Unkraut vergeht – Der Messie vom Kurfürstendamm
Ich liierte mich mit der Berliner Firma Mackenrodt, Antik und Trödel. Sie erschien Anfang der 90er Jahre auf der Leipziger Plattform. Dass ich in dieser Firma einstieg, wollte der Zufall, obwohl mein Vater einmal sagte, dass es keine Zufälle gäbe. Ich folgte dem Aufruf eines Aufkäufers: »Suche zu Höchstpreisen alte Waagen, Kaffeemühlen, Gewürzgarnituren, transportable Uralt-Öfen, sowie Nähmaschinen etc!« Hinter dieser Anzeige steckte wesentlich mehr, als man je ahnen konnte. An Nähmaschinen und Öfen allgemein dachte kein Händler im Traum. Dieses Gesuch war ein Mittel zum Zweck, boten doch viele Leute Nähmaschinen und alte Öfen in Hülle und Fülle an. Damit bestand die Möglichkeit, eben in die Häuser bzw. Haushalte zu gelangen. Ich selbst stieß zwei alte, funktionstüchtige Grammophone nebst eines Stoßes Schellackplatten ab, einen alten Bierkrug ohne Deckel und einige alte Gewürzgarnituren, natürlich im Laden des Inserenten. Ich war im Moment nicht bereit, mir einen Händler ins Haus zu holen. Ich roch den Braten längst, denn die sammlerische Tour mit der die rabiatesten Händler im Osten operierten, fruchtete bei mir nicht. Und weil der Händler meine Haushaltsgegenstände in die Kategorie »außergewöhnlich« stufte, engagierte er mich als Einkäufer. Ich muss gestehen, dass mir der Verkauf einiger Artikel schwer gefallen ist. Weil ich ein wenig Startkapital benötigte, saß mir das Hemd näher als der Rock und verkaufte, was nicht niet- und nagelfest war. Natürlich hatte ich schon einige Erfahrungen beim Handel mit Antiquitäten. Letzten Endes beklagte ich mich auch nicht über den erzielten Gewinn. »Mackenrodt mein Name!«, rief mir der Inserent aus der Leipziger Volkszeitung entgegen und streckte mir seine Hand hin. Vor mir stand eins der windigsten Schlitzohren des Antiquitätenmarktes. Da mir dieser Handschlag sympathisch war, unterschrieb ich einen Wisch, den Mackenrodt als »Abmachung« deklarierte. Ich bin also eine Abmachung mit der Berliner Firma »Antik und Trödel«, Mackenrodt, jun., Sitz in 10555 Berlin-Tiergarten, Alt-Moabit, eingegangen, um nicht zu sagen, dass ich ihr aufgesessen bin. Mein neuer Chef war besonders interessiert, weil ich zum Teil auch die Leipziger Szene einschließlich ihrer Hinterhöfe kannte. Der Zettel den ich da unterschrieb, war dreckig und speckig wie die Hände Mackenrodt’s und dann existierte dieses Stück Papier nur einfach – ein Duplikat hat es nicht gegeben. Wahrscheinlich war das Papier knapp und ein »Mann der Feder« war Mackenrodt nicht. Er hat gesagt, dass es für meine Person richtig war, meinen »Wilhelm« auf diese Abmachung zu setzen. So existierten wenigstens ordentliche Verhältnisse zwischen ihm und mir und vor allem, ich hätte nun etwas »in der Hand«. Mackenrodt hatte eigentlich auch nichts in der Hand, denn er schmiss den Zettel der Ordnung halber einfach in die Schublade einer alten Kommode, die er dann irgendwann samt Inhalt verscheuerte. »Denn mach ‘n wan ‘n richtijen Kontrakt mit allem Pipapo, wahh?« Anschließend hat mir Mackenrodt die Hand noch einmal hingestreckt und gesagt, dass er Ulli heiße. »Dat ick diesen Bauch habe«, sagte er, »kommt von ‘t ville fressen und saufen!« Dabei zeigte er mit krummgebogenem Zeigefinger auf die Wölbung unterhalb der Brust, griff nach der Zigarette, die er sich hinter die rechte Ohrmuschel geklemmt hatte und brannte sie an. Nach Meinung meines neuen Chefs, hatte ich jetzt all die Informationen aus seiner Privatsphäre intus, die mich etwas angingen. Nebenbei gesagt, der Kittel, der sich über Mackenrodt’s Bauch spannte, war mindestens eine Konfektionsgröße zu klein, das nur ganz nebenbei!
Mackenrodt wollte übrigens das Antiquitätenmonopol für Leipzig erwirken. »Da lachen ja die Hühner, bei dieser Konkurrenz!«, dachte ich. Ein größeres Möbellager im Bereich der Plagwitzer Gießerstraße existierte allerdings schon und ein weiteres stand in der Delitzscher Straße ins Haus. Rund um die Uhr wurde die Bevölkerung mit Ankaufsanzeigen bombardiert, besonders während des Entstehens Leipziger Niederlassungen des Antiquitätenhandels. Ich selbst hängte Ankaufszettel in die Häuser, die mir auf Grund der Altersgruppen der Bewohner interessant erschienen. Mackenrodt hat das so akzeptiert, begründet durch meinen »Heimvorteil« für Leipzig. Ich verdiente dabei zwar nur »kleines Geld«, wie man so schön sagt, aber besser als nichts! »Un Kleenvieh macht ooch Mist, vastehste dette?«, hat er gesagt und mir sehr feierlich eine Bockwurst und einen lauwarmen Kaffee spendiert. Am darauf folgenden Tag hatte ich das Glück, eine größere Haushaltsauflösung »aufzureißen«. Damit landete am übernächsten Tag wieder Zaster in meiner Tasche. Ein Teil des Mobiliars wurde am Wochenende nach Berlin-Tiergarten transportiert, d.h., Endstation dessen war der dortige Flohmarkt zwischen der Straße des 17. Juni und der Siegessäule. Das bessere »Kleinzeug«, wie z.B. gutes Glas und Porzellan, landete in einem Charlottenburger Laden. Ich selbst musste samstags drei alte Bilder in eine türkische Ladenzone nach Kreuzberg transportieren. Ein viertes kleineres Ölbild hatte ich frei zur Verfügung, welches ich auf dem Heimweg in Charlottenburg absetzte. Dort lernte ich eine Menge Leute kennen, die auf bestimmte Artikel, wie z.B. mechanische Musikinstrumente, Uhren und alte Beleuchtungskörper spezialisiert waren. Im Nu war der Monat rum. Einmal pro Woche traf ich mich mit Mackenrodt in Berlin-Tiergarten oder dort, wo er meist die Finger auf interessante Waren legte, nämlich in Kreuzberg. Wenn nichts lief, übernahm er alten Hausrat und mittelprächtige bis gute Antiquitäten vom Türken zu günstigen Preisen. Da war für Mackenrodt immer noch ein kleiner Verdienst drin, auch die Türken hatten ihren Schnitt gemacht. Ich selbst profitierte auch noch davon. Die besten Stücke verschwanden im Alt-Moabit Tiergartens, d.h., in Mackenrodts Domizil. Er redete nie darüber und forderte mich auf, ebenfalls Stillschweigen zu wahren. So weit, so gut – ich akzeptierte, schließlich war er ja mein neuer Brötchengeber!
Zwischenzeitlich machte ich mir über die künftige Zusammenarbeit mit Mackenrodt ernsthaft Sorgen. Er hielt mir neulich acht abgezählte, fast neue Zehner vor die Nase, die mir noch vom letzten Wochenende zustanden. Bevor er sie mir in die Hand drückte, zog er einen davon heraus, dann noch einen. Es sah aus, als wollte er Karten geben. Dann überlegte er einige Sekunden und schob einen Zehner wieder zurück zu den sechsen. Plötzlich befand sich in seiner linken Hand ein Fünfer. Er hielt ihn einige Sekunden in der Hand und ließ ihn wieder in seiner Brusttasche verschwinden. Somit waren es letztendlich 70 DM. »Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, jedenfalls für die Zukunft!«, habe ich mir gesagt.
Im Laufe der Zeit hatte ich mir ein System beim »Durchkämmen« der Stadt ausgeklügelt. Dazu nahm ich mir das Telefonbuch zur Hand und siebte in unendlicher Kleinarbeit Familiennamen von A bis Z heraus und das straßenweise. Dann ordnete ich sie nach altdeutschen Vornamen wie z.B. von Agnes bis Waltraud oder Alois bis Zacharias, um die Altersgruppen derer zu treffen, die für den Besitz älteren Haushaltsinventars in Frage kommen könnten. In solche Häuser hängte ich also unsere Ankaufszettel. Oftmals mussten Dachböden im Rahmen geplanter Sanierungen geräumt werden. Zum Inventar gehörten Schränke, Kommoden Nähtische u. ä. Ich fuhr also mit meinem Fahrzeug und einem größeren Anhänger in solche Gegenden und befragte die Bewohner nach altem Mobiliar – selten ohne Erfolg. Manchmal halfen mir die Hausbewohner beim Transport durch die Treppenhäuser, manchmal jedoch war ich auf mich allein gestellt, vor allem, wenn Mobiliar von hochbetagten Bürgern angeboten wurde. In solchen Fällen legte ich die Treppenstufen entsprechend der Größe des jeweiligen Möbelstückes mit Decken aus und beförderte das Objekt so Stufe für Stufe vom Dachboden bis zum Hof herunter. Meist transportierte ich die Möbel gleich in ein Lager, welches wir irgendwann in Eutritzsch aufschlugen. Es war ein düsteres, vor fünfzig Jahren stillgelegtes größeres Waschhaus in einer Halbruine. Vermutlich gehörte es zu einer ehemaligen Wäscherei. Die zum Teil desolaten Möbel hatten eben ein Dach über dem Kopf, dafür war das Lager gut genug! Außerdem traf aller vierzehn Tage ein LKW ein, auf den wir dann die zusammengetragenen Möbel luden, zum Zweck des Abtransportes in den Westen, d.h., hinter die ehemalige »Grüne Grenze«. Für Berlin gab es nur eine Trennung und zwar zwischen den Berlinern in Ost und West. Ich hatte mir vorgenommen, die ehemaligen »Ostsektoren« nie zu betreten, weil im Osten immer von so genannten »Sachsenschweinen« die Rede war. Damit waren diejenigen gemeint, die besonders stark sächselten. In dieser Hinsicht war ich sensibilisiert. Der Flohmarkt z.B. in Berlin-Tiergarten war mit mindestens fünfzig händlerischen Nationalitäten durchsetzt, die beim »Schachern« strikt nach dem Slogan handelten »Du gibst mir, ich gebe dir!« Ich hatte z.B. bei Mackenrodt nie den Eindruck, dass er die Sachsen nicht mochte. Das lag allerdings daran, dass er viel zu geschäftstüchtig war.
In einem Fall trieb ich mich den ganzen Monat über in Plagwitz und Leutzsch herum, denn zwischenzeitlich hatten sich Leute gemeldet, die sich umständehalber von Dingen trennen wollten, die gut in unser Warensortiment passten. Dabei kreuzte ich in einigen Straßenzügen viel zu häufig auf, d.h. als »Einkäufer mit Bargeld«. Das sprach sich im Untergrund schnell herum. Man hatte in meiner Person wahrscheinlich einen Multimillionär vermutet. Besonders gefährlich waren die kleinen, flinken und weniger auffälligen Radfahrergrüppchen, die zum Teil aus Langfingern bzw. Taschendieben bestanden. Ich stellte vormittags mein Fahrzeug in der Leutzscher Weinbergstraße ab, stiefelte in die Hausnummer Zehn und bewegte ich mich ins erste Obergeschoss. Hinter mir öffnete sich die Haustür, und einer dieser Leute schlich mir auffällig nach. Ich hatte an diesem Tag 500 DM im »Rockaufschlag«, die mir Mackenrodt mit allerlei Bedenken vorschoss. Aus diesem Grund bemühte ich mich, so schnell wie möglich finanziell unabhängig zu werden. Falls man mich also tatsächlich um diese 500 DM brächte, müsste ich Mackenrodt dreiviertel tot unter die Augen treten, um meine Unschuld zu beweisen. Wenn er meine Ankäufe vorfinanzierte, bekam ich natürlich nur eine Provision, darauf hatte es Mackenrodt angelegt. Wegen dieses Geldbetrages war ein Raubüberfall schon lohnend, weil ein Totschlag bereits bei Null beginnt. Mein Verfolger unten im Hausflur trug ein Problem mit sich herum, ohne es zu ahnen. Das Problem für ihn war ich selbst, obwohl ich nie der Mutigste war. Die Holztreppe knarrte fürchterlich. Bei jedem Tritt nach oben erschrak ich, weil ich mir durch die Knarrgeräusche verraten vorkam. Jedes Mal wenn ich inne hielt, tat mein Verfolger das Gleiche. Ganz oben wohnte eine Familie Gorgas. Sie hatte ihre Bodenkammer mit allem möglichen Kram vollgeknallt, der nun zu besichtigen war. Aus brandschutztechnischen Gründen wurde nun die Räumung gefordert. Außerdem stand noch ein interessantes Speiseservice zur Disposition, für welches sich Mackenrodt interessierte. Ganz am Rande: Ich fand in Bodenkammern alter Häuser immer etwas an brauchbarem Inventar. Wie gesagt, so wie ich im Treppenhaus in die Höhe stieg, bewegte sich der Typ mit beträchtlicher Distanz hinter mir her. Aus diesem Grund verlor sich mein geschäftliches Interesse ganz und gar. Da stand ich nun auf dem Abtreter der Familie Gorgas und sah auf Klingel und Namenschild, ohne zu läuten. Meiner eigenen Sicherheit war dies natürlich nicht dienlich. Um ehrlich zu sein, ich bewegte mich mit weichen Knien wieder nach unten, vorbei an diesem komischen Typen, der mir Angst einjagte. Dabei ließ ich gespielte Ruhe walten. Irgendwann hatte ich mir zum Zweck der Selbstverteidigung einen Schlagstock aus Hartgummi zugelegt, ganz legal und ganz offiziell. Ich sah vor, ihn ständig unter der Jacke zu tragen. Da lag nun meine Waffe mutterseelenallein im Kofferraum meines Fahrzeuges. Der so genannte »Mitbürger« ist also zweistufenweise hinter mir her gesprungen und stand ebenfalls wieder unten im Hausflur. Da er nicht die Absicht hatte, mich auf die Straße hinauszulassen, verstellte er mir den Weg zum Ausgang. Möglicherweise erschien ich ihm schwächlich genug, als dass er mich in Ruhe lassen würde. Das Unheimliche an der Geschichte war, dass der Typ den Eindruck erweckte, als sei er stumm und taub. Falls er in seine Hosentasche griffe, benötigte er vermutlich sein Taschentuch, doch seine rechte Hand bewegte sich in Richtung innerer Brusttasche. Darin verschwand sie bis zum Ellenbogen. Der Herr hatte wohl kaum die Absicht, mir ein Autogramm zu geben. Plötzlich kam der Griff eines Springmessers zum Vorschein. Bevor mein Widersacher in Aktion treten konnte, bearbeitete ich mit halbgeballter rechter Faust seine Nasenspitze, um das Nasenbein nicht zu lädieren. Dabei schlug er mit dem Hinterkopf gegen die Flurwand und ging gezwungenermaßen in Kauerstellung. Das ungeöffnete Springmesser schusselte über den Steinfußboden. Der Typ verdeckte sein Gesicht mit beiden Händen und schaute durch die Finger, um mich zu beobachten. Seine Nase blutete, das rechte Handgelenk färbte sich rot. Überhaupt bereitete mir dieser Akt seelische Schmerzen in mir selbst. Beinahe hätte ich mich für meine Entgleisung entschuldigt. Schließlich war ich aus dem Alter heraus, um mich mit irgendwelchen Leuten herumzudreschen. Mit den Jahren sind meine Haare grauer und grauer geworden, wie die eines alten Mannes. Vielleicht war das der Grund, weshalb man sich vor mir nicht fürchtete. Der Straßengangster nahm jetzt seine Hände vom Gesicht und richtete sich langsam auf. Bis auf die blutende Nase war bei ihm wohl alles okay. Während meiner früheren Boxerlaufbahn hatte ich das Glück, nie einen Knock-out, bzw. K. o. »gefressen« zu haben, doch falls ich im Kampf ausschied, war immer mein angeschlagenes Nasenbein der Grund. Ein tätlicher Angriff auf mich war wohl nicht mehr zu befürchten. Als ich auf die Straße lief, vernahm ich ein entsetzliches Geschrei. Da stand eine ältere Frau, der man die Einkaufstasche entrissen hatte. »Es war ein Dieb per Fahrrad«, hat sie mir gesagt, »der ist in gestrecktem Galopp in Richtung William-Zip-perer-Straße davongerast!« Nun trat die Frau auf der Stelle herum wie ein kleines Kind, was seinen Willen nicht bekommen hat. Möglicherweise steckte ihr noch der Schock in den Gliedern. Der Fahrradgangster war mit dem Tageseinkauf, einer Geldbörse mit fünfundsiebzig DM und sonstigem Schnickschnack, wie Lippenstift, Maniküre usw. auf und davon. Es war wohl der Kompagnon desjenigen, den ich gerade attackierte. Ich stürzte wieder zurück in den Hausflur, doch leider war alles zu spät – kein menschliches Wesen war dort zu sehen. Inzwischen hat man die Polizei gerufen. Ich selbst habe mich aus dem Staub gemacht und bei Familie Gorgas geläutet, allerdings eine halbe Stunde später. Begeisternd war der Empfang nicht gerade. Als ich dann eine Autopanne fingierte, wurden die Leute freundlicher – mir wurde eine alte Spiegelkommode übereignet. Sie stand bislang in vorgenannter Bodenkammer so vor sich hin. »Besser als nichts«, habe ich mir gedacht. Alles was dort sonst noch an Inventar existierte, war eher Müll. Ich transportierte die Kommode in unser Lager nach Eutritzsch. Dort fand ich ein heilloses Chaos vor. Erstens war die Tür zum Lager aufgetreten worden und zweitens hatte man den dort deponierten Hausrat von unten nach oben gekehrt und verschiedene Kleinigkeiten mitgehen lassen. Hochwertige Haushaltsgegenstände lagerten wir dort allerdings nie ein. Die Brettertür war nur mit einem leichten Überwurf gesichert, der wiederum mit zwei kleinen Schräubchen am Türfutter befestigt war. Im Überwurf steckte ursprünglich ein winziges Schlösschen, das jetzt zerbrochen auf dem Ziegelpflaster des Waschhauses lag. Mackenrodt investierte nichts, u. a. musste ich froh sein, dass er mich so recht und schlecht bezahlte. Dann habe ich versucht, ihn in Berlin anzurufen – vergebens! Den Überwurf habe ich einfach wieder angeschraubt, allerdings mit stärkeren Schrauben und ein größeres Vorhängeschloss besorgt. Am nächsten Tag habe ich Mackenrodt vom Einbruch in unserem Lager unterrichtet. Die Konfrontation mit den Leutzscher Straßenräubern habe ich allerdings verschwiegen, da ich vermutete, Mackenrodt würde mir nach diesem Vorkommnis nie wieder Zahlungsmittel vorschießen. Dann meldete er sich für drei Wochen ab, weil er in seiner Berliner Wohnung angeblich eine neue Heizung installieren ließe. Anschließend würde er einen so genannten Stareinkäufer und Fachexperten in punkto »Kunst und Antiquitäten« zur Forcierung unserer Leipzig-Geschäfte einsetzen. Betreffender hätte wohl vor einiger Zeit einen Laden am Kurfürstendamm besessen. Un »det is Kalle«, hat Mackenrodt gesagt, »der wird denn Chef von ‘t Janze, also für Leipzich!« Als ich fragte, warum Kalle den Laden in einer solch tollen Lage von Berlin, eben am Ku’ damm, aufgegeben hat, bekam ich keine plausible Antwort. Allerdings sei Kalle zu Höherem geboren und hat seinen Laden nicht aufgegeben, sondern an einen Subunternehmer weitervermietet. Aus diesem Wirrwarr heraus schlussfolgerte ich, dass Mackenrodt an der ersten Lüge noch nicht erstickt ist und nahm an, dass dieser Kalle nie einen Laden besaß. Ganz beiläufig erhielt ich den Auftrag, noch am gleichen Abend eine alte Flurgarderobe anzukaufen, die ein Kunde telefonisch zum Kauf angeboten hatte. Ich fragte nach der Adresse des Besitzers oder der Besitzerin, doch Mackenrodt glotzte mich an, als hätte ich die unmöglichste Frage der Welt gestellt. So war eben Mackenrodt. Er wühlte in den Taschen seines Kittels herum und beförderte zwei Hände voller dreckiger Zettel zutage. Tatsächlich pusselte Mackenrodt den Standort der Flurgarderobe aus seinem Zettelsammelsurium. Es war die Wittenberger Str. 58. Allerdings gab es nur diese Hausnummer, sonst nichts. An dieser Stelle machte mir Mackenrodt ein dickes Kompliment indem er dokumentierte, ich sei ein pfiffiges Bürschchen und würde den Besitzer schon ausfindig machen. Damit war er aus dem Schneider. Ich fragte mich also im Hause Nr. 58 durch. Da stand ich nun vor einem alten, wunderschönen Emailleschild, worauf der Name Kaminski stand. Diese Familie blieb nach meinen Recherchen übrig. Der Name kam mir überhaupt bekannt vor, und ich dachte dabei an Irma. Außerdem wusste ich, dass sie irgendwo in Eutritzsch hauste. Die Tür öffnete sich und der Wuschelkopf Irmas kam tatsächlich zum Vorschein. An Stelle freundlicher Begrüßung begann sie, mich mit einer weinerlichen Orgie zu empfangen. Irma war so gut wie abgebrannt und benötigte dringend den Verkaufserlös dieser Garderobe. Seit dem Rausschmiss durch Wackernagel gab es für sie keinen neuen Job. Ich sah mir die Flurgarderobe an. Sie war ein Fragment, vermutlich aus den Kopfenden zweier alter Bettgestelle zusammengeschustert. Ich drückte ihr die 50 DM, die sie sich dafür vorgaukelte, einfach in die Hand, dann legte ich noch einen Zehner drauf. Irma war überglücklich und schickte sich an, die so genannte Garderobe von der Wand zu nehmen. Ich wehrte ab und versprach, ihr einen Job zu besorgen. Ich biss mir fast auf die Zunge, weil ich dieses Versprechen viel zu leichtfertig abgegeben hatte. Zwecks Hilfestellung dazu dachte ich an den mit allen Wässerchen gewaschenen Mackenrodt. Schließlich hatte er wie ein Schmied Eisen über Eisen im Feuer.
Mackenrodt trudelte eine Woche später wie vorgesehen in Leipzig ein. Zugegen war außerdem Adjutant Kalle. Die Herren waren mit einem älteren, knallroten Cadillac vorgefahren und gaben an wie eine Lore Affen. Natürlich war dieses Fahrzeug ein geplantes Verkaufsobjekt, d. h., ein Oldtimer aus der Zeit um 1952. Kalle beachtete mich gar nicht. Er trug eine auffällige Schmalztolle auf dem Kopf und stank fürchterlich nach billiger Parfümerie. Mit diesem Herrn wollte mich Mackenrodt also verkuppeln. Er öffnete den Kofferraum seines Fahrzeuges und fingerte einen papiernen Wisch zwischen Ersatzrad und Radkreuz hervor, auf dem Adressen von angeblich potentiellen Antiquitätenbesitzern verzeichnet waren. Der Zettel war wieder mal so speckig, wie mein Chef selbst. Er hielt mir den Zettel kurz unter die Nase und meinte, ich sollte mich erst einmal an Kalle hängen, der als Stareinkäufer jeden Kunden »knacken« würde. Während der Verkaufsverhandlungen sollte ich mich gefälligst im Hintergrund bewegen und den Rand halten. »... denn Kalle quatscht jeden off’s Pferd roff un wieda runta. Buff!«, so Mackenrodt. Dann himmelte er Kalle an, tätschelte auf seinem rechten Oberarm herum und zupfte ihn am Ohrläppchen, als sei er »vom anderen Ufer«. Mackenrodt hat Kalle möglicherweise zur rechten Hand befördert und ihm ein dickes Bündel Hunderter und größere Geldscheine rüberwachsen lassen. Anstandshalber habe ich weggeschaut. Kalle ließ die Scheine lässig und lose in seiner Hosentasche verschwinden, als hätte er sie selbst gedruckt. Anschließend wollte er sich eine Zigarette in den Mund werfen, doch die HB landete im Rinnstein. Nach dem dritten Versuch gelang sein Jongleurstück, nahm die Zigarette wieder aus dem Mund und pustete den Straßendreck herunter.
Jedenfalls habe ich den unangenehmen Auftrag erhalten, die »Ankaufskoryphäe« Kalle durch Leipzig zu kutschieren. Der erste Adressat auf einer von mir selbst erstellten Kundenliste war ein Herr Munkwitz vom Kickerlingsberg. Für Kalle war völlig klar, dass er mit einem Herrn, der solch einen dämlichen Namen trägt und auch noch am Kickerlingsberg wohnt, ein leichtes Spiel habe. Den Vornamen Willi habe ich zur Gedankenstütze daneben gekritzelt. Wie gesagt, ich schloss grundsätzlich von Vornamen und Namensschildern auf Altersgruppen. Dabei traf ich meist ins Schwarze. Kalle hat das ignoriert. Er meinte sogar, in der ehemaligen DDR hätte es wegen der hohen Sterblichkeit älterer Leute kaum altdeutsche Vornamen gegeben und schon gar nicht buntmetallene Namensschilder, weil in der Ostzone nur minderwertiges Russenblech existiert habe. Außerdem sei der Name Willi in seinen Kreisen ein Schimpfwort. Solch einen »Willi« wickelte er glatt um den Finger oder zöge ihn mit links und vierzig Fieber über den Tisch. Dann spielte Kalle auf meinen Namen, also Drehwolke, an. Dabei zog er grinsend die Nase kraus und die Oberlippe hoch, sodass man die oberen Schneidezähne sehen konnte. In diesem Moment dachte ich an den radelnden Straßenräuber aus der Weinbergstraße Leutzsch’s und an dessen blutende Nase. So sah ich also meinen künftigen Befehlshaber Kalle vor mir, der absolut nicht mein Fall war. Er nahm meine Liste in die Hand, sah flüchtig drauf und knautschte sie in seine Jackentasche. Nun waren wir am Ziel, stellten unser Fahrzeug ab, bewegten uns durch ein schmiedeeisernes Tor, danach durch einen wuchtigen Hauseingang und standen nun in einem prachtvollen, aber seit 1945 unsanierten Treppenhaus. Trotzdem, die Übrigbleibsel der prächtigen Gründerzeitära waren nicht zu übersehen. Kalle nannte das Gebäude einen Stall. Wir stiegen ins erste Obergeschoss. Vor uns hing lang und breit ein wunderschön altpatiniertes Namensschild aus Messing. Darauf war zu lesen: Willy Munkwitz – das Willy aristokratisch mit Y geschrieben. Nach dem Familiennamen folgte nun das Anhängsel Prof. Dr. habil, wie habilitatus, der Titel des Villenbesitzers persönlich. Das hat Kalle so gut wie nicht interessiert. Er glotzte auf das Namensschild und untersuchte die Holzschräubchen, ob sie noch gangbar waren. Dann ist er auf die Idee gekommen, den Diebstahl dieses schönen Namensschildes irgendwann auszuführen. Nun donnerte er mit dem bronzenen Türklopfer mehrere Male auf die Tür, so dass es durchs ganze Haus schallte. Man hörte ein betont langsames Schlurfen von gummibesohlten Hausschuhen. Bis die Tür geöffnet wurde, verging eine Ewigkeit, dann erschien die Silhouette eines überlegen dreinschauenden Gesichtes – Professor Munkwitz stand leibhaftig vor uns. Kalle hämmerte mit seinem Berliner Großmaul auf Munkwitz ein und vergaß glatt den Gutenmorgengruß. »Sie sin zu früh!«, entgegnete Munkwitz nur, schaute dabei Kalle an und zog eine Taschenuhr aus der Hose. »‘N bissl müssen Se noch warten, nöch?!«, sagte er und knallte uns die Tür vor der Nase zu. Er hatte eine Figurengruppe Meissner Porzellans und ein übergroßes Ölbild im Angebot, umständehalber natürlich und über einen Mittelsmann. Unser Besuch war für 10.30 Uhr geplant. Wir waren gerade mal zehn lumpige Minuten früher an der Wohnungstür, als vorgesehen. Nun stiegen wir wieder in unser Fahrzeug und warteten vorsichtshalber zwanzig Minuten. Kalle sprach kein Wort. Ich versuchte krampfhaft, ein Gespräch in Gang zu setzen – ohne Erfolg! Kalle kam eben aus dem goldenen Westen und ich aus dem proletarischen Osten. Jetzt qualmte er wie ein Schlot. Ich leierte das Fenster herunter, weil die Atmosphäre im Fahrgastraum unerträglich wurde. Dann stellte ich fest, dass Kalle Karo inhalierte, ohne Filter, also den würzigen Rachenreißer sparsamer Leute. Wir bewegten uns erneut zur Wohnungstür Munkwitz ‘s, eben fünf Minuten später als vereinbart. Bevor Flegel Kalle den Türklopfer erneut in die Hand nahm, verstellte ich ihm den Weg und trommelte ganz leise mit dem Knöchel an das gläserne Oberlicht. Da war wieder das Schlurfen von vorhin, jetzt aber schneller. Munkwitz stand wieder vor uns und verurteilte unser Zuspätkommen entschieden. Seine Glatze schimmerte, als hätte er sie auf Hochglanz poliert. Bevor er die Korridortür öffnete, war ich zur Seite gesprungen, um Kalle an die Basis zu lassen. Munkwitz ließ uns bis ins erste Drittel des Flures und nicht ein Stück weiter. »Es is örst frisch gemoppt worden!«, murmelte er und heftete seine Augen an unsere Schuhe, um zu prüfen, ob sie salonfähig seien. Dann bat er uns, stehen zu bleiben, dort, wo wir gerade waren. Ich hielt mich nach wie vor im Hintergrund auf, die Atmosphäre war spannungsgeladen und für mich höchst unangenehm. Ich verspürte einfach, dass uns Munkwitz nicht wollte – er suggerierte es einfach. Kalle war dagegen völlig immun. Mein Blick fiel jetzt durch einen offenen Türspalt in ein Zimmer und auf eine Wand voller alter Miniaturbilder. Mir war klar, dass ich wenigstens vom Inventar her einen Volltreffer gelandet hatte. Munkwitz verfolgte meinen Blick auf die Basis dessen, was er mit aller Macht geheim halten wollte und schmiss diese Tür sofort zu. In der Flurecke stand das Bild, worauf es ihm ankam – es war mit einem Bettlaken zugedeckt. Munkwitz zog es herunter und Kalle plärrte drauflos, um bekannt zu geben, dass dieses so genannte Kunstwerk ein billiger Druck sei. Damit hatten wir verspielt und flogen achtkantig aus der Wohnung.
Kalles so genannter Druck war ein riesiger Ölschinken aus den dreißiger Jahren, eine gespannte Leinwand in tollem Rahmen. Für eine normale Behausung war dieses Bild auf Grund der Abmessungen wenig geeignet. Natürlich war es kein Caspar David Friedrich, aber das Motiv gefiel mir. Dargestellt war eine Heuernte irgendwo in den Alpen und Alpenlandschaften liebte ich ganz besonders. Ich hatte den Namen des Malers im unteren rechten Bildraum längst erkannt. Es war der bekannte Leipziger Erich Otto, dessen malerische Stationen mir bekannt waren. Für solche Motive hatte Mackenrodt Berliner Kunden, die wiederum protzige Rahmen mochten.
Nun standen wir draußen auf dem Flur, wortlos, wie bestellt und nicht abgeholt. Die Wohnungstür hinter uns ging wieder auf. Im Moment glaubte ich an die Gelegenheit, Munkwitz zu guter Letzt beschwichtigen zu können, doch weit gefehlt! Dem Hausbesitzer standen wir nur zu lange auf dem Treppenabsatz. »Sie sind ja immer noch hier – also!! Ziehen Sie die Haustür hinter sich fest zu, wenn Sie gehen!«, forderte er und warf seine Korridortür ins Schloss. Danach hörte man deutlich, wie sich ein Schlüssel drehte. Genau diese Geste war die endgültige Absage an uns, eigentlich mehr an Kalle. Eigentlich war ich der Leidtragende, denn unser Geschäft, sei es für mich nur ein kleiner Obolus aus der Hand Mackenrodt’s gewesen, hatte Kalle, die »Ankaufkoryphäe« vom Berliner Ku’damm, ganz und gar versaut. Die Möglichkeit, an die Meissner Figurengruppe oder an diverse Antik-Möbel und Kleinantiquitäten heran zu kommen, mit denen Munkwitz’ Villa vollgestopft war, schien erst einmal verwirkt.
Wir saßen wieder in unserem Fahrzeug. Kalle schimpfte auf den blöden Ossi Munkwitz und wühlte im Geldbündel Mackenrodt’s herum. Er tat so, als ob ihm der Zaster gehörte. Innerlich schimpfte ich auf Kalle, den Oberspinner ohne Format und Grips im Kopf. Nun fuhren wir unverrichteter Dinge in unser Möbellager nach Eutritzsch, um eine Kommode und zwei potthässliche Speiseservices für Mackenrodt zu verladen. Ich forderte jetzt die Adressenlisten von Kalle zurück, weil ich ihm misstraute und den Verdacht hegte, dass er mein Adressenpotential auf eigene Faust durchkämmen würde. Den Inhalt dieser Liste hatte ich in mühevoller Kleinarbeit aus dem Telefonbuch zusammengetragen. In Kalles Rockaufschlag befanden sich immerhin dreißig Riesen und damit war gut ankaufen auf fremde Kosten. Er brannte sich wieder eine Karo an und fragte: »Wat willst ‘n mit die Liste anfang’, mit leere Taschen noch dazu!« Nach dieser Frechheit rastete ich aus und schlug ihm vor, dass er sich künftig ein Taxi nehmen solle, um seine Ankäufe zu erledigen. Kalle klärte mich nun darüber auf, dass ich ihm als Fahrer zugeteilt sei und »nischt zu mucken hätte!« Daraufhin bin ich ihn angegangen, im wahrsten Sinn des Wortes! Ich stieg aus dem Fahrzeug, begab mich zur Fahrertür, öffnete sie und packte Kalle mit der rechten Hand fest am Jackenkragen, sodass der Stoff knackte. »Was bist ‘n für einer? Keine Ahnung von tuten und blasen! Außerdem haste heute das Geschäft versaut! Wenn ich das dem Mackenrodt erzähl, macht er aus dir zwei junge Pioniere!« Kalle blieb die Ruhe in Person, denn er war als eingefleischter Wessi nicht in der Lage, meinen Ausspruch zu deuten und gab mir die halb zerknüllte Liste zähneknirschend zurück. »Stimmt sowieso nicht«, sagte ich, »die Adressen sind nicht mehr auf dem neusten Stand!« Und wie aktuell die Adressen waren! In einigen Häusern fühlte ich mich bereits wie zu Hause. Kalle nahm jetzt wieder Bezug auf das Munkwitz’sche Ölbild. Er meinte, dass solche schiet Alpenlandschaften wertlos seien. Jetzt wurde ich wieder wütend, doch dann führte einen erfolgreichen Kampf mit mir selbst und blieb gelassen. Ich sann darüber nach, wie ich den Widerling Kalle am schnellsten loswerden könnte. Warum mir Mackenrodt diesen Typen vor die Nase gesetzt hat, habe ich nie verstanden. Kalle zog das Mackenrodt’sche Geldbündel wieder aus der Tasche und spielte damit. Nun zerteilte er es und ein kleinerer Stapel verschwand in einer seiner Gesäßtaschen.
Am nächsten Tag hat mich Mackenrodt zur Rede gestellt. Kalle hat sich darüber beschwert, dass ich ihn nicht rechtzeitig zur Munkwitz’schen Villa kutschiert hätte. Aus diesem Grund sei nun ein riesiges Geschäft geplatzt. Ich verstand die Welt nicht mehr und sann auf Rache. Bevor ich den Mund zu meiner Verteidigung aufmachte, war Mackenrodt von der Bildfläche verschwunden.
Mir war klar, dass Kalle unseren Boss Mackenrodt linken würde und fragte mich, aus welchem Grund. Kalle hat auf Kosten Mackenrodt’s Logis bezogen, zwar nicht sehr komfortabel, doch das Domizil konnte sich sehen lassen! Es befand sich in Nähe des Leipziger Chaussee-Hauses, einer Gaststätte am Beginn der Georg-Schumann-Straße. Warum Mackenrodt an Kalle solch einen Narren gefressen hatte, wollte ich natürlich gern erforschen. »Links herum« war Mackenrodt nicht, denn da existierte seine Flamme, die Rosa von Zangenberg aus Berlin-Rummelsburg. Inzwischen stand eine Art Großraumbüro, so nannte es Mackenrodt, unter Pacht. Es handelte sich um eine ausgediente, 500 qm große Industriehalle im Stadtbezirk Plagwitz, in deren Mitte acht verschiedene, altersschwache Stühle um einen ölverschmierten Tisch nebst einiger zerfledderter Sessel standen. Da war noch ein Blumenständer aus dem 15. Jahrhundert, der mit Sebnitzer Kunstblumen aus den »Siebzigern« der ehemaligen DDR dekoriert war. Mackenrodt bezeichnete diesen Blumenständer als echte Fälschung, die Kunstblumen als wahre Pracht und die Sessel als Schnäppchen. Das sprach eben für die »grenzenlose Bescheidenheit« Mackenrodt’s. Auf dem Tisch stand neuerdings ein dreckiges Telefon, welches ich gelegentlich privat benutzte. Jedes Mal, wenn es klingelte, nahm ich das Gespräch entgegen und jedes Mal war Frau Rosa von Zangenberg aus Berlin-Rummelsburg am anderen Ende der Strippe. Immer wenn sie nach Ulli trällerte, war er gerade in Berlin –komisch! Dann hat Frau Zangenberg ganz administrativ verlangt, ich sollte Ulli ans »Tellefon« holen. Einmal rief sie bei mir zu Hause nachts gegen ein Uhr an. Daraufhin habe ich gefragt, ob sie noch bei Trost sei. Diese Frage hat sie offenbar gut verstanden und war plötzlich die Höflichkeit in Person: »Alsoo Schätzel bütte!! Holen Sie den Ulli doch bitte ans Telefon, ich warte ‘nen Moment!« Ich entgegnete, dass dieser Akt zu lange dauern würde, weil Ulli sich in Berlin aufhielte. »In Berlin? Das glaube ich Ihnen nicht! Übrigens, es macht Ihnen wohl nichts aus, eine Dame einfach so in der Sonne stehen zu lassen?«, entgegnete Frau von Zangenberg. Ich war sprachlos. »Von welchem Teil der Erdkugel rufen Sie denn an?«, fragte ich, »bei uns ist tiefe Nacht!« Jetzt trat eine längere Pause ein, dann vernahm ich im Hintergrund klar und deutlich das Getöse einer Bar oder Gaststätte. Das also war das Milieu der Frau von Zangenberg. Sie war hinter Mackenrodt her, wie der Teufel hinter der Seele, obwohl sich dessen Kontostand gerade mal um die fixen Kosten bewegte. Mackenrodt war im Moment der glücklichste Mensch auf der Welt, weil er glaubte, dass Frau von Zangenberg ihn zu erobern gedachte, selbstverständlich aus ehrlichen Motiven heraus! Dann galten für diese Dame immer nur die inneren Werte eines Menschen. In Wahrheit wusste sie aber um das beträchtliche Schwarzgeldvermögen Mackenrodt’s. Weil er gern einen über den Durst zechte und dann gern plauderte, hing sein streng gehütetes Geheimnis im Nu an der großen Glocke, auf den Pfennig genau!
Mackenrodt finanzierte für Kalle das Innenleben einer Wohnung, inklusive der Miete. Sie wurde sogar im Voraus entrichtet. Und da war vor allem die Gunst, die er ihm einräumte. Am nächsten Tag übergab ich Kalle ganz scheinheilig eine brandneue Adressenliste, besonders zu Lindenau und Plagwitz. Einige dieser Bürger waren mir hinreichend bekannt. Ich schickte Kalle gleich zu Lehrer Schuster, mit dem ich vorher absprach, was er Kalle zum Ankauf anbieten würde. Da existierten noch Restbestände alten Hausrates aller Art, den diese Leute abstoßen wollten. Dazu gehörten Kleinmöbel und die zum damaligen Zeitpunkt noch gängigen, so genannten Weichholzmöbel. Lehrer Schuster betätigte sich früher ganz offiziell als Hausmaler, um seine Rente ein wenig aufzubessern. Spitzwegsche Motive hatten es ihm besonders angetan. Die kopierte er auf kleine Maluntergründe, bestehend aus Hartfaser. Dazu verwendete er Acrylfarben. Sein handwerkliches Geschick hat ihn ganz plötzlich verlassen. Da lagen nun diese Kopien gerahmt und ungerahmt in der Wohnung herum, weil sich neuerdings kein Käufer dafür interessierte. Ich habe Schuster angestachelt, diese Bilder einem Händler aufzuschwatzen unter der Maßgabe, dass er sie, und sei es nur für »kleines Geld«, geschlossen absetzen könnte. Dabei hatte ich Kalle im Auge, der mit Sicherheit Kopie und Original in einen Topf werfen würde. Dann fingierte ich einige wichtige Ankäufe in Weimar und Eisenach. Mackenrodt ist einen Tag zuvor nach Berlin gereist und Kalle war für eine reichliche Woche auf sich allein gestellt, allerdings mit dreißig Riesen im Rockaufschlag. Jetzt düste er durch die Gegend und war ortsunkundig wie ein neugeborenes Kalb. Er wäre nie auf die Idee gekommen, die Ankäufe mit mir gemeinsam durchzuführen. Im Moment war ich fast »abgebrannt«, denn auch Mackenrodt hat mich, wenn auch ohne Vorsatz, hängen lassen, wie eine Bogenlampe. Kalle machte die Adresse des Lehrers Schuster in der Leipziger Karl-Heine-Straße ausfindig. Die spitzwegschen Kopien hat er komplett übernommen. Dafür gab mir Schuster eine Vermittlungsprovision von etwa 30 % des Verkaufspreises. Das hatte ich nie und nimmer erwartete. Kalle setzte nämlich aus seiner Unkenntnis heraus den Ankaufspreis für diese Kopien wider Erwarten hoch an. Boshafterweise glaubte ich nun symbolisch gesehen an seinen »Genickbrecher«, denn mein Rivale hatte sich mit diesem Ankauf total verausgabt, noch dazu mit dem Zaster Mackenrodt’s. Des Weiteren übernahm er eine Kommode von 1890 zum Niedrigpreis, der das Kraut nicht fett machte. Kalle ergatterte noch einige alte Bierkrüge und eine Kuckucksuhr. Er ließ zum Schluss einen schauerlichen Schlafzimmerschrank von 1915 wegen angeblicher Geldknappheit stehen. »Taktisch klug!«, dachte ich und ärgerte mich, weil ich mich nicht rechtzeitig um die Bierkrüge bewarb. Dafür reservierte mir Lehrer Schuster diverse Einzelteile Meissen und einen alten Walzenkrug.
Laut Bericht Kalles, hatte er bei Lehrer Schuster »wahnsinnig« zugeschlagen. »Naja, jetze mit die DM kannste die Ossis schön üwan Nuckel ziehen!«, gab Kalle zu meinem Ärger von sich. Am Nachmittag fuhr er durch die Arthur-Hoffmannstraße und kollidierte seitlich mit einer Straßenbahn. Schuld war die kritische Stelle in Höhe der Alfred-Kästner-Straße, an der eben ein PKW bzw. Kleintransporter zwischen Bahngleis und Trottoire keinen Platz hat. Kalle ist auf den Gehweg gekracht und hat Gott sei Dank nur einen Papierkorb vernichtet. Der Lieferwagen hatte linksseitig die Form eines Waschbrettes angenommen. Die Polente und ein Dispatcher der Leipziger Verkehrsbetriebe waren zugegen und haben den Schaden an der Straßenbahn aufgenommen. Der Lieferwagen war lediglich noch fahrtüchtig für den Weg zum Autofriedhof. Weil die Tür auf der Fahrerseite funktionsuntüchtig war, konnte der Einstieg ins Wageninnere nur noch über die Beifahrerseite oder von hinten durch die Hecktür erfolgen. Kalle hat bei der Polizei Gegenanzeige erstattet, weil er der Meinung war, der Vollidiot von Straßenbahnfahrer vergaß, in den Rückspiegel zu sehen. Die Polizei hat gefragt, ob sie diese Beleidigung protokollieren solle und sofort eine Alkoholkontrolle durchgeführt.
Am nächsten Morgen meldete sich Kalle bei mir und bat mich um die Vermittlung von Ankaufsadressen. Dass mich Kalle überhaupt um etwas bat, war neu. Zurzeit existierten keine weiteren »Ansprechpartner«, zumindest nicht auf dem Papier. Um sie zu finden, war es notwendig, von Haus zu Haus zu pilgern um in mühevoller Mundpropaganda zu akquirieren. Kalle hat mich angegafft, als sei ich verrückt geworden, aber die Methode des »Hausierens« verschaffte unserer Firma eben Kunden. Am Anfang der neunziger Jahre standen die Türen in den Altstadtstraßen Leipzigs offen. Diese Tatsache vereinfachte natürlich die Kontaktaufnahme mit der Bevölkerung. Später wurden die Häuser mit Sprechfunkanlagen ausgerüstet. Das wiederum hatte den Vorteile, dass sich die Leute weniger bedrängt fühlten. Ich kramte aus meiner Westentasche eine Adresse, die sich in der Plagwitzer Nonnenstraße befand und stand damit wieder in Siegerpose. Besagte Adresse war ein unsaniertes Gründerzeitareal mit älterem, freundlichen Bewohnerstamm. Zum überwiegenden Teil lebten die Leute in altem Mobiliar. Auf Grund geplanter Sanierungen und daraus resultierenden Gebäuderäumungen standen verschiedene Alt-Möbel zum Verkauf. Kalle kraxelte vom Heck ins Wageninnere. Er fuhr selbst, weil ich mich auf biegen und brechen wehrte, mit diesem demolierten Fahrzeug durch die Stadt zu kutschieren. Kalle hat mich natürlich nicht verstanden und gemeint, Ossis seien ohnehin nicht arbeitswillig und gelinde gesagt faul. Das wiederum hätte eben an der Planwirtschaft der Ostzone gelegen und daran, dass in niemandem der Trieb zur Selbsterhaltung stecken musste. Also: die Faulheit der Ossis sei in gewissem Sinn entschuldbar. Jetzt war ich endgültig sauer. Ich ließ mir diesen Zustand nicht anmerken und simulierte Magenbeschwerden. Plötzlich waren sie tatsächlich über mich gekommen. Kalle brannte sich wieder eine Karo an und sah mir grinsend ins Gesicht. Dieses Grinsen war das Schlimmste nach seinem Plädoyer über die Ossis. Ich stieg aus dem Fahrzeug, zog ein schmerzverzerrtes Gesicht und presste die Hände auf den Bauch. Kalle öffnete die Fahrertür und plärrte: »Mit euch is eben nischt los!« Dann legte er den Gang ein und düste los. Als Kalle außer Sichtweite war, plante ich, seine Behausung unter die Lupe zu nehmen. Diesen Plan setzte ich auch um – er war in seiner Ausführung eine Art Racheakt und für Kalle ohne Nachteile Ich stieg über eine verräterisch knarrende, frisch geölte Holztreppe ins erste Obergeschoss. Hinter einer alten Flurgarderobe verbarg er grundsätzlich seinen Wohnungsschlüssel, dessen ich mich bemächtigte. Mackenrodt gab irgendwann das Schlüsselversteck preis. Bevor ich die Wohnungstür aufschloss, habe ich mehrere Male geklingelt, um sicher zu sein, keinerlei Insassen anzutreffen. Ich schloss die Tür auf und steckte den Schlüssel von innen ins Schloss, dann bewegte ich mich auf leisen Sohlen vom Flur ins Wohnzimmer – da lag mir das Domizil eines Messis zu Füßen. Hier lag alles chaotisch über- und aufeinander. Gerümpel war kein Ausdruck. In der Zimmermitte befand sich ein schmaler etwa 30 cm breiter Gang. Er führte zur Couch und dann zum Fenster. Das war also Kalles Innenarchitektur, deren Elemente aus Kisten und Pappkartons aller Größen, sowie aus leeren Büchsen und Flaschen bestanden, aufgetürmt bis zur Zimmerdecke! Im Flur bot sich das Gleiche dar. In der Küche waren die chaotischen Zustände sogar bedrückend. Kalle war also, gelinde ausgedrückt, ein Dreckschwein. Letzten Endes wollte ich nur herausbekommen, wer Kalle ist und wer er war. Die Privatsphäre Kalle Zangenbergs war ziemlich leicht zu lokalisieren. Vor allem – er hatte sie in einer Rekordzeit von weniger als sechs Wochen geschaffen. In Nähe von Sofa und Fernseher entdeckte ich einen Packen älterer, zugestellter Briefe, die in großer Eile aufgefetzt waren und separat aufbewahrt wurden. Ich stöberte in ihnen herum und fand Vorladungen des Amtsgerichtes von Berlin-Reinickendorf und Mahnungen über Mahnungen betreffs Unterhalt, was man im Allgemeinen Alimente nennt, dann eine Anzeige wegen Nötigung im Verkehrsraum von Neukölln, wegen Urkundenfälschung in schwerem Fall und das Wichtigste für mich, einen älteren Wohngeldantrag an die entsprechende Wohngeldstelle des Stadtbezirkes Spandau von März 1991! Dieser Antrag wurde zwar vollständig ausgefüllt, aber nie abgesandt. Kalle hatte ja den Ulli Mackenrodt und dessen Firma als Auffanglager an der Hand. Ich las:
Konrad Spangenberg, geb. am 18.11.1957 in Reinickendorf
Beruf: Ohne
Derzeitige Adresse: Nichtsesshaften-Wohnheim, Berlin-Neukölln, Rückertstraße 3
Kalle war also Konrad Zangenberg, der Sohn von Rosa Zangenberg, geborene Hinkel. Wahrscheinlich gehörte Rosi dem Rotlichtmilieu an, aber nicht der Aristokratie. Darüber gaben mehrere persönliche Briefe Aufschluss, die ich aus dem Papierbündel zog. Zangenberg, also die Koryphäe von Mensch, war nichts weiter als eine total verkrachte Existenz aus der Unterwelt des Westteils von Berlin. Diesen Menschen hatte Mackenrodt zum »Edel-assi« hochgepäppelt. Grund dafür war die Beziehung zu Rosa Zangenberg, alias von. Ich packte den ganzen Papierkram zusammen, warf ihn dorthin, wo er lag und verschwand aus der unheimlichen Atmosphäre Kalles. Mir saß die Zeit im Nacken, weil die Gefahr bestand, entdeckt zu werden. Allerdings benötigte ich für meine Entdeckungsreise kaum zehn Minuten. Als ich die Tür hinter mir zuschloss, stieg ein Briefträger die Treppe hoch und drückte mir einen dicken Brief in die Hand. Auf der Rückseite befand sich folgender Absender:
Polizeidirektion 1, Referat öffentliche Sicherheit in 13357 Berlin.
»Se sin doch beschtimmt dor Zangenbersch, no?« Der Postbote vergaß das Herr, ich nahm an, bewusst. Außerdem sprach er mit resolutem Unterton. »Isch habbe hier ‘n Einschreim, se müssen quittier ‘n!« Der Postbote verstellte mir jetzt den Weg nach unten. »Nee«, habe ich gesagt, »mit dem Zangenberg habe ich nichts zu tun!« Der Briefträger steckte diese für mich ominöse Briefsendung einfach unter meine Jacke. Ich nahm den Brief und beförderte ihn in seine Umhängetasche zurück und gab ihm zu verstehen, dass ich nicht der Papierkorb des Hauses sei. »Nu, bloß weil Se Ihre Tür offgeschlossen hamm!« »Das sah nur so aus, mein Herr«, habe ich gesagt, »wenn ich meine Tür aufgeschlossen hätte, würde ich jetzt nicht verschwinden wollen!« »Hähh, Se sin vielleicht ‘n Einbrescher!« »Ich schließe doch keine Tür auf, um dann abzudampfen!«, erwiderte ich. Der Briefträger hat tatsächlich die Klinke heruntergedrückt, um zu prüfen, ob die Tür verschlossen sei. »Nu, da habch mich ähm gedeuscht – Tschuldchung!«, sagte er und verschwand wie ein Geist. Ich verschwand ebenso schnell wie der Briefträger.
Die Privatsphäre Kalle hätte ich nie zu Gesicht bekommen. Zangenberg war der Meinung, dienstliches grundsätzlich von privatem trennen zu müssen. »So ein Humbug«, sagte ich mir, denn schließlich hatte man in dieser Branche nie Feierabend! Außerdem gab es zwischen ihm und mir nie etwas Privates. Die Gründe, warum sich Kalle derart abschottete, sind mir im Nachhinein klar geworden. Da sich Kalle bislang nicht meldete, ging ich wieder mal allein auf Tour. Mein Weg führte mich in die Schwägrichenstraße. Dort hauste eine alleinstehende Rentnerin auf zweihundert Quadratmetern Wohnfläche im Hochparterre. Ich klingelte, stellte mich vor und wurde freundlich empfangen. »Wagenbret«, sagte die Dame. »Wagenbret mit einem T bitte«, fügte sie hinzu und ließ die Tür offen, weil sie angeblich Besuch erwartete. In der Annahme, dass ich freie Hand hätte, um mir wenigstens den künftig aufzulösenden Haushalt anzusehen, stellte ich meine Kollegmappe auf einen Stuhl. Frau Wagenbret krallte ihre Hände fest ineinander, so dass die Fingerknochen weiß durch die Haut schimmerten. Ich befand mich mit der Dame auf einem riesigen Flur. »Schauen sie«, klärte sie mich auf, »das war einst unsere Spielstätte, ein Kleintheater quasi und dessen Intendantin war ich!«. Um den Flur gruppierten sich mehrere Türen, hinter die ich gern geschaut hätte, aber nichts da! Jetzt knarrte die Treppe schon wieder, ein Herr in langem Ledermantel erschien, schob die Tür auf und stürmte, ohne sich zu artikulieren, einfach in den Flur. Er trug eine Aktentasche unterm Arm. Es zog wie Hechtsuppe. Als ich vorschlug, die Tür zu schließen, wehrte Frau Wagenbret ab. Nun fragte sie den Herrn im Mantel, wer er sei. Die Antwort gab jedoch nur darüber Aufschluss, wie oft er um den Stadtkern von Leipzig gefahren wäre, um endlich in die Schwägrichenstraße zu gelangen. Dann hob er einen Leipziger Stadtanzeiger in die Höhe und bearbeitete das Deckblatt mehrere Male mit dem Handrücken. Dabei erweckte er den Eindruck, als wollte er die Wagenbrets abstrafen, weil sie in der Schwägrichenstraße wohnten. »No«, sagte die Wagenbret, »off‘m Deckblatt steht abber meine Annonce nich, ich meine, weil Se so droff rumkloppen!«. Der Herr im Ledermantel spielte jetzt die beleidigte Leberwurst und sah zu Boden. »Eins zu null für mich!«, dachte ich. Jedenfalls hätte ich mit diesem Herrn nie verhandelt! Trotzdem bewegte sich Frau Wagenbret mit ihm und mit mir über den Flur und öffnete eine der Türen. Dahinter befand sich eine Abstellkammer, die mit irgendwelchem Inventar vollgestopft war. Einerseits schlug mein Herz höher und höher, andererseits fand ich den Herrn im Ledermantel buchstäblich zum Kotzen und auch die Wagenbret, weil sie den anonymen Kunden nicht einfach hinausschmiss. Der Mann mit Mantel grapschte alles an, dann blieb er vor einem Bild stehen und meinte auf hessisch, es sei ein Druck. Er arbeitete mit der gleichen Masche wie Kalle Zangenberg. Mittlerweile hatte ich herausbekommen, dass er aus der Nähe Frankfurts stammte und angeblich Privatsammler war. Sein Daimler war so clever vor dem Hauseingang geparkt, dass man das Firmenschild leicht erkennen konnte. Auf der Fahrzeugtür stand: Ingmar Grützner-Antiquitäten, Frankfurt/Main. Dann zog er eine zerknautschte Visitenkarte aus der Tasche, worauf eben der Firmenname stand und fummelte ein Brillenetui aus seiner Tasche und setzte pro forma seine Brille auf. Rechts im unteren Bildraum war die Signatur M. Schwimmer deutlich zu lesen, auch das Genre war unverkennbar. Da fand man im Bildraum mehrere geschlossene Pferdewagen. In einem Weiher badeten Kinder – ein fahrendes Zigeunervolk also! Es war der Leipziger Maler Max Schwimmer, den ich nach kurzer Zeit erneut in einem Leipziger Haushalt entdeckte. Entweder war der Frankfurter Händler dämlich oder gerissen. Trotzdem ignorierte mich Frau Wagenbret erst einmal, eben, weil sie einen Wessi vor sich hatte. Mit einem Fingerzeig animierte ich sie, sich ans Flurfenster zu stellen. Sie nahm die Brille ab und registrierte tatsächlich das Firmenschild am Fahrzeug des Herrn im Ledermantel. »Ingmar mein Name!«, plärrte der Händler, streckte der Wagenbret die linke Hand hin, weil er mit der Rechten den Bilderrahmen umklammerte. Es hatte den Anschein, als wolle er ihn nie wieder loslassen. Dieser Ingmar hatte wohl einen siebenten Sinn. Nun gab er an, dass er den Nachdruck Max Schwimmers auf Grund des günstigen Rahmenabmaßes sehr gern erwerben würde. Dazu spuckte er auf die Beere seines Zeigefingers und befeuchtete damit die Leinwand im Bereich der Schwimmer’schen Signatur. Jetzt kamen deren Konturen für einige Sekunden deutlich zum Vorschein. Frau Wagenbret schnauzte Ingmar an und fragte, weshalb er diesen schönen Druck anspucke. Ingmar zog ein Taschentuch aus der Hose und wollte die Stelle auf dem Bild wieder trocknen. »Jetzt reichts apper, ja?!«, plärrte die Wagenbret. Nun stand es zwei zu null für mich. Frau Wagenbret lehnte den Verkauf des Schwimmer’schen Druckes, inzwischen misstrauisch geworden, kategorisch ab. Ingmar bot jetzt 60 DM. Ich war in meinem Element und bot 80 DM. Mein Rivale fasste meine Geste als Spaß auf und bot mit. »85«, platzte es aus ihm heraus, dann hüllte ich mich in Schweigen. Als einige Sekunden vergangen waren, landete ich 500 DM, weil ich ahnte, dass sich Ingmar nie in diese Größenordnung bewegen würde. Frau Wagenbret war fassungslos. Jetzt stand sie da und presste wieder ihre Hände ineinander. Inmitten des Hausratswustes entdeckte ich noch eine bronzene Tänzerin auf steinernem Sockel und fragte, ob ich sie bekäme. Die Wagenbret sagte nichts, dann schob sie Ingmar einfach vom Flur ins Treppenhaus. Ich durfte bleiben und wurde sogar zum Kaffee eingeladen, der aber erst gebrüht werden musste. Meine Zeit war inzwischen knapp geworden. Ich hoffte immer noch, die Bronze zu bekommen. Dann war der Kaffee fertig. Er schmeckte scheußlich blechern. Inzwischen fing Frau Wagenbret an zu qualmen, wie ein Stadtsoldat. Dazu bediente sie sich einer antiken Zigarettenspitze, weil das Rauchen damit angeblich gesünder sei. Wenn sie den Rauch in ihre Lungen zog, achtete ich darauf, was sie wohl wieder ausblasen würde. »Wie effektiv!«, dachte ich, denn der ganze Qualm blieb in ihrem Körper stecken. Dieser Dame bin ich wohl einigermaßen sympathisch geworden, denn sie schob eine belanglose Konversation an und fragte mich zwischendurch, ob sie mich mit ihren Geschichten nicht in lange Weile versetzen würde. Natürlich tat sie das, aber ich dokumentierte scheinheilig das Gegenteil und hoffte, so den Weg zu weiteren Verkaufsverhandlungen geebnet zu haben. Nach etwa einer Stunde erklärte sie mir, dass sie am heutigen Tag keinerlei Geschäfte abwickeln wolle. Ich war wie vom Schlag gerührt, hatte ich doch die alte Dame vor einem Betrüger gerettet. Ich fraß meinen Groll in mich hinein. Mir war klar geworden, dass das Geschäft total geplatzt war, jedenfalls heute. »Nun, dass Sie nicht ganz umsonst gekommen sind hier, den ollen Scherbel können Se mitnehmen, dafür will ich nichts haben!«, sagte Frau Wagenbret. Es war eine dekorierte alte Kaffeekanne. Da stand eben noch diese komische Aktentasche auf dem Parkett, die Ingmar vergessen hatte. Ich stöberte in ihr herum und fand die Ausweispapiere dieses Herrn. Ich las: Alfons Gellert, geboren am 16.10.1943 in Oberursel, wohnhaft im Örtchen Lämmerspiel, wohl zwölf Kilometer von Frankfurt/Main entfernt. »Aber Herrr ... wie war doch gleich Ihr Name ...«, fragte mich Frau Wagenbret. »Drehwolke!«, antwortete ich. »Sie wollen doch nicht etwa ...« »Natürlich will ich wissen, wen Sie sich da eingeladen haben«, entgegnete ich und war sauer, weil die Wagenbret um den komischen Hessen so viel Brühe machte. Ich ließ die Papiere auf einen Tisch schusseln. Frau Wagenbret schaute sie gar nicht an und meinte, ich wäre ein halbwegs vernünftiger und ordentlicher Mensch und eben nicht so einer wie der da. Dabei zeigte sie zur Korridortür. Jetzt nahm sie die Ausweispapiere doch in die Hand und befummelte die Hülle, in der sie steckten. »Hübsch, dieses Etui!«, sagte sie. Mehr kam nicht über ihre Lippen. Dann brachte sie mir eine Leipziger Volkszeitung, in der ich die Kanne einrollte. Nun lebte ich wieder auf, denn es handelte sich um eine Meissner Teekanne, die mir schon von der Malerei her interessant erschien. »Melden Sie sich in zwei Wochen!«, sagte sie, dann bin ich gegangen. In erster Euphorie wickelte ich die Kanne bereits auf dem Treppenabsatz wieder aus und erkannte die blauen Schwerter unten auf dem Kannenboden, die mit einem Pünktchen zwischen den Knäufen versehen waren. Es handelte sich um die Zeit von 1763 bis 1774, also um eine interessante Periode in der Meissner Manufaktur. Das wusste ich von meinem Vater, der sich irgendwann einmal mit dieser Materie beschäftigte. Wenigstens fand mein Tag ein einigermaßen angenehmes Ende.
Am nächsten Morgen kreuzte ich bei Kalle auf, obwohl er private Besuche nicht mochte. Vielleicht war das bei Mackenrodt anders. Ich klingelte trotzdem an seiner Wohnungstür – nichts! Möglicherweise war die Klingel zu leise und Kalle hörte sie nicht. Ich beäugte das Schlüsselloch und stellte fest, dass der Schlüssel von innen steckte. Ich trat mit der Fußspitze an die untere Seite der Tür, die sich nun langsam einen Spalt öffnete. Der blonde Wuschelkopf Irmas erschien. Sie glotzte stockbesoffen und halbnackt ins Treppenhaus an mir vorbei. Dann fiel ihr Blick auf mich. »Kallää«, rief sie, » hier is Drehwolkää!« Kalle tänzelte zur Korridortür, voll wie eine Radehacke und machte Anstalten, die Tür wieder zu schließen. Als er merkte, dass ich meinen Fuß in der Tür hatte, versuchte er, mich ans Schlafittchen zu nehmen. Kalle war fertig auf den Röhren, ließ die Tür Tür sein und torkelte zurück in den Flur. Dort fiel er hin, so lang wie er war und blieb auf dem Fußboden liegen. Mein Blick fiel auf pechschwarze Fußsohlen, die einem »Weltmann« gehörten und auf dessen Unterwäsche, die vor Dreck stand. In einer Flurecke lehnte das Fragment einer Flurgarderobe, zusammengeknallt eben aus zwei älteren Bett-Kopfenden. Irma hatte dieses Teil also zweimal verkauft, erst an mich und dann an Kalle. Irma befand sich kurz vorm Delirium. Sie nahm jedoch ihre fünf Sinne zusammen.
Mackenrodt war von seiner Berlinreise zurück und suchte Kalle sofort auf. Der soff hinter verschlossener Wohnungstür den dritten Tag nonstop. In der Georg-Schumann-Straße angekommen, entdeckte Mackenrodt seinen zum Totalschaden zertrümmerten Lieferwagen. Er sprang die Treppe hoch. Trotz seiner Korpulenz nahm er zwei Stufen mit einem Mal. Als er keuchend an Kalles Wohnungstür klingelte, rührte sich zunächst nichts, dann wummerte er kräftig an die Tür. Kalle öffnete und kippte Ulli Mackenrodt wie ein überlasteter Kleiderständer entgegen, da war nichts zu machen, Kalle hatte sich in ein Delirium tremens gestürzt. Da war auch nichts zu verhandeln, weil Kalles Bewusstsein entschwunden war. Mackenrodt knallte die Wohnungstür hinter sich zu, begab sich zu mir und forderte Aufklärung zur Sachlage. Ich berichtete ihm von Kalles Verkehrsdesaster, also von der Kollision mir der Straßenbahn. Natürlich informierte ich gleichzeitig vom Ankauf Kalles bezüglich achtziger Spitzwegfalsifikate und vom Erwerb dreier Kommoden und zweier Schreibsekretäre. Jetzt war ich wohl auch noch Mackenrodt’s Sündenbock, denn er machte mich dafür verantwortlich, dass Kalle gestrauchelt war. Die Ankaufskoryphäe Kalle Zangenberg existierte für ihn nicht mehr. Mich benötigte Mackenrodt dringend in Kreuzberg. Dort waren einem türkischen Händler einige hundert Schellackplatten und ca. zweitausend alte Ansichtskarten zu übergeben. Vom kommenden Samstag zum Sonntag war Flohmarkt am Brandenburger Tor. Da ich mich auch in der türkischen Händlerscenerie mittlerweile gut zurechtfand, hatte ich bei Mackenrodt freie Hand.
Am nächsten Tag versuchte Mackenrodt, sich Zangenberg zur Brust zu nehmen. Nach langem Hin und Her gelang es ihm auch. Kalle war inzwischen einigermaßen nüchtern. Irma hatte ihn ausgenommen wie eine Weihnachtsgans und den Messie Konrad Zangenberg seinem Chaos überlassen. »Zu guter Letzt«, sagte sie, »habe ich mich auch von Kalle nicht betätscheln lassen, weil der so war wie sein Müll!«. Anfangs war ich eifersüchtig auf Kalle, wegen des scheinbar intimen Verhältnisses zu Irma, doch jetzt war ich einigermaßen beruhigt, wollte ich doch den Kontakt zu Irma nicht verlieren! Umso wütender war ich auf den Hochstapler Zangenberg, der natürlich das Verhältnis zwischen mir und Mackenrodt empfindlich ins Wanken brachte. Von den dreißig »Riesen«, die er dem »Starankäufer« Kalle vertrauensvoll überließ, existierte nur noch ein Fünftel. Ein Teil des Geldes wanderte durch Kalles Kehle, in die Handtasche Irmas und dann in eine Spielhölle. Mackenrodt’s Vertrauen war bisher unendlich. Nun forderte er eine glasklare Abrechnung, doch der Anfangsetat für unseren Antiquitätenhandel Raum Leipzig, war so gut wie »verheizt«. In der darauf folgenden Woche suchte Mackenrodt alle Kunden auf, die Kalle heimsuchte. Der Grund waren die äußerst fragwürdigen Abrechnungen Kalles. Da gab es z. B. die Familie Ringsleben in der Limburger Str. 10, die an Spangenberg eine vierschübige Gründerzeit-Weichholzkommode der Umstände wegen zum Preis von zwanzig DM verscheuerte. Ringsleben, Pfarrer i.R., nannte Kalle sogar einen Scharlatan. Die Kommode musste eben vom Dachboden herunter und in der Wohnung war kein Platz. Kalle schlug voll zu und kassierte von seinem Chef vier nagelneue Hunderter, ohne das ,Exponat‘, so nannte es Kalle, seinem Chef zu präsentieren. Mackenrodt hatte sich also von Kalle übertölpeln lassen. Zum Schluss fiel Mackenrodt fast in Ohnmacht – achtzig Spitzweg-Nachbildungen erwarb Kalle wie gesagt, in der Karl-Heine-Straße und zwar zum Stückpreis von vierzig DM – ein schönes Geschäft für mich! Lehrer Schusters Versprechen galt und ich durfte 30% Provision einstreichen. Da waren also für achtzig Bilder 3.200 DM entrichtet. Die Schusters waren übrigens tolle Leute und Ende siebzig. Er, das Oberhaupt der Familie, war Lehrer in Pension und malte für sein Leben gern Motive von Postkarten auf das schlimmste Material, was es als Malgrund je gab, nämlich Hartfaser. Wegen des Terpentingestanks im Haus, verwendete er eben keine Ölfarben, sondern Acryl. Damit begann er mit eben diesen spitzwegschen Motiven ins Rennen zu gehen, u.a. auch als ein Hobby während seines Rentnerdaseins. Schuster war entzückt, als ich seine Bilder das erste Mal bewunderte. Er schenkte mir sogar eins. Die Farben auf den Hartfaserplatten waren auf Grund schlechter Mischtechnik unnatürlich stechend. Die Landschaften hingegen waren super, doch die Gesichter schauten ausgesprochen dämlich drein. Schuster bekam sie, wie so viele andere Freizeitmaler auch, nicht hin. »Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul!«, sagte ich mir und riet Schuster ab, künftig Hartfaserplatten für Malgründe zu verwenden, sondern Pappen oder eher Leinwände. »Ach was! In meinem Alter?«, widersprach Schuster
Kalle meinte, er hätte den größten Reibach seines Lebens gelandet, also mit dem Ankauf dieser herrlichen, möglicherweise echten »Spitzwege«. »Knorjke is, det der olle Schusta aus Plagwitz keene Ahnung von Kunst hat!«, dokumentierte er mit Nachdruck. »Soll ick den Rest noch aus sein’ Haushalt raushol‘n? Krieje ick fürn Appel un‘n Ei! Da sin ooch noch vill bessere Bilda vorrätich. Un, die Ossis jetzte mit die DM ...« Mackenrodt ließ Kalle gar nicht ausreden und schleuderte einen »Spitzweg« nach dem anderen durch die Luft, dicht an Kalles Kopf vorbei. »Haste wat an ‘ne Birne? Wat soll ‘n diesa Schrott?! Det Zeuch kooft keene Sau, Mensch! Un wat is mit die Möwel?«, brüllte er, sodass sich seine Stimme fast überschlug. Ich habe Mackenrodt noch nie so erlebt. »Wo is det Jeld, der Rest von die Dreißichdausend?«, fragte er und verschwand im Lager. Kalle schwieg. Noch am gleichen Tag schmiss ihn Mackenrodt aus der Firma. Als Kalle auf dem Hof des Lagers stand, tat er mir leid. Warum eigentlich? Dann war Mackenrodt plötzlich in Sanftmut getaucht: »Denn haste det Jeld wohl offe Seite jebracht, wahh? Nu haste so ville wie ‘n Minista in ‘n anderthalben Monat inne Tasche! Awa ick will nischt mehr davon wissen!« sagte er. Es klang, als wollte er Gnade vor Recht ergehen lassen. »Denn nimm den Zasta jleich als Startjeld für deine neue Zukunft un sach deine Mutta ‘n schön’ Jrus von mir, vaschstehste?! Un sach ihr ooch, det se off sich uffpassen soll, wejen die Jeschlechtskrankheiten! Außadem passt der Adelstitel, also det »von«, wat se sich da vor ihr’n Namen jehang’ hat, ooch nich zu ihr! Richte ihr ooch aus, det ick keen Jeld mehr habe! Un wenn se jetze och noch als Callgirl arweetet, brauch se mir sowieso nich anzurufen!« Mackenrodt machte seinem Herzen schlicht und einfach Luft. Er wusste demnach alles über das Treiben der Frau Rosa »von« Zangenberg aus Rummelsburg. Für mich gab es da nur die Spitze des Eisberges, aber die Geschichte interessierte mich nicht sonderlich. Kalle war mir immer ein Dorn im Auge. Jedenfalls hatte ich ihn nicht mehr am Hals und atmete auf.
Ich stand der Reaktion Mackenrodt’s in gewissem Sinne ehrfürchtig gegenüber, da gab es nichts als nur eine kulante Abfindung für Kalle Zangenberg, das Individuum besonderer Art.
Hasan Ali Abdullah verkauft die Nationale Volksarmee der ehemaligen DDR
»Um den Zangenberch in ‘n Hintan zu treten, warste ooch zu feije, wat?« Da kam doch Mackenrodt einige Zeit später auf Kalle zurück und gab mir teils die Schuld für die entstandenen Verluste, vor allem in finanzieller Hinsicht. Blitzschnell zog ich den Lieferwagenschlüssel aus der Tasche, steckte ihn in Mackenrodt’s Kittel und war im Begriff, zu kapitulieren. Der Schlüssel fiel durch die Löcher im Futter der Tasche und landete auf dem Hof. Mackenrodt bückte sich, hob den Schlüssel wieder auf und entschuldigte sich, als wäre ihm der Zündschlüssel aus der Hand gefallen. Meine Reaktion schlug also ein wie eine Bombe. Das Wochenende kam. Mackenrodt und ich packten allen Trödel, der nicht niet- und nagelfest war, in den Transporter, einschließlich der Schellackplatten. Hinzu kamen alte Ansichtskarten, deren Anzahl in den letzten Tagen auf zweitausend angewachsen war. Davon zweigte ich dreihundert für mich ab, um sie außer der Reihe an den Mann zu bringen. Dann stopften wir noch zwei Tapeziertafeln zwischen Ware und Wagendach. Das Heckfenster war total verbaut. Für mich war das Orientieren mittels Rückspiegel ungewohnt. Mackenrodt war nicht mit von der Partie. Er blieb wider Erwarten am Wochenende in Leipzig. Am Vorabend der Berlinreise telefonierte ich mit Hasan Ali Abdullah, das heißt, ich rief ihn an, um die Uhrzeit des Treffs am Brandenburger Tor zu präzisieren. Am anderen Ende der Strippe war erst einmal das Piepsen einer Kinderstimme auf berlinisch zu vernehmen: »Wat bist’n für eenaa?« Anschließend meldete sich Herr Hasan Ali Abdullah mit Vor- und Zunamen. »Ganz schön türkisch!«, war mein erster Gedanke, weil ich kein Wort verstand. Als ich den Namen Mackenrodt ins Spiel brachte, artikulierte sich Abdullah plötzlich in sehr verständlichem Deutsch: »Asoo! Dann wolln wir mal! So morgen gegen zehn Uhr nischt?«
»Danke!«, sagte ich das war alles. Abdullah kannte bereits die Art der Ware, die für Samstag zur Disposition stand. Ich war also am nächsten Tag morgens 9.15 Uhr vor Ort, früher als vereinbart. Trotzdem war schon ein reges Treiben auf dem Flohmarkt zu verzeichnen. Ich parkte irgendwo und lief durch die Gassen der Flohmarktstände. So etwas hatte ich in meinem Leben noch nicht gesehen. Hier wurde, wenn man so will, die Nationale Volksarmee der ehemaligen DDR zum Kauf angeboten. Mit Feldspaten und hölzernen Fecht-Mpi’s(Maschinenpistole aus Holz für einfache militärische Übungen)begann der Trubel. Des Weiteren waren die Stände mit Gasmasken, Soldatenstiefeln, Stahlhelmen und Marschgepäckstücken übersät. Dann begann der Markt etwas spezieller zu werden. Hier fand man Uniformen vom Unteroffizier bis zum Fähnrich, vom Unterleutnant bis zum Oberst und vom Generalmajor bis zum Armeegeneral. Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken, eine, die angenehm war, konnte ich mir doch die Jacke des höchsten Dienstgrades der Volksarmee anziehen, eben die des Armeegenerals. Allerdings erwischte ich die Größe 46. Da reichten die Ärmel nur bis zu den Ellenbogen. Plötzlich kam Ali Abdullah auf mich zu, der mich anhand des Firmenschildes am Fahrzeug identifizierte. Er gab erst einmal einen Pappbecher Kaffee aus. Die Uniformen waren fein säuberlich nach Konfektionsgrößen geordnet, denn die meisten Türken waren Textilhändler und verstanden diesbezüglich ihr Handwerk. Allerdings hingen die Dienstgrade kreuz und quer durcheinander. Da war z.B. der Soldat neben dem Generalmajor zu finden und der Gefreite zwischen zwei Hauptmännern und ein Leutnant trug die Schirmmütze vom Generaloberst. Der größte Clou war, dass die Jacke des Armeegenerals auf einer weiblichen Modepuppe hing, deren Kopf mit dem Käppi eines Soldaten dekoriert war. Auch dieser Stand gehörte einer türkischen Familie aus Tempelhof. Veranstalter war jedoch Hasan Ali Abdullah. Offenbar hatte diese Nationalität bzw. der ,Nahe Osten‘ das Monopol für solche Märkte. Die Fläche am Brandenburger Tor, also der Pariser Platz, war allerdings nur für dieses Wochenende genehmigt, sozusagen als »Abklatsch« des Tiergartener Flohmarktes.
Unter meiner Aufsicht wurden nun die Uniformen nach der Rangordnung umgehangen. Hasan spendierte für mich noch ein Bier. Nun räumte ich mein Fahrzeug aus. Weil es ihm zu lange dauerte, stellte er mir einen Helfer dazu, der sich mit dem Kleinkram beschäftigte. Als die Tapeziertafeln mit Ware aufgebaut waren, befand sich in meinem Fahrzeug noch eine Menge Glas und Porzellan. Abdullah brachte mir noch einen alten Tisch und zwei alte Stühle, sodass ich alles an Ware zur Schau stellen konnte. Der erste Kunde war Abdullah selbst, der in den Schellackplatten wühlte und um die dreißig Titel ankaufte. Dabei fischte er das Lied «Im Grunewald ist Holzauktion!«, «Das Lied von der Krummen Lanke« und mehrere Militärmärsche und Jazzplatten aus den vierziger Jahren gesondert heraus. Anschließend knallte er mir einen Zweihunderter und einen Fünfzigmarkschein auf den Tisch. Dann lud er mich zum Mittagessen ein, nach seinem Dafürhalten ganz pompös. Hasan kündigte an, dass es ,deutschä Küche‘ sei. Dann erklärte er mir, dass er erst zehn Jahre in Deutschland leben würde und aus diesem Grund an ein akzentfreies Deutsch noch nicht zu denken sei. Seine Kinder, sagte er mir, würden zweisprachig aufwachsen und manchmal sogar berlinern. Er sprach ganz vornehm von Pommes frites mit Beilage. Ich konnte mir das Lachen nicht verkneifen. Nach dem Mauerfall begann sich nämlich eine Art »Pommes-Gesellschaft« zu entwickeln, dort, wo der Dönerkebab, also der Döner, fast unbekannt war. Inzwischen hatte ich dieses Pommeszeug bis obenhin satt. Dann gab es Knacker mit »Beilage«. Für Hasan war die Beilage eigentlich nur Ketschup, mit dem die Wurst bestrichen war. Dazu gab es eben Pommes.
Hasan führte mich durch einige Marktgassen, dann landeten wir an seinem Bistro, was aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt soviel heißt, wie -kleines Lokal-, doch weit gefehlt! Wir betraten lediglich einen Schuppen, in dem es nach Frittüre roch und furchtbar nach Knoblauch stank. Hasans Frau schmiss den Laden. Sie hatte ihr Kopftuch eng um den Hals geschnürt, um zu verhindern, dass die Zipfel in die Fritteuse gelangten. Dann nahm sie einen großen Papiersack und ließ Pommes in das siedende Fett rutschen. Wir nahmen auf übereinander gestapelten Gemüsekisten Platz, die um ein Tischprovisorium aus gehobelten Brettern standen und schlürften wieder Kaffee aus Pappbechern. Trotzdem, ich fand die Atmosphäre urgemütlich. »Nun, wenn do lieber türkisch willst, dann nimm Dööner, sind sehr gutt!«, sagte Hasan. In einer Ecke des Schuppens befand sich nämlich ein Dönerspieß mit Hammelfleisch. Ich wählte den Döner und bat, mir Fleisch und Salat, ohne diese knoblauchhaltige Remouladensoße, auf einen Teller zu legen. Hasans Frau tat es und setzte sich mit ihrem 10-Jährigen Sohn und ihrer 8-jährigen Tochter zu uns. Jeder von ihnen hatte einen riesigen Döner in der Hand und biss hinein. Ich befürchtete, dass alle drei die »Maulsperre« bekommen würden. Dann holte Frau Abdullah eine große Haushaltsrolle an den Tisch und riss einige Papierstücke davon ab. Alle wischten sich die Remoulade aus den Mundwinkeln und vom Kinn. Dann knallte Hasans Frau eine große Thermoskanne Kaffee auf den Brettertisch, den sie vorher mit bunten Servietten dekorierte und goss unsere Pappbecher noch einmal bis zum Rand voll.
Das Geschäft florierte. Von den fast fünftausend Ansichtskarten waren dreitausend verkauft – das Gros allerdings zum Pauschalpreis. Dabei bin ich gut weggekommen, weil sich in den Kartenstapeln größtenteils Massenware verbarg. Auch das Geschäft mit sonstigem Kleinkram, wie Trödel und diversen Kleinantiquitäten, lief vortrefflich. Ich hatte inzwischen weit über 2000 DM eingenommen, dazu kamen die 250 DM von Hasan. Aus meinem eigenen Fundus brachte ich eine ganze Menge alten Hausrates unter die Leute. Ich dachte gar nicht daran, Mackenrodt darüber zu informieren.
Hasan hat mir Logis angeboten, d. h., eine Nacht auf seinem ,Gästekanapee‘ bei ihm daheim. Das lehnte ich ab, weil ich plante, abends ab 19.00 Uhr meine Heimreise anzutreten. Hasan entgegnete viel später, Mackenrodt hätte entschieden, über meinen Kopf hinweg natürlich, dass ich den morgigen Sonntag dafür verwenden solle, den Rest der Ware »abzudrücken«. Schließlich würde Mackenrodt den Transport finanzieren. Natürlich war das der Zungenschlag Mackenrodt’s. Ich war mir sicher, dass Hasan hinter meinem Rücken mit ihm telefoniert hat. Was wollte ich tun? Also blieb ich über Nacht am Brandenburger Tor, so, wie andere weitgereiste Händler auch. Außerdem war das Wetter entsprechend. Hasan vertrat die Meinung, dass wir wegen des Verkaufserfolges am Samstag einen auf die Lampe gießen müssten. Nun fand ich es gar nicht so schlecht, dass Abdullah Mackenrodt auf mich hetzte. Hasans Frau schenkte Likör oder besser gesagt eine Art »Kommodenlack« aus, den sie selbst fabrizierte. Das Zeug biss im Rachen, schmeckte aber. Wir soffen wie die Löcher bis morgens gegen halb drei und niemand bekam einen Brummschädel, komisch! Dann bewegte ich mich schwankend zu meiner »Miniatursuite«, d.h., ich kroch in meinen Kleintransporter und haute mich auf ein paar Decken. Gegen 9.00 Uhr früh klopfte Hasan Ali Abdullah schon wieder an meine Hecktür – das Frühstück stand bereit.
Am Sonntag ging es viel turbulenter zu, als am Samstag. Nachmittags ein Uhr saßen wir wieder in unserem »Bistro« bei Hammel, Fladenbrot und Kaffee. In der Zwischenzeit wurde mein Verkaufsstand von einem Helfer bewacht. Plötzlich brach ein ungeheuerer Tumult los. Einer der Kaufkunden hatte bei Hasans Kompagnon einen Silberleuchter gestohlen. Eine internationale Verfolgungsjagd entbrannte. Zwei Russen, ein Holländer, zwei Türken und ein Deutscher rasten zwischen den Flohmarktständen hinter dem Dieb her. Dieser geriet, wie in einem Irrgarten in die Enge getrieben, nach wenige Minuten in »Gefangenschaft«. Die Verfolger zerrten ihn in eine Ecke und stellten ihn auf den Kopf im wahrsten Sinne des Wortes! Dabei kamen eine alte Granatbrosche und ein goldener Anhänger mit Kette zum Vorschein. Beide Schmuckstücke stammten von der kleinen Auslage an »Trudes Bratwurstbude«. Die betagte Dame versuchte gar nicht erst, die Verfolgung aufzunehmen, denn das brauchte sie nicht. Jetzt kam sie angehumpelt, rechtsseitig auf ihren Krückstock gestützt, den sie jetzt drohend erhob und dem Dieb gegen die Brust drückte. Es hatte den Anschein, als sei sie seine Duellantin, die nun den Todesstoß ausführen wollte. Dann ließ sie den Stock sinken und versetzte dem Dieb einen empfindlichen Schlag gegen das rechte Schienbein. »Mach dir bloß üwan Damm, olla Zausel!«, sagte sie. Es klang, als hätte eine Mutter ihren Sohn gerügt. Dann verabreichte man ihm noch eine tüchtige Ohrfeige und einen Tritt in den Hintern – somit war die Sache gegessen! In unmittelbarer Nähe befand sich eine »Grüne Minna«, deren Insassen das Treiben einäugig beobachteten. Die Polizisten nahmen die verübte Selbstjustiz dankbar hin und hakten den Fall ohne großes Trara ab. An jenem Samstag und Sonntag stand die alte Dame ausnahmsweise am Brandenburger Tor. Sie bot außer der Reihe etwas Modeschmuck, irgendwelchen Klimbim oder Tinnef aus Urgroßmutters Zeiten feil, eben auch diesen alten Granatschmuck in Form von Broschen, Anhängern und Armreifen.
Trude, das Berliner Idol, betrieb tatsächlich eine mobile Bratwurstbude zur Aufbesserung ihrer Rente. Natürlich gab es auch Berliner Bouletten und zuweilen gegrillte Haxen. Abdullah transportierte Trudes Holzgehäuse per Kran und LKW immer dahin, wo sie gerade stehen wollte, falls natürlich die Stadtverwaltung mitspielte. Am liebsten hätte sie sich mit ihren Stand an der Krummen Lanke oder am Schlachtensee bei Steglitz-Zehlendorf etabliert. » ... nämlich, weil wa da als Kinda ville rumjestromat sin«, gab sie als Begründung an, doch der Umsatz ließ dort wohl sehr zu wünschen übrig. Und weil sich Trude auf Bude reimte, machte man eben seinen Witz über sie:
So alt wie Trude
ist die Bratwurstbude.
Irgendwann erzeugte Trude einen Eklat, weil sie sich mit ihrem Bratwurststand zu nahe an den Reichstag wagte und sie sich plötzlich in einer vom Amt inszenierten Bannmeile befand. Mit dem Bratwurstverkauf in dieser Gegend war’s aus. Trude musste also das Feld räumen. Abschließend wanderte noch ein Verwarnungsgeld aus ihrer Tasche in die der Stadtkasse. Vielleicht hat sie an Helmut Kohl gedacht und sich gewünscht, dass der sich an ihren Grillhaxen laben würde. Außerdem hoffte sie auf ein Gespräch mit dem Bundeskanzler, in welchem sie zum Ausdruck bringen wollte, dass, weil die Mauer niedergerissen wurde, nun auch der Umsatz mit »Thüringer Bratwürsten« und sonstigem Imbiss besser florieren würde. »Trude’s Bratwurschtstand is ja ooch’n Unnekat, Jott sei Dank! Da ham de Ossis wenichstens wat zu fressen!«, meinte ein bösartiger Bürger aus Adlershof, der im Begriff war, eine Berlinboulette mit Mostrich und Schrippe zu erwerben. Und Trude war gerade dabei, die Boulette mit Grünzeug zu dekorieren. Nun hielt sie inne und antwortete: »Also Menneken! Koof dir doch deine Boulette bei euch drüben in ‘ne HO, vastehste?!« Die Krönung des ganzen war, dass der Kunde aus Adlershof lediglich einen winzigen Mostrichklecks auf die Nasenspitze bekam, sonst nichts! Dann verschwand der Mostrichlöffel wieder in der Versenkung. Das war Trude, wie sie leibte und lebte! Seit dem Problem mit dem ,Standort Reichstag‘ verkaufte Trude Sommer wie Winter ihre Ware auf dem Flohmarkt in Tiergarten. Im Winter lief auch das Glühweingeschäft gut.
Gegen vier Uhr nachmittags war zwar meine Ware fast verkauft, allerdings bin ich fast verzweifelt. Die Kaufkundschaft tat sich verdammt schwer. Alles wurde x-mal in die Hand genommen und hin und her gedreht. Trotzdem, ich war von der allgemeinen Atmosphäre höchst angetan.
Hasan hatte inzwischen seinen Schuppen auf einen LKW gehievt. Dieses Gehäuse war aus einem Stück »gefeilt«. Das leichte Dach war innen mit starken Holmen versehen und somit statisch abgesichert. Um den Schuppen herum fummelte man einfach zwei lange Stahlseile und befestigte sie am Lasthaken eines Hebezeuges.
Hasan kreuzte noch mal auf. »No, man sieht sisch – vielleicht nächste Woche?«, fragte er. »Natürlich, aber das hängt von Mackenrodt ab!«, entgegnete ich.
Am Abend gegen sechs Uhr trat ich die Heimreise nach Leipzig an. Montag früh war ich mit Mackenrodt verabredet.