Lieber einem Ausbeuter auf der Tasche gelegen, als unter der Brücke!
»Greif zu, besser als nichts!«, habe ich mir gesagt, denn mein geplanter Antiquitätenhandel kam vorerst nicht in Gang. Der bayrische Gastronom Wackernagel aus München-Mittersendling führte in Leipzig mindestens fünf Imbissstände und ebenso viele gastronomische Einrichtungen in der Gegend von Plagwitz und Alt-Lindenau. Eine Einrichtung existierte seit Ende 1990 und zwar in der Eisenbahnstraße von Neustadt-Neuschönefeld. Diese Gegend stieg bald zum internationalsten Viertel von Leipzig auf. Dort produzierte man Hausmannskost zu halbwegs günstigen Preisen. Es war, gelinde gesagt, eine Kneipe oder besser gesagt eine Kaschemme. Vielleicht war sie noch das beste Haus von allen sechsen am Platz. Es trug den Namen »Abendfrieden« trotz der nächtlichen Randale, durch die die Polente immer in Bewegung gehalten wurde. Man konnte sich dort morgens um Acht schon einen hinter die Binde gießen. Einesteils war das gut so, da waren die notorischen Säufer nachmittags 13.00 Uhr fertig auf dem Docht und horchten in die Matratze. Jedenfalls hat Wackernagel für diese Gaststätte einen Beikoch mit sofortigem Einstieg gesucht. Eine Kochkraft ohne Zertifikat zu finden, ist eben einfacher. Natürlich war ich in der Lage, einfache Gerichte, wie z.B. Röstkartoffeln, Suppen, verschiedene Salate und auch ein Bratengericht mit hohem Zeitaufwand herzuzaubern, nicht aber im Simultanverfahren eine ganze Speisekarte abzuarbeiten. Mir fehlte eben die Routine, um die vielen Zwischenschritte während der Kochprozesse zu absolvieren. Außerdem hatte ich große Probleme mit dem Dosieren von Würzmitteln bei großen Portionen z. B. in Kochkesseln. Trotzdem, ich habe erst einmal angebissen und mich als Tausendsassa verkauft – ein Fehler, wie es sich später herausgestellt hat! Mir wurde klar, dass Wackernagel den Lohn nur für eine Art Hilfskoch übrig hatte, aber volle Leistung verlangte. Ich zog meinen besten Anzug an, band eine Krawatte um und stiefelte in Wackernagels Büro. Da stand ich nun als Erstbewerber vor meinem künftigen Chef. Er fragte mich, ob ich in meiner albernen Montur auf den Strich gehen wolle. Dabei gaffte er mich an, als sei ich ein Außerirdischer. Sollte ich mich etwa so transvestitisch gekleidet haben? Die Karten waren also völlig anders gemischt, als ich dachte. Bevor ich beleidigt war, hat mich Wackernagel tatsächlich als Beikoch eingestellt. Anschließend sollte ich mich in den Umkleideraum begeben und mir passende Küchenklamotten von der Stange nehmen. Dabei hat er ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er mich nur deshalb beschäftigen würde, weil in seiner Küche auf äußerste »Not am Mann« sei. Dann sagte er mir ins Gesicht, dass ich ihm unsympathisch sei, aber das läge einzig und allein an mir selbst, daran hätte die Firma Wackernagel keine Aktie. Ich hatte plötzlich das Gefühl, als sei ich überflüssig auf dieser Welt – mein Selbstwertgefühl war also wieder mal dahin. Wackernagel fand mich eben zum Kotzen, obwohl er mich vorher nie gesehen hatte. Es war eben Abneigung auf den ersten Blick und das sollte ich schnell zu spüren bekommen. »Na ja«, dachte ich mir, »vielleicht kann ich dem Wackernagel eines Tages Paroli bieten!«
Kaum hatte ich mich als Koch verkleidet, als ich über die Putzfrau den Befehl erhielt, mich vor Antritt der Küchenarbeit beim Wutscher zu melden. Ich fragte, wer Wutscher sei. Da grinste die Putzfrau und erklärte mir, dass man dem Wackernagel den »Wutscher« als Spitznamen angehängt hat. Gleichzeitig hat sie mich davor gewarnt, den Wutscher in Gegenwart des zickigen Wackernagels in den Mund zu nehmen, das könnte ich bei Strafe meines sofortigen Rausschmisses gern riskieren, nur Wackernagel selbst dürfe alles. Jetzt sollte ich nur schnellstens zu ihm »wutschen«, was laut Wörterbuch wohl auch ,schnell bewegen’ heißt. Ich bin also zu Wackernagel gewutscht, um mich erst einmal in die Mangel nehmen zu lassen. »Den Kontrakt gibt’s erst nach der Probezeit!«, sagte er und glotzte mich wieder von oben bis unten an. Zum Schluss blieb sein Blick auf meinen »Samba-Latschen«, also dem sandalenähnlichen Schuhwerk, hängen. Das musste ich sofort durch feste Lederschuhe ersetzen. Die Zeit die ich dafür benötigte, inklusive des Weges nach Hause und zurück, zog er mir natürlich gleich vom Lohn ab. Ich habe mich dann wieder zurückgemeldet, weil Wackernagel die Schuhe »abnehmen« wollte, ähnlich einem so genannten TÜV. Wackernagel hat nun mit großer Befriedigung festgestellt, dass meine Absätze schiefgelatscht waren und eine Art Mängelprotokoll angefertigt. Dann gab er mir die Anweisung, dass die Schuhe aus hygienischen Gründen ab sofort der Straße fernzuhalten sind und diese nur während des Einsatzes in der Küche zu tragen seien. Zähneknirschend bin ich die weite Strecke wieder nach Hause getrampt, um meine Sandalen zurückzuholen. All das dauerte dem Wutscher viel zu lange. Aus diesem Grund hat er letztendlich den ganzen Tag von der Lohnzahlung ausgeschlossen.
Auf der Speisekarte standen in der Regel immer fünf Hauptgerichte und etliche Suppen vom Ochsenschwanz bis zur Tomate. Dazu gab es an jedem Tag, aber nur von Montag bis Freitag, ein billiges Tagesessen. Heute, ab 11.30 Uhr, sollte es Kohlroulade mit Kartoffelpüree geben. Mein Blick ist deshalb nur auf dieses Gericht gefallen, weil ich mit Schrecken feststellte, dass es schon 9.30 Uhr war. 9.35 Uhr hat mir Wackernagel dann die Speisekarte auf den Tisch geknallt und gesagt, dass er pünktlich um 11.30 seine Mittagsmalzeit einnehmen wolle. So wie der Chef kam, war er wieder verschwunden, mies gelaunt wie immer. Am ersten Tag, also zum Beginn meiner »Feuertaufe«, stand ich in der gähnenden Leere »meiner« Küche, mutterseelenallein auf weiter Flur. Ich war nun mein eigener Chef, ohne jegliche Unterstützung, in einer Filiale der Wackernagel’schen Ausbeutung.
Alles, was aussah wie ein Weißkrautkopf, habe ich in einen Wasserkessel mit kochendem Wasser geschmissen. Inzwischen stöberte ich den Hackepeter auf. Er befand sich knallhart gefroren und ungewürzt im Gefrierschrank. Den Hackepeterbottich nahm ich heraus, hievte ihn auf den Herd und stellte die Kochplatten auf -eins-, um das Auftauen künstlich voranzutreiben. 9.50 Uhr hat dann die Putzfrau ihren Wuschelkopf durch die Küchentür geschoben, um mich darüber zu informieren, dass der Wutscher »abhanden« sei. Ich stellte fest, dass sie darüber sichtlich froh war, denn sie betrat unerlaubt die Küche, pflanzte sich auf einen Stuhl in Nähe des Hinterausganges, legte die Beine übereinander und brannte sich eine Zigarette an. Als ich die Fenster aufriss, drückte sie anstandshalber ihre Zigarette auf einem sauberen Tranchierbrett aus und meinte, dass der Wutscher doof sei. Darüber, dass sie den Wackernagel gemeint hat, war ich froh, denn mir stand der Hintern voller Tränen. Das Weißkraut war kaum weich und der Wutscher wollte seinen Fraß pünktlich um 11.30 Uhr haben. Jetzt wischte sich die Putzfrau die Hände an den Hosennähten ab und sagte mir, dass sie den altmodischen Namen Irma mit sich herumtrüge und mir ein wenig helfen würde. Ich log, indem ich dokumentierte, dass ich den Namen Irma schön fände. Über das Großmaul dieser Person habe ich mich natürlich nicht mokiert, denn Irma war jetzt meine Retterin in der Not. Gemeinsam fabrizierten wir also Kohlrouladen, wie sie in keinem Kochbuch standen. Erst nahm ich das Kraut aus dem Kessel und schnitt die Köpfe mittendurch. Irma trennte die Blätter voneinander, um den Prozess des Abkühlens zu beschleunigen. 10.15 Uhr habe ich das Grundstück nach Kartoffeln abgesucht, nichts gefunden und dann auf eigene Kosten einen 25-kg-Sack aus dem KONSUM geholt. Ich schüttete alle Kartoffeln in den Schälautomaten und wollte ihn anwerfen, nichts er war möglicherweise defekt. Ich habe die Kartoffeln aus dem Automaten wieder herausgeholt und das Schälmesser angesetzt. Irma meinte, dass ich mich beim Schälen dämlich anstellen würde und übernahm diese Arbeit. In der Zwischenzeit setzte ich eine der Kippbratpfannen in Gang und warf fünf Würfel Bratmargarine hinein. Als es anfing zu brutzeln, habe ich die Pfanne wieder abgeschaltet, weil noch keine der Rouladen gewickelt war. Irma meinte außerdem, dass es Quatsch sei, die Kohlrouladen in einer offenen Pfanne zuzubereiten. Ich stellte die Kippbratpfanne ab, versuchte die heiße Margarine in einen großen Tiegel zu löffeln und warf dann einen großen Backofen an. Erst gegen 10.45 Uhr landeten zwei Kilo geschälte Kartoffeln in einem 100-Liter-Kochkessel, aufgefüllt mit ca. 100 Litern eiskalten Wassers. Das Salzquantum kalkulierte ich hypergenau nach der Menge der Kartoffeln und schüttete einen gestrichenen Teelöffel davon in den Kessel. 11.15 Uhr war das Kartoffelwasser lauwarm und 50 Kohlrouladen waren nun in rohem Zustand hergestellt. So ganz nebenbei zeigte mir Irma die Speisekarte mit den restlichen Gerichten, die den Gästen ab 11.30 Uhr, bzw. nach Wunsch, serviert werden sollten. Da stand neben vielen Kleinigkeiten u. a. geschrieben:
-Sauerbraten, Klöße, Rotkohl
-Tafelspitz, Meerrettichsauce
-Schweizer Sahneschnitzel, Mischgemüse
-Schweinenackensteak, Röstkartoffeln
-Rindsroulade, Rotkohl
-Sülze Hausfrauenart, Remoulade
Als Beilagen servieren wir ...
Mit keinem dieser Gerichte hatten wir begonnen. Alles, was in den Tiefkühlschrank gehörte, befand sich noch im tiefsten Winterschlaf. 11.25 Uhr begannen sich im Wasser des Kartoffelkessels kleine Perlen zu bilden. Meine Knie wurden vor Angst weich. Tatsächlich kam der Wutscher mit seinem Audi-Quattro angetrudelt, ging in sein Büro, knallte den Zündschlüssel auf den Tisch und besuchte die Toilette. Irma ging ebenfalls in dieses Büro und schnappte sich den Zündschlüssel. Ich dachte, Irma sei durchgeknallt. Jetzt begriff ich: Sie hatte sich den Zündschlüssel unter den Nagel gerissen, den Schlüsselring auf den Zeigefinger gesteckt und ließ beides um mein Gesicht kreisen. »Da is näbenan de Feierwehrausfahrt dor neu entstandnen Zwanzisch-Familien-Resedenz für ausländsche Staatsbürscher!« sagte sie. Ich zog den Zündschlüssel von ihrem Finger und ließ mich dazu hinreißen, den Quattro Wackernagels vor die Feuerwehreinfahrt zu kutschieren – ein unverschämter Racheakt! Ich warf den Schlüssel nicht dahin zurück, wo ihn Irma geklaut hatte, sondern in einen Müllkübel. Inzwischen postierte sich Irma mit einem Wischeimer vor Wackernagels Klotür. Sie klemmte den Schrubber außen zwischen Fußboden und Klinke, um die Tür zu blockieren. Sie wischte nun den Gang trocken, der eigentlich trocken war. In der Zwischenzeit hat ein »Denunziant« diese Zwanzig-Familien-Residenz über den Vorfall informiert. Da ist sogleich ein Herr erschienen, welcher den PKW Audi, amtliches Kennzeichen M wie München, W wie Wackernagel und 4711 wie Eau de Cologne, identifiziert hat. »Dor Wu... äh, Wackernagel is off’n Kloo!«, gab Irma bekannt, doch der war schon wieder im Einsatz. Der nette Herr von nebenan hatte große Mühe, dem Choleriker Wackernagel in gebrochenem »Türkisch-Deutsch« beizubringen, dass seine Feuerwehreinfahrt blockiert sei. »Was geht‘s mich an!«, brabbelte der Wutscher auf bayrisch und ließ seinen Nachbarn rechts liegen. Der wiederum hatte nichts Eiligeres zu tun, als Ordnungsamt und Polizei in Aufruhr zu versetzen. Wackernagel bewegte sich nun in Richtung Küche. »Nee!«, rief Irma, »Ihre Karre isses, die da vor dor Feierwehreinfahrt schteht!« Wütend über das Wort Karre rannte Wackernagel tatsächlich auf die Straße und beäugte seine Nobel-Karosse.
Inzwischen war es 11.30 Uhr, die Kartoffeln begannen zu kochen und die Kohlrouladen brutzelten bereits im Ofen vor sich hin. Bis jetzt war die Kneipe noch leer. Sollte jetzt eine Gästeinvasion beginnen, hielte ich die Leute erst einmal mit einem Umtrunk auf Kosten des Hauses über Wasser, dann schwatzte ich denen, ob passend oder unpassend, irgendwelche Vorsüppchen zu unserem heutigen »Allerweltsgericht« auf.
Bis 11.50 Uhr suchte Wackernagel vergeblich nach seinem Zündschlüssel. Fünf Minuten später rollte der Abschleppdienst an und machte sich mit der Abschleppvorrichtung an Wackernagels Fahrzeug zu schaffen. Gleichzeitig registrierte die Politesse das polizeiliche Kennzeichen des Verkehrssünders. Sie wollte erst einmal Gnade vor Recht ergehen lassen, sollte der Wutscher jetzt und sofort sein Fahrzeug aus der Sperrzone rangieren. Wackernagel hatte tatsächlich keinen Zweitschlüssel zur Hand und versuchte, seinen Audi von Hand zu bewegen. Davor und dahinter befand sich je eine freie Parktasche für Körperbehinderte, in die Wackernagels PKW eben nicht geschoben und mit dem Kran nicht gehoben werden durfte. Als die Politesse vorsichtshalber noch ein Knöllchen am Scheibenwischer befestigen wollte, startete Wackernagel einen tätlichen und mündlichen Angriff auf die Ordnungshüterin, indem er sie einfach beiseite schob und ihr das Schimpfwort »dumme Schnalle« an den Hals knallte. Erschrocken gab sie den Befehl zum Angriff, dann wurden die Stahlseile straffgezogen und der Audi-Quattro auf das Abschleppfahrzeug gehievt. Bis 11.53 Uhr war alles erledigt. Es war längst 12.00 Uhr vorbei. Wackernagel hat in einem ersten Wutausbruch den Gaststätteneingang mit der englischen Vokabel closed gekennzeichnet und die wenigen Gäste vor die Tür gesetzt.
Die blockierte Feuerwehreinfahrt hat unserem Wutscher folgende Kosten verursacht:
Abtransport PKW ins Lager »An den Tierkliniken« Leipzig: 190 DM und wegen der »dummen Schnalle« lt. »Schimpfwortkatalog«: 300 DM. Für den »tätlichen Angriffes auf eine Politesse« verlangte das Amtsgericht zwecks Aufbesserung der Stadtkasse schlappe 400 DM.
Das war nun das Ergebnis des Racheaktes einer kleinen Putzfrau und eines armseligen Beikochs. Ich glaubte letztendlich, dass uns Wackernagel diese Beträge nach und nach vom Lohn abziehen würde, sollte er ein Arbeitsverhältnis mit uns aufrechterhalten. Summa summarum wären das insgesamt 890 DM. Aber Irma hat mich vor einer fristlosen Entlassung bewahrt – im Moment jedenfalls!
Sie hat ihre Ohren fest an Wutscher’s Bürotür gepresst und ein Telefonat mit dessen Hausarzt ausspioniert. Durch unsere Aktion hat der Wutscher ein Magenzipperlein bekommen und ein Taxi gerufen, um sich zum Arzt und anschließend zum Bahnhof kutschieren zu lassen. Sein PKW befand sich mit angeschlossenen Vorderrädern beim Abschleppdienst. Wackernagel hat erst einmal einen Zwischenschritt einlegen müssen in Form einer langweiligen, 900 km langen Bahnreise nach München und zurück, um seinen Ersatzzündschlüssel zu holen. Der Einbau eines neuen Zündschlosses hätte in diesem Fall weniger Aufwand bedeutet. Inzwischen hat Wackernagel die ganze Kneipe auf den Kopf gestellt, um nach dem Zündschlüssel zu suchen – ohne Erfolg! Ich sah vor, heute Morgen den Müllkübel umzukippen, um den Autoschlüssel Wackernagels vor gänzlicher Vernichtung zu retten. Vielleicht stünde ich dann in der Gunst des Chefs? Dann ist mir jedoch eingefallen, dass ich mich erst einer kosmetischen Operation unterziehen lassen müsste, um unserem Boss zu gefallen. Also blieb der Zündschlüssel dort, wo er war. Außerdem hatte ich während der Heimreise Wackernagels gewisse Narrenfreiheiten und vor allem lustige Stündchen mit Irma. Sie hat mich übrigens darüber informiert, dass Wackernagel meinen Vorgänger herausgeekelt hat. Vor allem gab es einen Lohnrückstand von etwa einem halben Jahr.
Am nächsten Tag führte ich eine Inventur durch und nahm das Gefriergut für die restlichen Gerichte in verschiedenen Gefrierschränken, z. B. den Sauerbraten, den Tafelspitz usw. unter die Lupe. Dabei war mir nicht klar, ob das Ganze überhaupt noch genießbar war. Im Nachhinein ärgerte ich mich darüber, dass an mich keinerlei Übergaben erfolgten – Wackernagel hat mich buchstäblich ins Messer laufen lassen oder gelinde gesagt, ins Wasser geschmissen.
Irma betrat wieder mal unberechtigt die Küche, um mir unter die Arme zu greifen. Mit einer Säge fummelte sie von allen tiefgefrorenen Fleischgerichten kleine Stücke ab, um sie dann mit Gewalt aufzutauen. Anschließend beroch sie die Fleischproben und stellte fest, dass Tafelspitz, Schweinenackensteak und Schweizer Sahneschnitzel begannen, sich chemisch umzusetzen. »Was tun?«, fragte ich. Nirgends gab es einen Vermerk, der darauf hinwies, zu welcher Zeit die Fressalien in die Gefrierschränke kamen. Proportional mit dem Auftauprozess fingen nun alle genannten Gerichte regelrecht an zu stinken. Daraufhin haben Irma und ich den ganzen Schiet entsorgt. Es handelte sich etwa um ca. 30 Portionen pro Gericht.
Am nächsten Tag ereilte uns ein Fax vom Wutscher, mit dem er sich avisierte:
Komme am 23. 08. 1991 nach Leipzig
Irma führte sofort einen Freudentanz mit sich selbst auf. Es war morgens gegen Acht. Wir bereiteten die eingefrorenen Kohlrouladen für den Mittagstisch vor. Dazu schnippelten wir Kraut für Rohkostsalate und hörten Radio mit Irmas Kofferheule trotz des strengen Verbotes Wackernagels. Plötzlich ging die Küchentür auf und kein Geringerer als der Wutscher stand vor uns. Das Fax von ihm an uns war nur ein Trick. Wackernagel hatte nie vor, seine aufgezwungene Dienstreise erst am 23. des Monats zu beenden. Jedenfalls sind wir in Ungnade gefallen. Zuerst bekam Irma eine Abmahnung wegen des Kofferradios und des unerlaubten Aufenthaltes in der Küche. Sie bereitete sich seelisch und moralisch auf eine Entlassung vor. Ich selbst räumte mir ebenfalls nur geringe Chancen ein, die Probezeit zu überstehen und war mir sicher, dass mich Wackernagel für das Parken in der Feuerwehrausfahrt verantwortlich machte. Ich brauchte zwar dringend Geld, traute mich aber nicht an den Wutscher heran, um eine Vorschusszahlung zu erbitten. Aus diesem Grund pumpte ich schweren Herzens Irma an, die mir ganze zehn DM zinslos von ihrem bescheidenen Hab und Gut rüberwachsen ließ.
Am 24. August sollte die Einweihung der Zwanzig-Familien-Residenz »Das Domizil« steigen. Geplant war bei schönem Wetter ein kleiner Umtrunk im Biergarten des Hauses, so zwischen 11 und 13.00 Uhr, inklusive eines kleineren, aber heißen Buffets á la carte. Auf Grund der territorialen Lage bot sich natürlich »Der Abendfrieden« an. Teilnehmer waren einige Größen der Stadt Leipzig, wie zum Beispiel der Stellvertreter des Oberbürgermeisters, der Leiter des Baudezernates und einige seiner Mitarbeiter sowie Vertreter der Ausländerbehörde und andere Persönlichkeiten. Irma hatte den Auftrag, für dieses Tamtam eine gesonderte Speisekarte im Kleinformat drucken zu lassen. Sie enthielt all die Gerichte, die wir bereits weggeworfen hatten. Irma machte sich mit der Vorlage Wackernagels auf den Weg zur Druckerei. Zwischendurch ergänzte Irma den Text nach ihrer Fasson. Da war zu lesen:
Sehr verehrte Gäste,
der Besitzer der Gaststätte »Abendfrieden«, Herr Traugott Wackernagel, wünscht den Repräsentanten der Stadt Leipzig und den übrigen Gästen einen angenehmen Aufenthalt und gesegneten Appetit. Da wir mit unseren Fleischlieferanten bisher üble Erfahrungen gemacht haben, bitten wir Sie, die Rechnungen an uns im Voraus zu begleichen! Zur besseren Kontrolle unsererseits wollen Sie sich in vorliegende Anwesenheitsliste eintragen!
Die Unzulänglichkeiten, die Irma am Ende ihres Textes propagierte, waren für die Gäste haarsträubend und für Wackernagel äußerst fatal.
Um das miese Verhältnis nicht weiter eskalieren zu lassen, hielt ich es für notwendig, dem Wutscher reinen Wein einzuschenken bzw. ihn darüber zu unterrichten, dass bis dato alle verdorbenen Gerichte aus dem Küchenbereich von uns entfernt wurden. Dazu bin ich gar nicht gekommen. Der Boss ließ mich einfach im Flur stehen und quasselte irgendetwas in sein Handy. Ich informierte Irma darüber, die nur hämisch grinste. Am nächsten Tag habe ich noch einmal versucht, an Wackernagel heranzukommen, doch vergebens! Ich legte das Kalenderblatt um und schaute in Sorge auf den 24. August. Punkt 9 Uhr betrat Wackernagel die Bildfläche, um eine Bestandsaufnahme vorhandenen Gefriergutes durchzuführen. Er entdeckte die leeren Fächer in den Gefrierschränken und sah vor, mich stehenden Fußes für das Verschwinden der Fleischportionen in Regress nehmen. Übrig waren je dreißig Portionen des Sauerbratens und der Rinds- und Kohlrouladen, inklusive diverser Suppen. Ich begehrte das erste Mal auf. Dabei schaute ich dem Wutscher böse ins Gesicht und dann auf seine schmutzigen Straßenschuhe. Dabei untersagte ich ihm, so meine saubere Küche zu betreten. Ich hatte, außer meinen Job, nichts zu verlieren. Wackernagel wiederum sah mich an, als wollte er mich ermorden. Inzwischen 11 Uhr geworden, postierten sich die ersten Gäste im Biergarten. Der Tag war zwar wunderschön, doch ich sah schwarz und zwar für mich. Irma dekorierte die Biergartentische nun mit den von ihr textlich verdorbenen Speisekarten. Bislang wusste ich nichts von ihrem Husarenstück. Wackernagel hub an, um die Begrüßung daraus abzulesen und blieb stecken, logisch! Parallel dazu hatten alle Anwesenden das überflogen, was Irma für nicht mehr als recht und billig empfand. Ruck zuck war der Biergarten leer und Wackernagel außer sich. Irma war die Saboteurin des so kundenträchtig begonnenen Tages, noch dazu mit Prominenten der Stadt. Mich machte der Wutscher dafür verantwortlich, dass er den »Abendfrieden« fürs Erste schließen musste. Irma und ich, also »Zwei auf einen Streich«, waren gefeuert. Als ich meine Küchenklamotten abgab, forderte Wackernagel Schadenersatz für das wie er meinte, abhanden gekommene Küchengut. Damit waren natürlich die verdorbenen Speisen gemeint, die wir entsorgten. Jetzt packte ich den Wutscher an den Schultern und schleuderte ihn so kräftig gegen seine Bürotür, dass diese beinahe aus der Laibung brach. Bevor ich diesen Vorgang wiederholte, stellte sich Irma zwischen uns. Jetzt schickte sich der Wutscher an, die 110 anzurufen. Irma schrie fast, als sie ihn als Sünder und Ausbeuter, Drangsalierer und zu guter Letzt als Mobbingspezialisten in einer Person bezeichnete. Dann machte sie Wackernagel darauf aufmerksam, dass sie jeden Meineid gegen ihn schwören würde. Außerdem stünde im Rahmen seiner Anzeige Aussage gegen Aussage. Dabei kullerten dicke Tränen über Irmas Wangen – ich bewunderte sie einfach. Der Wutscher fummelte mit zitternder Hand an seinem Handy herum, um es wieder abzuschalten. Auf seiner Stirn perlte sich der Schweiß und sein Gesicht verriet Reue, irgendwie. Es war das erste Mal, dass ich ihn so erlebt hatte.
Irma und ich standen auf der Straße, im leichten, seichten Nieselregen, wie bestellt und nicht abgeholt. Wir trugen unser armseliges »Gepäck« in der Hand. Der Wutscher stand hinter der Gardine seines Bürofensters und beobachtete uns. Da waren in meinem Stoffbeutel die »Samba-Latschen«, die mir der Wutscher in der Küche verboten hatte, ein Handtuch, mausgrau, für richtig schmutzige Hände und die abgelatschten Lederschuhe an meinen Füßen, sonst nichts. Irma hatte viel mehr Gepäck »am Mann«, schließlich war sie eine Frau! Mein leerer Magen bereitete mir Schmerzen, aber noch schlimmer waren die beginnenden Depressionen.
»Sehen wir uns?«, fragte sie. Dann war sie verschwunden. Ich war sichtlich froh, dass ich bei ihr noch zehn DM Schulden hatte. Nun gab es einen Grund, bei ihr wieder aufzukreuzen.