24
Talitha kehrte zu den Feiernden zurück, hatte aber große Mühe, sich zu entspannen und das Gespräch mit Saiph zu vergessen. Es tat ihr leid, ihn so abweisend behandelt zu haben, aber er sollte begreifen, dass sie nicht mehr das kleine, verzogene Mädchen war. Widerstreitende Gefühle wühlten sie auf: Sie ertrug es nicht, dass er ihre Art kritisierte, und sie freute sich, dass er zurück war. Er hatte ihr gefehlt, sehr sogar – gestand sie sich ein, während sie so dasaß, in die Hände klatschte und ein paar Strophen eines Femtitenliedes mitzusingen versuchte, das sie bereits kannte.
Da tauchte Melkise mit einer halbleeren Flasche Purpursaft in der Hand neben ihr auf. »Na, willst du nicht tanzen?«, schrie er ihr ins Ohr. Sein Atem roch leicht nach Alkohol, und seine Augen glänzten.
»Ich war immer schlecht im Tanzunterricht zu Hause im Palast«, schrie sie zurück.
»Aber das hat doch nichts mit den gezierten Tänzen zu tun, die man euch jungen Edeldamen beibringen wollte. Hier ist der Pöbel Talarias versammelt, hier tanzt jeder, wie er Lust hat, Hauptsache, man bewegt sich!« Und damit kniete er vor ihr nieder, schwang die Hand in einem eleganten Bogen durch die Luft und reichte sie ihr. »Erweist Ihr mir die Ehre dieses Tanzes?«, fragte er.
Der Lautenspieler hatte ein besonders ausgelassenes Lied angestimmt, das die Femtiten, mittlerweile fast alle betrunken, aus voller Kehle mitgrölten. Talitha lachte verlegen und zierte sich heftig, doch Melkise ergriff einfach ihren Arm.
So stürzten sie sich in den Trubel und drehten sich wie wild im Kreise. Es war ein Tanz, den Talitha bei den Sklaven im Palast ihres Vaters gesehen hatte. Einige Male hatte sie sogar mitgetanzt, an Saiphs Seite, der das Tanzen eigentlich hasste und sich nur widerwillig, unter Zwang, darauf einließ. Ungelenk und hölzern waren sie herumgehopst, hatten sich auf die Füße getreten und waren zum Schluss fast immer am Boden gelandet, aber genau dieses Durcheinander, für das sie sorgten, hatte die Sache auch so vergnüglich gemacht.
Melkise war vollkommen anders. Er besaß eine bewundernswerte Körperbeherrschung und führte sie so gekonnt, dass Talitha sich ihm ganz überlassen musste. Um sie herum wirbelte und drehte sich alles, und genau im Zentrum dieses Tornados war das lächelnde, vom Purpursaft leichte gerötete Gesicht des Söldners. Es war genauso, wie sie es im Kampf erlebt hatte: Seine Gegenwart gab ihr das Gefühl völliger Sicherheit. Er war da, also würde alles ein gutes Ende nehmen. Aber dieses Gefühl, so angenehm es sein mochte, beunruhigte sie andererseits auch. Was ging mit ihr vor? Was zog sie so zu diesem Mann hin?
Einen Moment lang hielt sie inne, griff zu der Flasche, die Melkise auf dem Boden abgestellt hatte, und nahm einen großen Schluck. Brennend lief ihr der Alkohol die Kehle hinunter und breitete sich warm und beruhigend in ihrem Körper aus. Um sie herum Applaus und Anfeuerungsrufe.
»Nicht schlecht, junge Gräfin«, rief Melkise, ergriff ihre Arme und ließ sie sich drehen, immer länger, immer schneller, bis sie ihn lachend anflehte aufzuhören. Da ließ er sie abrupt los, und Talitha wäre auf dem Hosenboden gelandet, wären nicht ein paar Femtiten herbeigesprungen und hätten sie aufgefangen. Sie lachte und lachte, erfüllt von einer Freude und einer Sorglosigkeit, wie sie sie noch nie im Leben verspürt hatte.
Bis zum Morgengrauen dauerte das Fest, doch Melkise zog sich schon früher zurück. Talitha sah, wie er sich, während der Trubel noch in vollem Gange war, von den anderen entfernte, und lief ihm hinterher, ohne lange darüber nachzudenken.
»Bist du müde?«, fragte sie, während sie sich bei ihm einhakte.
»Ich will zu Grif. Es tut mir leid, dass er allein ist.«
Melkise trat zum Schuppen, in dem die Kanus lagerten, und versuchte mit fahrigen Bewegungen, die Tür zu öffnen.
»Was ist los? Du bist betrunken …«, sagte Talitha und lachte.
»Betrunken? Ich? Nein. Du vielleicht, mir geht’s bestens.«
»Trotzdem, lass dir lieber von mir helfen«, erwiderte sie, immer noch lachend.
Trotz allem waren sie leise, und ohne dass es jemand merkte, ließen sie das Kanu in das ätzende Seewasser gleiten.
Melkise stieg als Erster ein, umfasste dann ihre Hüfte und hob sie hinein. Einen Moment lang lehnte sich Talitha gegen ihn, und eine eigenartige Wärme überkam sie.
»Warum wolltest du mitkommen?«, fragte er und sah ihr, ohne sie loszulassen, in die Augen.
Talitha fühlte sich wie durchbohrt von seinem Blick. »Ich wollte dir nur helfen … weil du getrunken hast …«
»Bist du sicher?«, erwiderte Melkise lächelnd.
»Vielleicht wollte ich auch nur einfach bei dir sein«, murmelte Talitha.
Einen Augenblick lang standen sie eng umschlungen da, und Talitha hoffte, dass dieser Augenblick nie vergehen möge. Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich fehl am Platz gefühlt, egal wo sie war. Ihr Zuhause war wie ein fremder Ort gewesen, wo sie die ihrem Rang entsprechenden Pflichten erfüllen musste. Auch im Kloster nichts als Zwänge, es war ein Gefängnis. Und unter den Rebellen war sie immer von misstrauischen Blicken umgeben. Jetzt aber, in Melkises Armen, fühlte sie sich im Frieden mit sich selbst, und die Bruchstücke ihres Lebens schienen sich zusammenzufügen.
Langsam schlang sie ihm die Arme um die Hüften und presste ihm die Lippen auf den Mund. Er schien überrascht, wehrte sich aber nicht, sondern öffnete seine Lippen, und Talitha nahm ein Kitzeln wahr, das von seinem Schnurrbart herrührte, vor allem aber seinen unverwechselbaren Geruch, und ein Gefühl überkam sie, wie sie es noch nie erlebt hatte.
Noch stürmischer umarmten sie sich, das Boot schaukelte, und sie mussten sich loslassen. Talitha stolperte zurück, und Melkise ging in die Knie und schaffte es nur mit knapper Not, das Gleichgewicht zu halten. »Vielleicht hast du Recht, ich bin zu besoffen, um hinüberzurudern«, sagte er lachend.
So kehrten sie in ihre Hütte zurück, wo er sich auf sein Strohlager warf. Noch in Kleidern legte sich auch Talitha nieder. Eine unbekannte Erregung hatte sie ergriffen.
Als es völlig still geworden war, stand sie auf. Heftig schlug ihr das Herz in der Brust, und sie hatte Angst, eine seltsame Angst, wie das Gefühl, das einen am Rande einer Schlucht befällt, wenn eine Stimme aus der Tiefe einen in den Abgrund zu locken scheint. Das Blut pochte ihr in den Ohren, während sie leise an Melkises Lager trat. Sie küsste seinen Hals, streichelte sein Gesicht. Melkise grunzte nur. Talitha ließ nicht ab, doch er drehte sich auf die andere Seite und öffnete noch nicht einmal die Augen.
Du hattest Recht, du bist wirklich besoffen, dachte sie mit einem Lächeln. Ihr Herz hatte sich beruhigt, die Zeit lief wieder mit normaler Geschwindigkeit, und sanft schlug sie die Decke zurück, umarmte ihn von hinten und drückte sich an ihn. Im langsamen Rhythmus seiner Atemzüge, mit dem Geruch seiner Haut in der Nase schlummerte sie ein.
So fand Saiph sie liegen, als er in die Hütte zurückkehrte.
Er erstarrte und konnte nicht einmal mehr atmen.
Erschüttert stand er einige Augenblicke da und betrachtete sie. Auf einen Schlag ging alles entzwei, was sein ganzes Leben ausgemacht hatte, und würde sich nie mehr zusammenfügen. Tief in seinem Herzen brach etwas für immer. Er nahm den Quersack, den er auf Grifs Lager abgelegt hatte, und verschwand im fahlen Licht des neuen Morgens.
Mit dem eigenartigen Gefühl, nicht allein im Bett zu liegen, wachte Melkise auf. Er irrte sich nicht. Neben ihm schlief Talitha und hielt ihn immer noch im Arm. Er konnte es nicht fassen. Nur ganz verschwommen erinnerte er sich, was in der Nacht geschehen war. Wozu hatte er sich hinreißen lassen? Da bemerkte er, dass Talitha noch vollständig bekleidet war, und erleichtert atmete er auf. Er hatte das Mädchen ins Herz geschlossen und nicht die Absicht, etwas zu tun, was sie verletzen konnte. So löste er sich aus ihren Armen, stand auf und streckte sich. Sein Schädel brummte, und er hatte einen widerlichen Geschmack im Mund. Dem Purpursaft hatte er zu eifrig zugesprochen.
Er schaute auf Talitha hinab. So fest, wie sie schlief, hatte sie es mit dem Trinken ebenfalls übertrieben. Erst als er sich umdrehte, fiel ihm auf, dass Saiphs Sachen fehlten. Er begriff, was vorgefallen war. Wütend auf sich selbst verließ er mit großen Schritten die Hütte.
Er fand ihn, wo er ihn vermutet hatte, in der Grotte am Seeufer. Saiph packte gerade seinen Quersack neu, nach den wenigen Stunden Schlaf, die er sich gegönnt hatte.
»Was hast du vor?«, fragte Melkise ihn.
Überrascht fuhr Saiph herum, war aber sofort wieder Herr seiner Sinne. »Ich mache mich auf den Weg«, antwortete er.
Melkise hatte ihn noch nie mit solch trauriger Miene gesehen. »Was glaubst du, wie Talitha reagieren wird, wenn sie merkt, dass du ohne ein Wort fort bist?«
»Ich denke nicht, dass sie mich sehr vermissen wird. Und das ist auch gut so, ich will euch nicht zur Last fallen«, sagte Saiph und wandte errötend den Blick ab.
Melkise schüttelte den Kopf. »Nicht dass es dich etwas anginge, aber zwischen Talitha und mir ist nichts passiert – falls das ein Problem für dich sein sollte.«
Saiph ließ den Quersack fallen und trat so nahe an ihn heran, dass sein Körper fast Melkises Brust streifte. Er bebte vor Zorn. »Ich habe selbst gesehen, dass ihr zusammen im Bett gelegen habt. Nennst du das etwa ›nichts‹?«
»Wir waren betrunken und sind zusammen eingeschlafen«, erklärte Melkise. »Mehr war nicht. Wenn sie aufwacht, wird sie sich überhaupt nicht mehr daran erinnern.«
Saiph verzog das Gesicht zu einem bitteren Lächeln. »Vielleicht hast du sie nicht so genau beobachtet. Oder warum willst du nicht bemerkt haben, wie sie dich anschaut? Ich jedenfalls habe es gesehen.«
Da erinnerte sich Melkise wieder, was letzte Nacht mit Talitha geschehen war und wie sie sich auf dem Boot geküsst hatten. »Tut mir leid, mag sein, dass sie sich ein wenig verguckt hat – wie das bei jungen Mädchen schon mal vorkommt. Aber glaub mir, Saiph, das ist auch schnell wieder vorbei. Das Problem ist wohl eher, dass ihr nicht klar ist, dass du in sie verliebt bist.«
»Ich bin nicht in sie verliebt!«, protestierte Saiph, doch seine Stimme klang falsch, selbst in seinen eigenen Ohren.
»Wenn du etwas für sie empfindest, musst du ihr das sagen, anstatt wie ein Feigling davonzulaufen«, sagte Melkise.
Saiph schaute ihn einige Augenblicke schweigend an und packte dann weiter seine Sachen. Als er wieder sprach, klang seine Stimme fest: »Ich laufe nicht davon. Ich hatte mir geschworen, dass ich bei ihr bleiben würde, solange sie mich braucht. Diese Zeit ist nun vorbei. Sie braucht mich nicht mehr.«
»Da irrst du dich.«
»Nein, ich irre mich nicht. Wenn ich all die Jahre, ohne etwas zu verlangen, an ihrer Seite gelebt und mich mit den Brosamen ihrer Zuneigung begnügt habe, dann nur, weil ich gespürt habe, dass sie mich braucht, dass sie ohne mich nicht zurechtkommt. Für Talitha würde ich alles tun, wirklich alles, egal was es sein mag, verstehst du?«
»Ja, natürlich«, murmelte Melkise.
»Aber während ich im Verbotenen Wald nach dem Ketzer gesucht habe, hat sie sich weiterentwickelt. Sie hat einen anderen Weg genommen, sie … hat dich getroffen. Und ich bin nur noch ein Teil ihrer Vergangenheit.« Er wandte Melkise wieder den Blick zu. »Schwöre mir, dass du ihr niemals wehtun und sie beschützen wirst, wie ich das bisher getan habe.«
»Wäre es nicht sinnvoller, du würdest einfach bleiben, damit du sie weiter beschützen kannst?«
»Das kann ich nicht mehr. Und außerdem bin ich nützlicher, wenn ich weiter Verbas Spuren folge.«
Melkise fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Was hab ich mir da für Scherereien aufgeladen, als ich euch damals geschnappt habe, um das Kopfgeld zu kassieren …«
»Was ist nun? Gibst du mir dein Wort?«
»Ja. Ich werde sie mit meinem Leben beschützen, falls es nötig sein sollte«, versprach Melkise.
Zum ersten Mal, seit dieses quälende Gespräch begonnen hatte, entspannte sich Saiph ein wenig. Er gab Melkise die Hand. »Danke.«
»Aber du musst mir auch einen Gefallen tun«, fügte Melkise hinzu. »Sieh zu, dass du am Leben bleibst und heil zurückkommst.«
Saiph deutete ein Lächeln an. »Ja, ich werd’s versuchen. Aber um ein Letztes will ich dich noch bitten.« Er reichte Melkise ein zusammengerolltes Pergamentblatt. »Ich hatte vor, es hier für sie zurückzulassen, aber vielleicht ist es besser, wenn du es ihr von mir gibst.«
»Was ist das?«
»Ein Abschiedsbrief.«
Ich habe beschlossen, alleine aufzubrechen. Verzeih mir, dass ich dies bei Nacht und Nebel und ohne mich von dir zu verabschieden tue. Aber würden wir miteinander reden, gerieten wir nur wieder in Streit, und vor allem würde ich es, wenn ich dich sähe, wahrscheinlich nicht schaffen, von dir fortzugehen.
Du hast Recht, unsere Wege haben sich voneinander entfernt, und ich kann dir nicht mehr von Nutzen sein. Es gab einmal eine wunderschöne Zeit, in der ich wirklich etwas ganz Besonderes für dich war: dein unverzichtbarer Sklave. Heute ist das anders. Du bist erwachsen geworden, hast dich verändert, und mich brauchst du nicht mehr.
Ich tröste mich damit, dass ich dich glücklich und in guten Händen zurücklasse. Ich wünsche dir, dass sich deine Träume erfüllen mögen und dass du immer tun kannst, was dir am Herzen liegt. Pass bitte gut auf dich auf und versuche, dieses wunderbare Mädchen zu bleiben, für das ich immer zu allem bereit war, wirklich zu allem, das kannst du mir glauben. Die Jahre, die ich an deiner Seite verbracht habe, waren die schönsten meines Lebens und werden es auch immer bleiben.
Lebe wohl.
Saiph
Talitha hob den Blick von den Zeilen und schaute Melkise an, der neben ihr in der Hütte stand. Einige Male hatte sie die Worte gelesen und konnte sie immer noch nicht glauben. »Sag mir, dass du ihn aufgehalten hast«, murmelte sie.
»Er hat seine Entscheidung getroffen. Und die respektiere ich«, erwiderte er.
Talitha legte das Schwert an und ging zur Tür. »Ich nicht. Ich hol ihn mir zurück.«
Melkise trat ihr in den Weg. »Saiph ist nicht mehr dein Eigentum, Talitha.«
»Aber er ist mein Freund, und er kann mich nicht einfach so verlassen. Geh mir aus dem Weg!«
Melkise packte sie an den Handgelenken. »Wenn er wirklich dein Freund ist, dann respektierst du, was er entschieden hat, und betest, dass er heil und munter zurückkehren möge.«
»Lass mich los und verschwinde«, schrie Talitha, während sie sich aufgebracht aus seinem Griff zu befreien versuchte.
»Wie du willst«, antwortete Melkise nur, ließ sie los und ging davon.
Allein in der Hütte, las Talitha den Brief noch ein weiteres Mal. »Ach, Saiph, du verdammter Kerl …«, murmelte sie und presste den Stoff ihrer Jacke zusammen. Während sie Saiph und seine Entscheidung verfluchte, überkam sie eine unsagbare Traurigkeit.