40

Sorgfältig bereitete Talitha alles vor, schärfte ihr Schwert, polierte ihren Dolch, trug den wenigen Proviant zusammen, den sie brauchen würde. Es war wichtig, kühlen Kopf zu bewahren, alles gut zu planen, doch konnte sie nicht verhindern, dass der Zorn ihren Geist trübte.

Schließlich hockte sie sich in eine Ecke ihrer Unterkunft, die ihr so eng wie eine Kerkerzelle vorkam, und wartete. Zäh verstrichen die Stunden, und als es endlich tiefe Nacht war, trat sie hinaus und schlug den Weg zum Fuße des Talareths ein.

Sie nahm den Schacht des Lastenaufzugs, so wie bei der Eroberung des Klosters Letora, und während sie keuchend die Strickleiter hinaufkletterte, dachte sie an den Aufstieg zurück, der erst wenige Tage zurücklag. Wie hatte sie darauf gebrannt, sich in den Kampf zu stürzen, diese verfluchte Priesterkaste zu bestrafen … Und nun setzte sie alles aufs Spiel, nur um rückgängig zu machen, was sie errungen hatte.

Die Geschichte meines Lebens, sagte sie sich.

Und sie dachte daran, wie oft sie schon hatte kehrtmachen müssen, wie viele Fehler sie bereits begangen hatte. Gern hätte sie daran geglaubt, dass es von nun an anders sein würde, doch eigentlich konnte sie sich eine Zukunft, die hinter dieser Nacht lag, nicht mehr vorstellen.

Sie stemmte sich auf die Plattform und erreichte die Tür, die zur höchsten Plattform des Klosters führte. Vorsichtig öffnete sie sie. Alles war leer. Die Rebellen hielten sich unten in Letora auf, und das Kloster war nur noch ein großes Gefängnis. Aber bald würde es selbst das nicht mehr sein, nämlich wenn man es anderntags anzünden und mit allen Gefangenen darin niederbrennen würde.

Aber nur, wenn ich scheitere, versuchte Talitha sich selbst Mut zu machen. Geschwind überquerte sie den Platz und erreichte die Kerkerzellen. Vor dem Gang standen vier Soldaten und starrten in die Dunkelheit. Die Wachen waren verdoppelt worden, obwohl eine Flucht der Priester höchst unwahrscheinlich war: Die Kombattanten waren alle getötet worden und nur ältere Priester und verschreckte Novizen übrig geblieben.

Talitha trat an die Wachen heran. Einer der Rebellen erkannte sie und lächelte ihr zu. »Talitha, was machst du denn hier? Du weißt doch, wir haben Befehl …« Noch bevor er den Satz beenden konnte, hatte sie das Schwert gezogen.

»Ich will euch nichts tun«, sagte sie. »Keinem von euch. Ich habe es satt, Blut fließen zu sehen. Aber ihr müsst mich vorbeilassen.«

»Du hast wohl zu viel getrunken, Talitha«, erwiderte einer der anderen Wachposten. »Geh, leg dich schlafen.«

»Bitte, tut, was ich sage. Ich habe keine Lust gegen euch zu kämpfen.«

»Leg das Schwert nieder, Talitha«, mischte sich der erste Rebell wieder ein und zog seine Waffe. »Steck es zurück, oder wir müssen dich auch einsperren.«

Talitha seufzte. Sie hatte keine andere Wahl. Für Zaudern und Zweifel war keine Zeit mehr. Sie griff an und wirbelte Verbas Schwert herum.

Den ersten Wächter durchbohrte sie, ohne dass er auch nur einen Laut von sich geben konnte. Sofort stürzten sich die anderen mit Gebrüll auf sie. Doch Talitha kämpfte entschlossen und mit tödlicher Präzision wie in der Schlacht bei den Minen. Kurz darauf hatte sie zwei weitere Wächter erstochen, während sich der vierte hinter einer Tür verschanzte. Sie trat sie auf, schlug zu und enthauptete den Mann. Nur wenige Augenblicke waren vergangen, und vier Femtiten lagen tot am Boden, Männer, für die sie wenige Tage zuvor noch ihr Leben gegeben hätte. Einem der Rebellen löste sie den Schlüsselbund vom Gürtel und öffnete nacheinander alle Zellen. Vom Kampfeslärm aufgeschreckt, waren die Gefangenen hellwach. Einige weinten vor Angst.

»Los, raus, bewegt euch!«, schrie Talitha.

»Aber wir sind erst morgen dran«, kreischte ein Novize.

»Ich befreie euch, du Idiot«, knurrte Talitha. »Los, raus!«

Sie strömten aus den Zellen und sammelten sich unentschlossen im Gang.

»Haut ab, schnell!«, schrie Talitha wieder. »Nehmt die Treppe und die Lastenaufzüge. Bald wird es hier von Femtiten nur so wimmeln. Die schneiden euch die Kehle durch. Also bewegt euch!«

Der Novize, der gerade noch gekreischt hatte, nahm als Erster die Beine in die Hand. Die anderen taten es ihm nach und flohen in alle Richtungen. Der Letzte war der Kleine Vater. Bevor er sich davonmachte, wandte er sich zu Talitha und ergriff ihre Hand. »Ich weiß nicht, warum du das tust, aber unser Gott Man segne dich.«

»Für mich kommt sein Segen zu spät«, antwortete sie und sperrte die letzte Tür auf.

Kora kniete vor dem kleinen Fenster und betete. Sie schrak zusammen, als sie die Tür hörte, und schaute die Gestalt, die da auf der Schwelle stand, ängstlich an. Dann erkannte sie sie: »Talitha!«

»Komm, steh auf, ich bringe dich fort.«

»Sie werden dich töten«, antwortete Kora.

»Dazu müssen sie uns erst erwischen. Komm!«

Sie ergriff den Arm der Freundin und zog sie aus der Zelle. In diesem Moment begann die Alarmglocke zu läuten. Talitha schleifte Kora mit sich zu einem Aufzug, dessen Tür noch verschlossen war. Diesen Fluchtweg hatte noch niemand genommen.

Mit einem Schwerthieb sprengte sie den Riegel und stieß die Freundin auf die Ladefläche.

»Aber einer muss doch den Aufzug in Bewegung setzen«, seufzte Kora.

»Das mach ich schon«, antwortete Talitha, kletterte auf das Gestänge und durchtrennte mit einem Schwerthieb das Halteseil. Die Ladefläche sauste hinab, während Kora panisch aufschrie. Sie schrie so laut, dass sie das Kreischen der Laufrollen übertönte, die sich rasend schnell drehten und das Seil abwickelten. Talitha klammerte sich mit einer Hand an einer Stange der Ladefläche fest, schloss die andere um den Luftkristall und sprach die Formel für den Schwebezauber. Sogleich war ihr, als würden alle Kräfte aus dem Körper gepresst, während sie spürte, dass Verbas Schwert ihr neue Energie gab. Ein mysteriöses Kraftfeld strömte vom Schwert durch sie hindurch, lud den Bereich um die Ladefläche herum auf und unterwarf sie so Talithas Willen. Während der Luftkristall auf ihrer Brust immer heißer brannte, verlangsamte sich ihr Sturz, bis die Ladefläche schließlich weich auf dem Erdboden aufsetzte. Noch ein letztes Mal strahlte der Kristall auf, verglühte und wurde schwarz wie ein Stück Kohle. Er hatte alles gegeben und war unbrauchbar geworden. Talitha riss ihn sich vom Hals und warf ihn fort, damit ihre Kleider kein Feuer fingen.

Kora kauerte auf dem Boden der Ladefläche und weinte in panischer Angst. Talitha beugte sich zu ihr und half ihr auf. »Komm schon, wir müssen weiter«, rief sie.

Sie traten aus dem Schacht und erkannten mit Schrecken, dass Letora in Aufruhr war. Die Rebellen strömten aus ihren Unterkünften und rannten den Priestern nach, die es mit viel Glück irgendwie aus dem Kloster hinunter geschafft hatten. Sie flohen in alle Richtungen, aber die meisten würden nicht durchkommen.

»Und jetzt?«, murmelte Kora.

Talitha blickte sich um: In der Nähe des Schachtausgangs stand eine Hütte, eine Unterkunft der Sklaven, die früher bei den Lastenaufzügen gearbeitet hatten. Sie blickte rasch durch das Fenster, es war niemand drinnen, dann trat sie die Tür auf. In dem Raum sah es aus, als habe jemand alles zerstören wollen, was sich nicht wegtragen ließ: Tische und Stühle lagen zersplittert am Boden, die Strohlager waren zerfleddert. In einer Truhe fand Talitha zwei alte, verdreckte Umhänge mit großen Kapuzen. Einen reichte sie ihrer Freundin. »Nimm. Mit ein bisschen Glück werden sie uns damit nicht erkennen.«

Schon waren sie wieder draußen und rannten durch kleine Gassen, wo noch weniger Tumult war, aus der Stadt. Nahe beim Stadtzentrum kam ihnen ein Grüppchen von Priestern entgegen, darunter der Kleine Vater. Ungeschickt suchten sie hinter Büschen und Hausecken Deckung und fielen dadurch umso mehr auf. Einen Moment lang dachte Talitha, die Priester ihrem Schicksal zu überlassen, aber so würden sie dem sicheren Tod entgegengehen. Sie nahm die Kapuze ab und trat auf sie zu. »Wenn ihr in diese Richtung weiterlauft, kommt ihr ins Stadtzentrum zurück. Da werden sie euch mit Sicherheit erwischen«, sagte sie.

»Hab ich dir nicht gesagt, dass wir in die falsche Richtung laufen«, fuhr einer der Priester einen Mitbruder an.

Der Kleine Vater nickte traurig. »Ach, nach so vielen Jahren im Kloster kennen wir uns in unserer eigenen Stadt nicht mehr aus.«

»Dann folgt mir«, sagte Talitha und deutete auf den Weg hinter den Priestern. »In diese Richtung müssten wir zu einem Baumpfad gelangen, der zur Hauptader weiterführt. Das ist unsere einzige Chance, lebend aus der Stadt hinauszukommen.«

»Ihr habt gehört, was sie gesagt hat. Los, kommt«, forderte der Kleine Vater die anderen auf.

Sie setzten sich in Bewegung, Talitha an der Spitze, die Priester hinter ihr her.

»Ich dachte, du kannst Priester nicht ausstehen«, sagte Kora, die neben ihr ging.

»Das kann ich auch nicht. Aber deswegen will ich noch lange nicht, dass sie alle getötet werden«, erwiderte Talitha.

»Was machen wir, wenn wir die Hauptader erreicht haben«, fragte die Freundin.

»Du folgst dem Weg bis in die Hauptstadt. Dort bist du in Sicherheit.«

»Und du?«

»Ich kann mich dort nicht blicken lassen. Du weißt doch, mein Vater veranstaltet eine Treibjagd auf mich.«

»Aber zu den Femtiten kannst du auch nicht mehr zurück … Nicht nach dieser Nacht.«

Kora hatte Recht, und Talitha wusste es nur zu gut, auch wenn sie davor erschrak: Jetzt war sie für alle Seiten eine Abtrünnige, eine Verräterin. Aber zum ersten Mal seit langer Zeit war sie sich wieder sicher, das Richtige zu tun.

Sie wollte Kora gerade etwas sagen, als ein Priester hinter ihnen einen unterdrückten Schrei ausstieß und auf einen Punkt in der Dunkelheit deutete. »Der Baumpfad!«

Sie waren da. Etwa fünfzig Ellen vor ihnen bogen sich die niedrigsten Äste des Talareths und bildeten den Einstieg.

»Du hast es geschafft, Talitha, du hast uns gerettet«, jubelte Kora.

Im selben Moment hörten sie laute Schritte, die rasch näher kamen, und schon brachen aus der Dunkelheit des Geästs etwa zehn mit Lanzen und Schwertern bewaffnete Rebellen hervor. An ihrer Spitze Eshar.

Die Priester kreischten vor Angst, der Kleine Vater begann zu beten.

Eshar hob die Hand und ließ seine Männern hinter sich so Aufstellung nehmen, dass sie den Weg zum Baumpfad versperrten.

»Ich hab auf euch gewartet, Talitha«, rief er. »Es war mir klar, dass du dahintersteckst, und ich wusste, dass ihr hierher fliehen würdet. Ich hätte es genauso gemacht. Mit Abhauen kenne ich mich aus. Das musste ich oft genug, bevor wir uns befreit haben.«

»Dann weißt du ja, wie das ist. Also lass uns vorbei, Eshar«, erwiderte Talitha, wobei sie das Schwert hob. »Du wirst uns alle niemals wiedersehen. Wir sind keine Gefahr für dich.«

»Du weißt genau, dass ich das nicht machen kann«, antwortete Eshar. »Aus dem Flüchtling ist ein Soldat geworden, der selbst aufpasst, dass keine Gefangenen entfliehen. Und keine Verräter …« Er blickte ihr in die Augen. »Es tut mir weh, dich so zu sehen, Talitha. Ich hatte dir vertraut und war überzeugt, dass du eine von uns geworden bist.«

»Das war ich auch, solange ich daran geglaubt habe, dass wir für die gleiche Sache kämpfen: für die Freiheit.«

»Das tun wir auch, Talitha. Wir kämpfen für die Freiheit der versklavten Femtiten.«

»Das ist eben der Unterschied. Mir geht es um Freiheit für alle, für Femtiten und Talariten.« Talitha setzte den rechten Fuß einen Schritt vor. »Lass uns vorüber, Eshar, ich bitte dich.«

»Das war’s, Talitha«, rief er nur und stürmte schreiend vorwärts. Die anderen Rebellen ihm nach. Sofort entbrannte ein blutiger Kampf. Talitha stieß Kora zu Boden und verhinderte, dass sie von einem Schwert durchbohrt wurde, dann musste sie die Klinge hochreißen, um Eshars ersten Hieb abzuwehren. Währenddessen verteidigten sich die Priester, so gut es ging, mit Steinen und Stöcken. Talitha hätte nicht gedacht, dass sie einmal gegen Eshar auf Leben und Tod würde kämpfen müssen. Er war ihr immer ganz vernünftig vorgekommen und hatte sich als Erster bei den anderen Rebellen für sie stark gemacht.

Er war ein guter Kämpfer, hatte aber Mühe, sich zu wehren. Denn Talitha kämpfte wie von Sinnen, folgte keiner Regel mehr und ließ sich nur noch von ihrer unbändigen Wut leiten. Die kleinen Wunden, die Eshars Klinge im Gefecht ihrem Körper zufügte, beachtete sie nicht. Ein letzter Hieb, und sie durchdrang seine Deckung. Es war nicht ihre Absicht, ihn zu töten, sie wollte ihn wirklich nicht töten. Doch leicht fand die Klinge ihren Weg, durchbohrte seinen Bauch und trat am Rücken wieder aus. Dieses Mal war der Schmerz, der Talitha überkam, noch heftiger als sonst, und sie hatte Mühe, sich davon nicht in die Knie zwingen zu lassen.

Eshar lag zu ihren Füßen und schaute zu ihr. Sein Blick war schmerzerfüllt. »Ich habe dir vertraut …«, murmelte er noch einmal, dann schloss er die Augen.

Einen Moment stand Talitha erstarrt da, schockiert von ihrer ungeheueren Tat. Doch es blieb keine Zeit für Gewissensbisse, oder alles wäre vergeblich gewesen. Sie zog ihr Schwert aus Eshars Leib und wandte sich den anderen Rebellen zu. Zu spät: Während zwei von ihnen, von Stöcken und Steinen getroffen, am Boden lagen, hatten die anderen leichtes Spiel gehabt. Die Priester waren niedergemetzelt worden. Talitha rannte zu ihnen, schwang das Schwert und stach und streckte, in einer zerstörerischen Raserei, einen nach dem anderen nieder, konnte aber nicht verhindern, dass zwei letzte Rebellen den Kleinen Vater in die Mitte nahmen und ihn mit den Schwertern durchbohren wollten.

Noch bevor sie reagieren konnte, schrie Kora hinter ihr auf und rannte herbei, um dem alten Mann zu helfen, der vom ersten Schwertstreich getroffen ohne einen Klagelaut auf die Knie sank.

»Bleib weg«, rief Talitha, doch Kora warf sich schützend vor den Kleinen Vater, genau in dem Moment, als der zweite Rebell die Klinge versenkte. Starr vor Entsetzen beobachtete Talitha, wie sich das Schwert auf der Höhe des Herzens in Koras Rücken bohrte. Sie schrie auf vor Schmerz und Wut. Mit einem Sprung warf sie sich auf den Femtiten, ließ Verbas Schwert niederfahren und spaltete ihn buchstäblich entzwei. Dann beugte sie sich über Kora und drehte sie sanft um. Sie war kreidebleich, und Blut strömte ihr aus dem Mund. »Kora! Kora!«, rief sie. »Halt durch.«

»Zu spät, Talitha«, murmelte Kora und lächelte gequält. »Danke … danke, dass du es versucht hast … Aber das Schicksal wollte es anders.«

»Nein, nein, bitte, gib nicht auf«, schluchzte Talitha. »Ich muss nur einen Luftkristall finden, dann behandele ich dich mit einem Heilzauber, du darfst nur nicht aufgeben«, und währenddessen versuchte sie, mit den Händen den Blutfluss aufzuhalten.

»Weine nicht, Talitha. Ich … ich kehre zu meiner Göttin zurück … ins Paradies unter der Erde … Von dort werde ich über dich wachen und dich behüten.«

Dann erlosch Koras Blick.

Talitha kniete am Boden und wiegte den toten Leib in ihrem Armen. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf.

Dann hörte sie Schreie hinter sich. Weitere Rebellen rannten herbei. Ein letztes Mal schaute sie Kora an, bettete sie sanft auf dem Boden und streichelte ihr über das Gesicht. Die Haut fühlte sich schon nicht mehr lebendig an.

Dann sprang sie auf und lief in Richtung des Baumpfades, kletterte hinauf und fand bald eine der verborgenen Schutzhöhlen im Geäst. Sie ließ sich hinunter und hoffte, dass ihre Verfolger mit den Geheimnissen der Baumpfade nicht so vertraut waren wie sie, die die vier Reiche Talarias zu Fuß durchquert hatte. Der Unterschlupf war winzig, verdreckt und nass vom Regen. Sie kauerte sich hinein und hörte kurz darauf die Schritte der Rebellen über sich hinweglaufen. Sie schloss die Augen und wartete, was geschehen würde. Sie fühlte sich verloren, verzweifelt und allein.

»Saiph …«, murmelte sie leise. »Saiph …«