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Endlich wieder ein richtiger Tempel, und nicht mehr die schäbige, nach dem Brand in aller Eile hochgezogene große Hütte, eingezwängt zwischen den Häuschen, die sich um den Talarethstamm drängten, sondern ein echtes, ehrwürdiges, solides Gebäude. Wie alle Tempel war es halbrund und aus hellem Talarethholz gefertigt. Die Säulen, die die Tempelschiffe voneinander trennten, waren Baumstämmen nachempfunden und gingen mit steinernen Blumensträußen als Kapitelle in die Deckenbögen über. Decke und Fußboden spiegelten einander mit großartigen Darstellungen der Göttin Mira. Während aber der Boden aus kostbaren, bunten Mosaiksteinchen bestand, war die Darstellung an der Decke aus Glas und in solch grellen Farben gefertigt, dass einem beim Anblick die Augen davon schmerzten. Auch die Fassade mit dem Portal war aus Glas, allerdings vollkommen durchsichtig, sodass das Licht ungehindert und rein in den Raum fiel. Es war ein heißer Tag, wie so oft in diesem Jahr. Viele konnten sich gar nicht mehr erinnern, wann der letzte Regen gefallen war.

Grele hatte sich bäuchlings auf dem Boden ausgestreckt und die Arme gespreizt. Angenehm kühl fühlte sich der Marmor an ihrer Wange an. Doch mehr als alles andere befriedigte sie das zarte Gefühl des Sieges, das sie an diesem Morgen beim Aufwachen überkommen hatte. Zwei Sklavinnen waren zu ihr getreten und hatten sie angekleidet. Sie stammten aus Megassas Palast, und nur selten zuvor hatte Grele solch disziplinierte, gewissenhafte Dienerinnen erlebt.

Gesenkten Hauptes und in ehrfürchtiger Haltung traten sie bei ihr ein. Sanft und feinfühlig waren ihre Berührungen, so als sei ihnen etwas sehr Kostbares anvertraut. Derart ehrerbietig war sie zuletzt nur vor der Tragödie behandelt worden. Beeindruckend fand Grele auch, dass sich die beiden nicht von ihrer entstellten Gesichtshälfte verunsichern ließen. Sie waren wirklich sehr gut erzogen. Unter ihren leichten Gewändern erkannte Grele große dunkle Flecken, Spuren, die der Strafstock hinterlassen hatte. Und sie freute sich daran. Die Femtiten waren Tiere, und wie Tiere musste man sie behandeln.

Zum heutigen Anlass hatte sie ihre Kombattantinnenkleidung beiseitegelegt und trug nun wieder, zum letzten Mal, das gelbe Gewand und die Frisur der Novizin. Als sie sich schließlich im Spiegel betrachtete, fand sie sich selbst wunderschön. Der verunstaltete Teil ihres Gesichtes war unter einer Holzmaske verborgen, wie sie alle Kombattantinnen trugen, jedoch der Länge nach durchgesägt.

Megassa selbst führte sie in den Tempel. Es war der Tempel von Lakesi, einer Stadt im Osten des Reichs des Sommers, auch dies eine Ausnahme vom Protokoll, das eigentlich vorsah, dass eine Priesterin in ihrem Herkunftskloster ordiniert werden musste.

»Ich stehe über den Regeln«, hatte der Graf verächtlich jeden Einwand entkräftet. Es war ihm wichtig, eine weitere Demonstration seiner Stärke zu liefern. Das Geheimnis seiner Autorität lag auch in diesem absoluten Willen zur Macht und in seiner Fähigkeit, andere zu beeindrucken.

Neben den Priesterinnen, die dort lebten, waren im Tempel auch alle Schwestern vom Kloster Messe versammelt. Ihr Vater aber hatte noch nicht einmal eine Delegation entsandt, die bezeugt hätte, dass die Familie an dieser so wichtigen Feier einer Tochter des Hauses Anteil nahm. Aber Grele war nicht überrascht, als sie den Blick durch den Raum schweifen ließ und niemanden von ihren Angehörigen entdeckte. Ihr Vater hatte noch nie etwas von ihr gehalten: Als jüngstes seiner sieben Kinder, noch dazu weiblichen Geschlechts, war sie politisch völlig nutzlos.

Wie sehr du dich geirrt hast … Du wirst es noch erleben!, dachte Grele, während die Kleine Mutter die rituellen Worte sprach. Die Novizinnengewänder waren ihr schon abgenommen worden, sodass sie in einem dünnen Unterhemd dastand, das ihren Körper nur notdürftig verhüllte. Aber auf diesen Körper konnte sie noch stolz sein, umso mehr nach dem harten Training in der Kombattantinnenausbildung. Athletisch und flink war er, aber auch immer noch zart und weiblich.

Auch ihre Frisur hatte man schon gelöst, und so fiel ihr das goldblonde Haar mit dem zarten rötlichen Schimmer wie ein prächtiger Fächer auf den Rücken.

»Erhebe dich, Schwester«, sprach die Kleine Mutter, und Grele gehorchte, gemessen und feierlich.

Zwei ältere Mitschwestern traten vor und trugen wie eine Reliquie eine rote Tunika herbei, das Gewand der Priesterinnen Alyas.

»Damit die Einkleidung beginnen kann, bekräftige deinen festen Willen, deinen Geist ganz der Göttin Alya zu weihen, ihr jeden Atemzug, jeden Herzschlag zu schenken und deinen Körper allein für sie einzusetzen bis zu dem Tage, da Mira dich für immer in die unterirdische Wohnstatt der Götter heimruft.«

»Ich will es.«

Nun traten die beiden Priesterinnen zu ihr und legten ihr das Gewand an.

»So empfange nun das Gewand der Priesterinnen Alyas. Du wirst es bis zum Ende deiner Tage tragen, als sichtbares Zeichen deiner Zugehörigkeit zu den frommen Scharen der Dienerinnen dieser Göttin.«

Im Vergleich mit dem rauen Leinen der Kombattantinnenkleider war der Baumwollstoff des Priesterinnengewandes hauchzart. Grele genoss dieses wunderbare Gefühl auf der Haut, das für sie etwas von Wiedergutmachung hatte.

»Nun sollst du auch dein Haar so tragen, wie es sich für eine Dienerin Alyas geziemt.«

Rasch und kundig ordneten die Priesterinnen ihre Locken. Nur dort, wo die Riemen der Maske im Nacken zusammengefügt waren, sowie an der Stirn, die halb vom Holz verborgen war, war es etwas schwieriger.

»Willkommen, Grele von Mantela, Priesterin der Alya.«

Sittsam senkte Grele das Haupt, und im Tempel erhob sich donnernder Applaus.

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Auf die Zeremonie folgte ein großes Bankett in den Palastgärten des Grafen von Lakesi. Als Verwandter Megassas hatte dieser sein Haus für das Fest zur Verfügung gestellt. Allerdings spiegelte die Qualität der Speisen, die dem Anlass nicht angemessen war, die wirkliche Situation im Reich des Sommers wider. Das Volk litt und hungerte, und auch die Tafeln der Reichen waren nicht mehr so üppig gedeckt, wie man das einmal gekannt hatte. In den kleineren Städten gab es so gut wie kein Wasser mehr, und trotz aller Bemühungen des Landesherren hatte das Reich des Frühlings den Lauf des Flusses Asselho nicht verlegt, wodurch die Felder im Reich des Sommers leichter zu bewässern gewesen wären. Es wurde sogar von Grenzscharmützeln mit Toten und Verletzten berichtet, nachdem Bauern versucht hatten, auf gut Glück Wasser aus dem Reich des Frühlings auf die eigenen Felder umzuleiten. Verschlimmert wurde die Lage durch den Krieg gegen die aufständischen Femtiten. Trotz der drakonischen Strafen, die bereits bei dem bloßen Verdacht auf Verrat drohten, liefen täglich immer mehr Sklaven ihren Herren davon, wobei sie sich zuvor oft noch mit Waffen und Proviant eindeckten.

Aus all diesen Gründen hatte Megassa seinem Verwandten geholfen und enorme Wasservorräte mitgebracht, bei denen sich alle fragten, wie er sie beschafft haben mochte. Grele hätte diese Frage leicht beantworten können: Seit Jahren sorgte Graf Megassa dafür, dass die Brunnen in den Dörfern um Messe herum austrockneten, weil er ernorme Wassermengen für sich und seinen Palast beanspruchte. Ein Lächeln stahl sich in ihr Gesicht, und sie verbarg es, indem sie ihren mit Purpursaft gefüllten Kelch an die Lippen führte. Für sie war es die natürliche Ordnung der Dinge: Die Starken retteten sich auf Kosten der Schwachen, und wer nicht gerissen genug war, sein Überleben zu sichern, war eben dazu verdammt unterzugehen.

Zudem hatte Megassa in letzter Zeit seine politische Macht erheblich ausgebaut. Erst wenige Tage zuvor war er zum Befehlshaber der Streitkräfte im Reich des Winters sowie des Herbstes ernannt worden. Es war eine Ernennung per Akklamation gewesen. Von Anfang an war offensichtlich, dass sich niemand so wie er im Kampf gegen die aufständischen Femtiten hervortat. In aller Eile hatte er eine Streitmacht um sich geschart, hatte darauf gedrungen, dass die Armeen Talarias unter einen gemeinsamen Oberbefehl kamen, und selbst einige erfolgreiche Angriffe inszeniert. Und so hatte es nahegelegen, als der Krieg sich ausweitete, ihn zum Obersten Heerführer zu machen.

Das Fest zog sich bis zum Abend hin, und Grele stellte ihr diplomatisches Geschick unter Beweis. Für jeden Gast hatte sie die passenden Worte parat, ein Kompliment, eine scharfsinnige Beobachtung, und so machte sie das Verstörende der Maske, die ihr halbes Gesicht verdeckte, vergessen.

Es war Megassa selbst, der sie am Tag drauf in seiner von zwei Erddrachen gezogenen Kutsche zurück nach Messe begleitete. Unterwegs holte der Graf irgendwann ein Holzkästchen hervor und entnahm ihm einen Gegenstand, der in ein Samttuch eingeschlagen war. Er wickelte ihn aus und zeigte ihn Grele, der augenblicklich eine Zornesröte ins Gesicht schoss.

Auf dem schwarzen Tuch funkelte ein Dolch, ein Dolch, den sie nur einmal im Leben gesehen hatte, aber niemals wieder vergessen würde: Es war die Waffe, mit der sie eines Nachts, die sie heute zu ihrem vorherigen Leben zählte, von Talitha bedroht worden war. Sogar heute noch spürte sie die Hand, die sie ihr damals auf den Mund gepresst hatte, und das grauenhafte Gefühl des kalten Stahls am Hals. »Wo habt Ihr den her?«, fragte sie mit rauer Stimme.

»Einer meiner Getreuen, der im Reich des Winters stationiert ist, hat ihn mir bringen lassen.«

»Ist sie … in Eurer Gewalt?«

Megassa wickelte die Waffe wieder ein und legte sie in das Kästchen zurück.

»Nein. Ein Femtitenrebell hat ihm den Dolch gebracht, ein Abgesandter, wie er sich nannte. Seine Gefährten haben Talitha wohl im Eisgebirge aufgegriffen.«

Grele fletschte die Zähne. Jede Nacht träumte sie davon, Talitha in die Finger zu bekommen. Würde jemand sie töten, bevor sie das selbst tun konnte, wäre sie untröstlich gewesen. »Was verlangt man von Euch?«

»Sie schlagen mir ein Geschäft vor. Ich soll für die Freilassung eines Viertels der Sklaven in den Eisminen sorgen sowie einiger gefangener Rebellen, die auf ihre Hinrichtung warten. Dafür bekomme ich Talitha.«

»Und was werdet Ihr tun?«

Megassa nahm sich Zeit mit der Antwort und blickte zum Kutschenfenster hinaus. »Mein Ansehen als Befehlshaber unserer Streitkräfte steht auf dem Spiel. Würde ich mich der Forderungen dieser verdammten Sklaven, die sich selbst als ›Neues Volk‹ bezeichnen, beugen, würde meine Autorität Schaden nehmen.«

»Dann wollt Ihr sie ihnen also überlassen?«

»Überlassen?«, brüllte Megassa. »Ich habe eine ganze Arme aufmarschieren lassen, um sie mir zurückzuholen. Ich habe Orea dem Erdboden gleichgemacht. Sie gehört mir. Mir! Und was mir gehört, lasse ich nicht in fremden Händen. Ich werde sie mir zurückholen, aber zu meinen Bedingungen, nicht ihren. Verstehst du?«

Er starrte sie aus derart hasserfüllten Augen an, dass Grele erschrak. »Ja, gewiss«, murmelte sie.

Noch einen Moment ließ er den Blick auf ihr ruhen und schaute dann wieder aus der Kutsche hinaus. »Was mit Talitha geschehen wird, muss unser Geheimnis bleiben. Ebenso wie die Art und Weise, wie ich sie mir zurückzuholen gedenke.«

Grele nickte zufrieden. »Und dann? Was wird dann mit ihr geschehen?«

»Dann gehört sie ganz dir«, antwortete Megassa.

Grele bebte vor Ungeduld. Sie konnte es kaum glauben. »Seid Ihr sicher? Werdet Ihr es Euch nicht anders überlegen? Schließlich ist sie Eure Tochter.«

»Für mich ist sie gar nichts mehr, auch nicht meine Tochter. Das habe ich dir ja schon gesagt. Sie hat mich enttäuscht und verraten auf jedwede Art, wie man einen Vater enttäuschen und verraten kann. Sie hat gezeigt, dass sie meine Feindin ist, und wie eine Feindin werde ich sie behandeln. Allerdings muss ich eine gewisse Diskretion von dir verlangen.«

»Was meint Ihr damit?«

»Du kannst mit ihr anstellen, was du willst. Sie ist nur Fleisch in deinen Händen. Es muss aber wie ein Unfall aussehen. Wir stehen in der Öffentlichkeit und haben einen Ruf zu verlieren. Solange nicht alles erreicht ist und wir erhalten haben, worauf wir aus sind, müssen wir nach außen hin ein untadeliges Gesicht zeigen.«

Grele nickte. »Gewiss. Ihr könnt Euch ganz auf mich verlassen. Das Einzige, woran mir liegt, ist, sie in die Finger zu bekommen. Alles Weitere wird so verlaufen, wie Ihr es wünscht.«

Megassa lächelte zufrieden. »Wir werden Großes vollbringen, wir beide gemeinsam. Wirklich Großes.«