihre Wohnung im vierten Obergeschoss. Frau Almstädt hatte diese Wohnlage einst gewählt, da, wie sie meinte, durch die Leute weniger Dreck abgelatscht würde. Und weil ihre Kinder mit im Haus existierten, befürchtete sie auch keinerlei Repressalien in der Zukunft.

»Sie brauchen sich beim Schreiben keine Mühe zu geben! Wenn Sie keine ruhige Hand dabei haben, umso besser!«, sagte ich zu Frau Almstädt. Sie schmunzelte. »Natürlich, wenn es einer guten Sache dient, immer zu! Latein hammer in der Schule gelernt!«, sagte sie und schrieb und schrieb. »Toll!«, sagte ich. Nach drei Ansätzen meinte sie, dass sie aus der »alten Schule« stamme und vorliegendes Manuskript nicht schlechter hinbekommen würde, als es schon vorläge. Außerdem sei es mal etwas ganz neues, dass ein solch gekliertes Manuskript gut benotet wird! Ich fand das Äußere des Textes trotzdem zu akkurat und befürchtete, dass niemand auf den Inhalt hereinfallen würde:

Altershalber und wegen Umzugs billig abzugeben:

Eine Standuhr von 1840,

einen Biedermeier-Schreibsekretär,

zwei Käthe-Kruse-Puppen,

schöne, alte Ölbilder,

Meissner Porzellan, diverse alte Gläser,

gute Literatur usw.

Ich will kein Vermögen, doch schön wäre es, wenn diese Dinge in gute Hände kämen!

Hochachtungsvoll

Luise Almstädt, Gothaer Str. ...

Kein normaler Mensch würde dieses Angebot als bare Münze betrachten, aber die menschliche Gier nach Reichtum und Besitz sieht es anders. Mackenrodt und ich ließen ca. 100 Exemplare dieses Aushanges kopieren und platzierten sie in für mich wichtige Gegenden von Gohlis, vor allem in die Gothaer und Eisenacher, sowie in die Georg-Schumann- und Lützowstraße. Dabei dachten wir nicht daran, die Hausflure zu verwenden, sondern zweckten die Zettel gleich außen auf die Haustüren. Anschließend kramte ich das Komplimentkärtchen heraus, welches die als Hauswirtschaftshilfe getarnte Übeltäterin im Wachsmuthschen Haushalt verloren hatte. Ich versuchte mit dem Anwählen der Funktelefonnummer den Namen dieser Frau herauszubekommen. Nach dem fünften Versuch vernahm ich ein lang gezogenes, eher gelangweiltes Ja. Ich ließ einige Zeit verstreichen und startete einen neuen Versuch. Dieses Mal hörte ich ein Atmen am anderen Ende der Strippe. Die Fernsprechteilnehmerin harrte wohl des Textes, der nun gesprochen würde. Um kein Misstrauen zu erwecken, fragte ich einfach nach dem Abflussreinigungsdienst, Landsberger Straße. Ich schrie in den Hörer, heulte fast und simulierte die größte Havarie der Welt in einem Wohnhaus betagter Bürger. Dabei fragte ich, ob der Teilnehmer nicht etwa solch ein Gewerbe vertreten würde. Ich gab vor, dass ich die Funktelefonnummer von der Auskunft bekommen hätte. »Isch vertrete nüscht un niemanden – das hier is priwat! Belästigen Se misch nisch weiter!«, plärrte die Frau, dann war das Gespräch zu Ende. Die Mutter Gottes hatte also den Hörer auf die Gabel geworfen. Ich fand, dass die weibliche Trickdiebin ihren Job denkbar schlecht ausführte, hatte sie doch, wenn sie auch ihren Namen nicht preisgab, die ganze »Kiste« verraten. Ich verglich noch einmal die von mir gewählte Telefonnummer mit der auf der Visitenkarte – die Zahlen waren identisch.

Ich hoffte nun, dass der üble Fisch in unsere Köder an den Haustüren biss, bzw. auf unser Verkaufsangebot reagierte. Es vergingen einige Tage. In der Heinrich-Budde-Straße schlug wieder mal der Teufel in Menschengestalt zu. Es heißt doch so schön: Durst ist schlimmer als Heimweh! Eine junge Dame bat um ein Glas Wasser, grapschte jedoch eine Handtasche mit der Mindestrente einer betagten Bürgerin. Möglicherweise war das wieder mal die Handschrift unserer Mutter Gottes. Dann war es soweit. Einige Tage später, morgens in der Früh, schepperte die Klingel bei Luise Almstädt. Eine Frau, hagerer als hager, stand auf dem Trottoir und identifizierte sich als die Lebenshelferin aller Zeiten. »Ach, sie kommen wohl nicht wegen meines Verkaufsangebotes?«, fragte Frau Almstädt. Die junge Dame stellte sich dumm. Sie fragte ganz beiläufig, welche Dinge zu veräußern seien. Dabei schaute sie wie gebannt auf den Aushang an der Haustür und dann nach oben zum Fenster. »Liebes Kind«, rief Frau Almstädt nach unten, »bitte kommen Sie doch in einem viertel Stündchen wieder. Ich bin noch nicht ganz angezogen. Außerdem bin ich körperbehindert und brauch geraume Zeit, bis ich salonfähig bin!« »Das vorschteht mor doch! Wenn Se Hilfe brauchen, horchen Se droff, isch bin ‘ne Art Hauswertschaftshilfe off Abruf!«, so die junge Dame von der Straße. »Ich schließe nachher die Haustür auf, dann kommen Sie gleich ganz nach oben in die letzte Etage!«, so Frau Almstädt. Sie spielte ihre Rolle mit Bravour. Die junge Frau redete jetzt wie ein Wasserfall und versuchte, die alte Dame zu überzeugen, dass es jetzt und sofort am besten sei, sich näher kennen zu lernen. »Vielleicht könn’ Se’n Haustürschlüssel runterschmeißen, dann brauchen Se sisch nisch den weiten Wesch nach unten zu machen!« »Sehr nett von Ihnen, Frau ... also, wie war doch Ihr werter Name gleich? Nun, wir lassen’s bei uns ‘rem viertel Stündchen. Es kann ruhig auch fünf Minuten länger dauern!«, entgegnete Frau Almstädt, weil die Dame schwieg. Jetzt verschwand sie für dieses akademische Viertel. In der Zwischenzeit alarmierte Frau Almstädt Mackenrodt und mich per Telefon. Wir kamen gerade richtig. Die verkappte Hauswirtschaftshilfe stand schon bei Almstädts auf der Matte. Mackenrodt ging voran. Er hatte wie immer sein ,angeschlissenes’ Arbeitskostüm auf dem Leib und blieb unauffällig, wenn er sich als Mitarbeiter der Wohnungswirtschaft ausgeben würde. Die junge Dame betätigte den Klingelknopf. Fast zeitgleich waren Mackenrodt und ich zugegen. Wir blieben anstandshalber zwei Stufen unterhalb des Treppenpodestes stehen. Frau Almstädt öffnete die Tür und begrüßte uns von weitem. »Ach Sie sind es – Gott sei Dank!«, rief sie. »Entschuldigen Sie, junge Frau ... wie war doch gleich ihr Name?«, fragte sie erneut. Möglicherweise arbeitete die Diebin mit allerlei Familiennamen, sodass ihr im Moment kein neues Pseudonym einfiel. Nun schickte sie sich an, die Segel zu streichen, denn unsere Anwesenheit schien ihr absolut nicht in den Streifen zu passen. Frau Almstädt wendete sich klugerweise Mackenrodt zu, der, wie sie jetzt bekannt gab, wirklich der Retter in der Not sei. Ein Wasserrohrbruch bahnte sich an und zwar in der Küche. »Jetzt tropft es nicht nur, sondern das Wasser läuft schon ganz ordentlich. Der Mieter unter mir hat schon eine nasse Zimmerdecke! Das ist nämlich der Klempner von der Wohnungswirtschaft, der uns schon lange betreut. Das tut mir natürlich Leid, dass Sie nun umsonst gekommen sind. Ach was, dann nehmen Sie doch ein Momentchen hier im Flur Platz! Der Herr Fritzsche ist so geschickt, dass er wohl die Reparatur sicherlich schnell hinbekommen wird!«, fügte Frau Almstädt hinzu. Sie spielte ihre Rolle wieder mal perfekt. Die junge Dame, blassbläulich im Gesicht, zog es vor, lieber stehen zu bleiben. Die Haut um den Augapfel ihres rechten Auges schillerte in allen Farben, weil die Verletzung wohl schon am Abklingen war. Frau Almstädt hatte in ihrem langen Stadtschwesternleben alle Milieus kennen gelernt – nicht nur das Auge der Dame allein sprach schon Bände, sondern auch Kledage und Haartracht. Alles an der jungen Frau erschien milieubedingt. »Armes Würstchen!«, dachte Frau Almstädt, »sieht mir ganz nach zuhälterischer Wirtschaft aus!« Die junge Frau war eine so genannte Fixerin. Obwohl es im Osten seltener Drogenprobleme gab, bemerkte Frau Almstädt die Kanüleneinstiche zwischen den Fingern. »Möchten Sie einen Kaffee?«, fragte sie. Jetzt nahm die Dame doch auf einem Hocker Platz und nahm an. »Ist der Rest von vorhin, aber noch heiß. Übrigens bin ich Diabetikerin und muss zu vorgegebener Zeit frühstücken – es ist auch wegen der Medikamente, wissen Sie?«, sagte Frau Almstädt. Mackenrodt werkelte pro forma in der Küche herum, obwohl es nichts zu werkeln gab. Dabei inspizierte er wieder mal alle Ecken im Raum, ob es da nicht etwas an interessantem Hausrat zu entdecken gäbe. Jetzt stand er im Flur und hatte beide Hände in die Hüften gestemmt. »Un, wat is’n det für’n Job, den Se da machen?«, fragte er unverhohlen. »Hamm Se so wat wie’n Ausweis? Ick bin nämlich von’ne Wohnungsvawaltung, vateh’n Se? Un da sin wa ooch für de Sichaheit zuständich, wahh?« Frau Almstädt war es fatal, aber schließlich war dieser jähe Angriff auf die Vertreterin der Unterwelt die beste Methode, um den Umtrieben in der Stadt Einhalt zu gebieten. Jetzt wurde die junge Frau blasser und bläulicher, als sie schon war. Sie verteidigte sich nicht, sondern zitterte wie Espenlaub. Frau Almstädt wusste: Der nächste »Schuss« ist erforderlich! Die Gangsterbraut vom Leipziger Norden war gerade im Begriff, ein Wrack zu werden, wenn das nächste Heroin oder ähnliches Teufelszeug nicht unverzüglich herangeschafft würde. Mitleid empfand ich im Moment nicht, Mackenrodt wohl auch nicht. Die Blondine legitimierte sich in Windeseile, mit Astrid Bernauer, aber damit kam sie auch nicht an den im Moment »lebenswichtigen« Stoff. Uns half sie natürlich, den Weg zu ihrem Drahtzieher zu finden, zu einem Individuum aus der Drogenscene, das nebenbei Haushalte alter, gutgläubiger und alleinstehender Damen aufriss. Wie schon erwähnt, dieser Kandidat verfügte offenbar über ein fundiertes Fachwissen in Punkto Antiquitäten.

Astrid Bernauer hauste auf einem Hinterhof irgendwo auf der Magistrale Georg-Schumann-Straße. Sie war die gesuchte »Mutter Gottes«, die selbst dringend Hilfe benötigte. Über sie hielt nun Frau Almstädt ihren Schutzmantel, den einer normal sterblichen Leipziger Bürgerin. Astrid Bernauer kippte beinahe vom Stuhl. Sie hatte die linke Hand zur Faust geballt. Die Fingernägel bohrten sich in die Haut ihres Handballens, die Fingerknöchel waren weiß wie Schnee. Jetzt öffnete sie die Faust, das zerknüllte Complementkärtchen fiel zu Boden. Es nützte wohl nichts mehr. Die junge Frau stammelte ihren Frust von der Leber. Das blaue Auge verpasste ihr der eigene Boss und Zuhälter, denn körperliche Züchtigungen waren an der Tagesordnung. Und wenn Astrid Bernauer heute mit leeren Taschen auf die Bildfläche treten würde, sowieso. Sie erlitt vor Ort einen Kreislaufkollaps und blieb von derartigen Repressalien verschont, jedenfalls für heute. Vorher verriet sie ihren Auftraggeber Dombrowski, Betreiber eines widerlichen Schuppens von Nachtbar. Während ihre Stimme leiser und leiser wurde, nannte sie, wenn auch unvollständig, noch das Adressat ihres Peinigers: Landsberger Straße zweiund… , dann verstummte sie. Gemeinsam legten wir die junge Frau mit den Beinen nach oben auf ein Sofa. Frau Almstädt leistete Erste Hilfe. In der Zwischenzeit rief ich den Krankenwagen, der auch nicht lange auf sich warten ließ.

Mackenrodt und ich grasten noch am gleichen Tag die Landsberger Straße ab. Es war nicht ganz leicht, den »Gönner« der Frau Astrid Bernauer inmitten der fast eintausend existierenden Wohnadressen aufzuspüren. Wir wussten jedoch, dass wir mit der Suche innerhalb der Hausnummern mit geraden Zahlen beginnen müssten, also von 22 bis 92. Wir landeten gleich in den ersten Häusern unseren Volltreffer. Es waren die Grundstücke ab Nummer zweiundzwanzig. Wir gingen den Gerüchen nach. Es stank nach Kneipe, Schweiß und Pommesdunst. Da war ein Hinterhaus, ein kurzer Flur im Hochparterre und eine Kaschemmentür, an der ein windschiefes Schild hing: »20 Uhr bis ultimo«. In Klammern dahinter war zu lesen: »Nur für auserwählte Gäste!« Wir stiegen ins erste Obergeschoss und klingelten an einer der Korridortüren. Ein mürrischer Herr im fortgeschrittenen Alter öffnete die Tür einen Spalt. Ich erzählte ihm etwas von Haushaltsauflösungen, Kunstgegenständen usw. »Ich kümmere mich nicht um die Leute hier im Haus!«, sagte der Mann und knallte die Tür wieder zu. Über uns wischte eine Frau das Treppenpodest. Sie schaute übers Geländer und sprach uns an: »Woll’n Se etwa zum Dombrowski? Der ist immer auf Achse und handelt mit ,Antekwitäten’. Und außerdem treibt er noch ganz andere Dinge«, sagte die Frau und zeigte auf die Korridortür, hinter der angeblich Dombrowski wohnte. Wir begaben uns ins zweite Obergeschoss. »Unten am Briefkasten steht auch kein Name. Dieser Bewohner bekommt auch nie Post. Eigentlich braucht er keinen Briefkasten. `N Haufen Tamtam machen die da unten so ab 22 Uhr bis spät in die Nacht und auch bis zum nächsten Morgen. `S ist ne Schweinerei, kann ich Ihnen sagen! Ich hab neulich gefragt, ob’s nicht’n bisschen leiser geht, da hab ich zur Antwort bekommen, ich könne doch ausziehen. Schöne Nachbarschaft, nicht?« »Wo ist denn der Dombrowski jetzt?«, fragte ich, doch die Frau zuckte nur mit den Schultern. »Warten Se doch mal auf den! Vielleicht haben Se Glück! Wenn seine Nobel-Karosse vorm Haus steht, dann isser da!«, war die Antwort. Wir standen zwei Stunden in der Gegend herum, dann rollte tatsächlich eine Nobel-Karosse vor. Der Fahrer, in elegantem Mantel, stieg aus einem Mercedes der S-Klasse, aus. »Reichtum schändet nicht, bist bloß neidisch!«, raunte mir Mackenrodt ins Ohr und grinste. Mackenrodt tat mir Unrecht. Ich verspürte keinerlei Anwandlungen von Neid und sprach den Herrn einfach an, indem ich mich mit meinem Familiennamen vorstellte. Wider Erwarten entpuppte sich der Angesprochene als Freundlichkeit in Person. Er verschwieg dennoch seinen Namen, was mich ärgerte. Rein äußerlich machte er nicht den Eindruck eines Diebes, Frauenschlägers, Zuhälters und Drogendealers. Jetzt schob er sich eine Zigarette zwischen die Lippen, brannte sie an und zog kräftig daran, bis die Glut hell aufleuchtete. Diese Gebärde machte mich ein wenig stutzig. Ich studierte an diesem Typen so unauffällig wie möglich das, was man rein äußerlich auf die Schnelle so ausspionieren kann. »Vielleicht sollte ich mit meinen Vorurteilen auch vorsichtiger umgehen!«, sagte ich mir. Als der Typ dann lautstark über des Nachbars Zaun spuckte und seine Kippe hinterher schmiss, begrub ich meinen Vorsatz. Außerdem hatte ich immer noch darauf gewartet, dass sich mein Gegenüber ebenso vorstellen würde, wie ich es tat. Mittlerweile hatte ich mich zu seinem Fahrzeug begeben und sah hinter der Windschutzscheibe eine Hand voll dieser Complementkärtchen liegen, mit denen sich unsere Astrid Bernauer beim Hausieren legitimierte. Wir hatten also Dombrowski life vor uns. Mackenrodt ging anders zur Sache. Er schwafelte von interessanten Markenporzellanen, vornehmlich von denen der Meissner Manufaktur und schnitt dann die Marcolini-Periode bis 1814 an. Dombrowski horchte auf. Mackenrodt redete wie ein Buch. Er zog alle Register und übertraf dabei den Gangster Dombrowski. »Un weil icke imma so arweetsmäßich jekleidet bin, fall ick nich uff, awwa Jeld is vorhand’n! Damit hatte Mackenrodt bei Dombrowski auf einfache und plumpe Art und Weise Eindruck geschunden. Im gleichen Atemzug bot er für ein 12-teiliges Kaffeeservice die stattliche Summe von zehn Riesen. Dann lenkte Mackenrodt aus taktischen Gründen schon wieder ab und schwafelte von altem Blechspielzeug der Firma Märklin. Dombrowski wiederum ließ jetzt Mackenrodt nicht aus den Klauen und fragte, ob er nicht Interesse an einem solchen Service hätte. Er räumte sogar ein, dass einige Einzelteile wie Tassen und Untertassen fehlen würden, dafür aber einiges an interessantem Beiwerk existierte. Auf jeden Fall wären mindestens dreißig Porzellanteile vorhanden. Domb-rowski meinte, er hätte berechtigterweise Unter- und Obertassen einzeln aufgeführt. Ich stand auf dem Hof wie Max in der Sonne. Dombrowski und Mackenrodt waren jetzt Partner geworden. Ich befürchtete, dass Mackenrodt die wenigen guten Sitten vergaß, die noch in ihm steckten. Dombrowski verschwand und kam mit einer Obertasse zurück. Es war genau das Meissner Geschirr in indisch-purpur und chrom-grün, welches aus dem Haushalt der alten, gutgläubigen Frau Wachsmuth stammte. Dann verschwand Dombrowski mit Mackenrodt, um den erbeuteten Porzellanschatz vorzuweisen. »Ick hab nich so ville Zaster mit, bloß Zweedausend. Ick hol den Rest!«, sagte Mackenrodt, steckte Dombrowski ein Bündel Scheine in die Manteltasche und verschwand. Ich hatte gerade mal 50 DM in der Tasche. Außerdem war mir höchst unwohl zumute. Ich wusste, dass Mackenrodt nie und nimmer zehn Tausender für dieses Service zahlen würde und es darauf absah, die Ware unentgeltlich zu kassieren, da diese sowieso gestohlen sei. Nach Mackenrodts Version war so etwas legitim. Der ebenso mit allen Wässerchen gewaschene Dombrowski ging, von seiner Gier übermannt, tatsächlich auf das Angebot Mackenrodt’s ein. Er transportierte einen Bananenkarton in den Hausflur und schob ihn mit dem Fuß unter die Treppe. Darin war eben dieses Porzellan verstaut. Während der kurzen Abwesenheit Mackenrodt’s jagte Dombrowski mindestens drei Zigaretten durch die Lunge. Er rannte wie ein wildes Tier auf dem Hof hin und her, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Nach etwa einer halben Stunde kam Mackenrodt gleich auf den Innenhof gefahren. Er war nicht allein. Die drei Leute die ihn begleiteten, waren möglicherweise zwielichtiger als Dombrowski selbst. Bevor dieser einen Laut von sich geben konnte, war der Platz zum Hausflur versperrt. Ein anderer machte sich mit einem Springmesser am Vorderrad von Dombrowski’s 500er Benz zu schaffen, ohne zuzustechen. Domb-rowski, jetzt fassungslos, parierte aufs Wort. Man schmiss die Porzellankiste in Mackenrodt’s Kleintransporter. Ich bangte um das schöne Meissen von Marcolini und befürchtete, die Ware könnte zu Bruch gehen. Dombrowski war mir absolut egal. Ich hätte es lieber gesehen, man hätte ihn an Stelle des Porzellans ins Fahrzeug geworfen. Ich dachte über dessen mickrige Fäustchen nach, die dem rechten Auge der Astrid Bernauer so übel mitgespielt hatten.

Mackenrodt und zwei seiner Leute verschwanden mit Dombrowski in dessen Wohnung. Sie kehrten das ganze Inventar von oben nach unten und verursachten ein absolutes Chaos. Sie fanden zwei goldene Taschenuhren, die sie selbstverständlich mitgehen ließen. Domb-rowski nahmen sie wieder mit nach unten. Vom gestohlenen Schmuck allerdings gab es nicht die geringste Spur. Das grinsende Individuum Mackenrodt hatte ich so noch nicht erlebt. Dombrowski war machtlos und außerdem allein. Er trat nervös von einem Bein aufs andere. »Wo sind’n deine Türsteher?«, fragte einer der Begleiter Mackenrodt’s. »Kommen jeden Moment!«, bluffte Dombrowski, doch dessen Widersacher blieben trotz dieser Information unbeeindruckt. Es war gerade mal 11 Uhr vormittags. Der Barbetrieb in Dombrowskis »Filiale« begann erst abends 20 Uhr. Ich legte es darauf an, mit Mackenrodt wenigstens für einen kurzen Moment allein sprechen zu können. Ich wusste um seinen 7. Sinn. Er ging mir natürlich aus dem Weg, weil ich von ihm fordern würde, die arme Rentnerin, Frau Wachsmuth, zu entschädigen. Was Mackenrodt einmal in den Klauen hatte, gehörte ihm, unwiderruflich! Dann war der Moment gekommen. Mackenrodt’s Begleiter stiegen ins Fahrzeug. Er selbst lief um den Transporter herum, um sich an die Fahrerseite zu begeben. Für ihn war alles geklärt. Dombrowski war ohne Zeugen und das Diebesgut wurde ihm abgejagt. An dieser Stelle endete für Mackenrodt jegliche Diskussion über Fragen der Moral. Er fragte mich lediglich, ob ich mitfahren wolle. Ich legte bewusst eine außenseiterische Rolle an den Tag und verneinte. Ich rechnete damit, dass ich Dombrowski im Rahmen meiner Ankaufsaktionen in und um Leipzig irgendwann in die Arme laufen könnte. In diesem Moment schwor Dombrowski unerbittlich Rache. Dieser Plan war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Mackenrodt war mit seinen Leuten auf und davon. Das linke Vorderrad des Mercedes Benz war platt. Einer von Mackenrodt’s Begleitern hatte den Ventileinsatz zur Hälfte heraugedreht, unter der Maßgabe, dass Dombrowski ins Fahrzeug steigen würde, um der Mackenrodt’schen Truppe zu folgen. Ich selbst war gerade im Begriff, das Weite zu suchen. Der Boden unter meinen Füßen war heißer als heiß geworden. Ich selbst betrachtete mich als Mittäter. Das gleiche tat Dombrowski. »Wir sprechen uns noch!«, rief er mir nach. Ich war gerade im Begriff, mich über den Hausflur auf die Straße zu begeben, als eine »Grüne Minna« mit vier Beamten durch die Toreinfahrt auf den Hinterhof raste. Dieser Besuch galt Dombrowski. Die Polizisten stiegen aus, schoben ihn ins Fahrzeug und düsten davon. Vermutlich waren sie den Angaben der Astrid Bernauer gefolgt. Der Mercedes Dombrowski’s stand auf dem Hof, die Beifahrertür stand noch offen. Als die Luft rein war, stieg ich ins Fahrzeug, grapschte mir einige der Complementkärtchen, die hinter der Windschutzscheibe lagen, stieg wieder aus und war gerade im Begriff, die Tür des Fahrzeuges zuzuwerfen. Mir fuhr der Schreck durch die Glieder – da war schon wieder die Polizei auf dem Hof. Ich gab der Fahrzeugtür einen kraftlosen Schwung, sodass sie nur halb ins Schloss rastete. Nun war ich natürlich der stolze Besitzer des Mercedes Benz mit dem polizeilichen Kennzeichen L für Leipzig und hatte auch noch die Hüter des Gesetzes am Hals. Meine Identität wurde gar nicht erst festgestellt. In der Hoffnung, dass man sich mit der Einsichtnahme in meine Papiere zufrieden geben könnte, griff ich in die Jacke, um nach Führerschein oder Ausweis zu suchen. Das hätte ich nicht tun sollen, denn dieser Griff war für die Polizei mit einem Griff zur Waffe identisch. Die Polizisten schickten sich an, mir den Arm auf den Rücken zu drehen. Es geschah nicht, weil ich mich ohne jeglichen Widerstand abführen ließ. Nun saß ich zwischen zwei Beamten auf dem Rücksitz und wurde zum Revier kutschiert. Das Herz schlug mir wieder mal bis zum Hals. Dabei dachte ich an meine irrtümliche Verhaftung damals, als man mich zum Polizeirevier Leipzig-Mitte, Ritterstraße, eskortierte. Dann erfolgte auch noch eine Gegenüberstellung mit einer zu Befragungen engagierten Dame aus der Wittenberger Straße 58. Es war keine Geringere als Irma Kaminski. Sie hängte sich mir an den Hals und winkelte dabei das rechte Bein an. »Hallo Christian!«, rief sie. Irma wurde energisch zur Ordnung gerufen. »Mir genn’n uns!«, rief sie. »Sieht man!«, so die Antwort der Polizisten. Irma nahm auf einem der Stühle Platz. Jetzt herrschte absolute Stille im Raum. Man hörte nur das Ticken der Wanduhr. Ich merkte, wie mich Irma von der Seite fixierte. »Hab’ch was falsch gemacht?«, fragte sie. »Noch nicht!«, antwortete eine Beamtin in Zivil. Es war die Kommissarin, die in mir anfangs den großen Fisch Dombrowski an der Angel sah. Ein Kommando war zur Verhaftung Dombrowski’s ausgeschwärmt und im Nachhinein eine Funkstreife zur Verhaftung meiner Person aktiviert worden. »Entschuldigen Sie vielmals, Herr Drehwolke, Sie sind einer Verwechslung zum Opfer gefallen!«, so die Kommissarin. Als sie das Wort Opfer aussprach, begann sie zu lächeln. Übrigens hatte sie gewisse Ähnlichkeiten mit meiner damaligen Chefin, Lokalinhaberin Pallhuber auf dem Leipziger Hauptbahnhof. Ich war also für kurze Zeit Dombrowski und der hieß nicht Christian, sondern Helfried. Irma hatte mich wieder mal gerettet. Sie entstammte dem früheren Bekanntenkreis der Astrid Bernauer. Die Bernauer war der Schlüssel zum Fahndungserfolg der Ermittler. Sie wurde vorerst unter Polizeischutz gestellt. Dombrowski wurde wegen verschiedenster Delikte seit einiger Zeit gesucht. Später kursierte sein leicht verschleierter Kopf auf den Titelseiten verschiedener Klatschblätter durch die Welt.

Netterweise bot mir die Polizei an, mich nach Hause zu kutschieren. Ich lehnte ab, weil ich gedachte, vor dem Revier auf Irma zu warten. Heute wollte ich sie einladen, um mit ihr zu speisen, einfach so. Dazu hatte ich den »Paulaner« in der Leipziger Innenstadt auserkoren. Vielleicht fühlte mich auch ein wenig zu Irma hingezogen. Eine Schönheit war sie nicht. Äußerlichkeiten standen bei mir auch nie im Mittelpunkt. Immerhin – wie mich Irma heute auf dem Polizeirevier begrüßte, war mit Sicherheit kein Ausdruck irgendwelcher ihrer Marotten von früher. Ich vermutete eher Sympathie mir gegenüber. Irma könnte mir vielleicht den Rest dieses meines total versauten Tages ein wenig verschönen. Was ich jetzt brauchte, war Konversation, nichts anderes. Da waren ja auch die alten Zeiten, über die es viel zu schwatzen gab. Zu meinem Entsetzen stand da noch ein Herr, der alle zwei Minuten auf die Uhr schaute. Ich dachte für Sekunden daran, dass dieser irre Typ Irmas neue Errungenschaft sein könnte. Dann aber verwarf ich diesen Gedanken. Gegensätze ziehen sich an, wie es da so schön heißt, doch die Gegensätze zwischen dem Herren da mit Mantel und Hut und dem schon etwas reiferen Teenager Irma Kaminski waren krasser als krass. Weil es anfing zu regnen, stellte ich mich unter eine Linde und verbarg mich hinter ihrem Stamm. Nun harrte ich der Dinge, die da kommen würden und sie kamen! Der Herr da an der Außentreppe des Polizeireviers öffnete seinen Regenschirm, brachte mit der linken Hand seinen Mantelkragen in Ordnung und nahm eine straffe Haltung ein. All das geschah in Erwartung dessen, dass die Pendeltür aufgehen würde und die erwartete Person durchmarschierte. Ich traute meinen Augen nicht – es war Irma, die ihren um vieles älteren Partner um mindestens einen Kopf überragte. Irma versuchte sich bei diesem Herren einzuhaken, was auf Grund der unterschiedlichen Körpergröße erst einmal misslang. Nun hakte sich der Herr bei Irma ein und Irma ergriff den Schirm. Es sah aus, als ließe sich ein größerer Schuljunge gegen den Willen seiner Mama ins Schlepptau nehmen. Inzwischen wurde der Regen vom Sturm in alle Richtungen gepeitscht. Irma hielt den Regenschirm vor die Gesichter, sodass es mir nicht möglich war, den Herrn zu erkennen. Ich war trotzig wie ein Kind und schlich den beiden nach, wütende Eifersucht stieg in mir hoch. Meine Verfolgungsjagd endete an der Straßenbahnhaltestelle der Linie 16 am Eutritzscher Markt. Die Straßenbahn kam, Irma klappte den Regenschirm zu und der Begleiter stieg als erster in die Bahn. Das Gesicht des Herrn wurde von der Innenbeleuchtung der Straßenbahn erhellt. Die Gesichtszüge wiesen große Ähnlichkeiten mit denen Irmas auf. Ich dachte an Irmas Vater. Weil auch der Altersunterschied stimmte, war ich einigermaßen beruhigt. Dann schrie mich eine Frauenstimme durch die noch offene Straßenbahntür wach. Irma hatte sich durch die Fahrgäste zur Tür zurückgedrängelt. »Hallo Christian!«, rief sie, »lass dich sehen, komm in die Wittenberger ... « Dann schloss sich die Tür und die Bahn ruckte an.

Mackenrodt ist am Tag meiner irrtümlichen Verhaftung ein Stück ziellos durch die Landsberger Straße gefahren und hat den Weg retour angetreten. Er wollte mit mir die Entschädigung der alten Frau Wachsmuth besprechen, so die Aussage Mackenrodt’s. Weil er mich im Gewahrsam der Polizei erblickte, schwebte er wohl in Ängsten, ich könnte womöglich »plaudern«. Dazu berichtete ich, dass man mich lediglich mit Helfried Dombrowski verwechselt hatte. Damit war Mackenrodt zufrieden. Unglücklich war ich jedoch darüber, dass er Umgang mit der Leipziger Unterwelt pflegte. Aus diesem Grund wurde mir der Kontakt zu Mackenrodt in zunehmendem Maße unangenehm. Dass er die alte Frau Wachsmuth entschädigte, war wiederum ein guter Zug, obwohl er dabei seinen Gewinn einstrich. Übrigens sollte ich von ihm eine Art Handgeld bekommen. Dazu schob er einige kleine Scheine über den Tresen. Er dachte sich wohl nichts dabei und wurschtelte im Nachhinein schon wieder in den Scheinen herum, wohl um einen Teil des Zasters zurückzunehmen. Bisher konnte ich mit dem Poltersack Mackenrodt gut umgehen, nach meinem Gutdünken jedenfalls, doch dieses Mal schlug ich ihm empfindlich auf die Finger und steckte das Geld in meine Tasche. Entsetzen schoss aus Mackenrodt’s Augen. Er verstand die Welt nicht mehr und hielt mir im Affekt seine rechte geballte Faust vors Gesicht, dann öffnete er sie und spreizte Daumen und Zeigefinger. Ich hatte das Gefühl, als wollte er darauf schwören, ich sei die Ausgeburt der Hölle. Im Übrigen glaubte ich, dass der beinahe zweijährige Kontakt zwischen mir und Mackenrodt für die Katz gewesen sei. Aus diesem Grund drehte ich mich auf dem Absatz herum und ging. Mackenrodt stellte sich mir in den Weg, um mich zu beschwichtigen. Dabei heulte er mir die Ohren voll, welchen Aufwand er für den Erwerb des so mittelprächtigen Marcolini-Services von Meissen betrieben habe. Allerdings schob er mir noch einen Zweihunderter rüber, wohl aus seinem Schuldbekenntnis heraus. Ich nahm diesen Schein natürlich gern, weil mir das Hemd in finanzieller Hinsicht näher war, als der Rock. Charakterlich fühlte ich mich äußerst schwach und schämte mich vor mir selbst. Letzten Endes ärgerte ich mich nur noch darüber, dass Mackenrodt dieses seltene zweihundert Jahre alte Service als Massenware betrachtete. Nicht dass sich unsere Wege trennten, aber unser Kontakt riss erst einmal ab. Mackenrodt ließ das Möbelgeschäft im Auftrag weiterführen, währenddessen er sich für einige Monate nach Berlin-Moabit verzog. Im Moment war ich schockiert, weil mich mein Brötchengeber in der Luft hängen ließ. Wie ich später erfuhr, war dies keine Marotte gegen mich. Private Gründe waren da im Spiel, die Mackenrodt’s Leben grundlegend veränderten. Mit kontinuierlichen Lohnzahlungen war es aus und vorbei. Eigentlich bewegte mich das nicht sonderlich, denn in den vorangegangenen Tagen hat mich Hasan Ali Abdullah nach Berlin gerufen.

Frau Wachsmuth war inzwischen in einem besseren Pflegeheim gelandet. Besonders glücklich war ich darüber, dass sie dort ein angenehmes Domizil fand.