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Flink und sicher bewegten sich die Hände des Ketzers. Talitha konnte nicht anders, als ihnen bewundernd zuzusehen, diesen langen schneeweißen Fingern, die die Kräuter verrührten und zerstießen und dann die Masse auf Saiphs Körper strichen.

Mit wachsbleichem Gesicht lag der junge Sklave da und rührte sich nicht. Bei den Kämpfen in Orea war er vom Schwert eines Soldaten Megassas durchbohrt worden, hatte viel Blut verloren und war nur knapp dem Tod entronnen.

Als der Ketzer sie fand, hatte er die Situation sofort erkannt. Kriegserfahren wie er war, konnte er auf den ersten Blick einschätzen, wie schlimm es um Saiph stand.

»Die Wunde ist sehr tief. Wie hast du ihn bis jetzt behandelt?«, hatte er Talitha gefragt, während er den Einstich in der Rippengegend untersuchte. Fehlerlos redete er in der Sprache Talarias, jedoch in einem Tonfall, den Talitha noch nie gehört hatte.

»Ich habe einen Zauber versucht«, antwortete sie mit zitternder Stimme, wobei sie ihm den Luftkristall zeigte, den sie um den Hals trug.

»Das wird nicht reichen«, hatte der Ketzer knapp geantwortet, sich dann, ohne ein weiteres Wort, Saiph auf die Schultern geladen und ihn aus dem Stollen getragen. Talitha folgte ihm.

Der Ketzer wohnte in einer Höhle inmitten des Eisgebirges. Ein düsterer Gang führte hinein, der so eng und niedrig war, dass sogar Talitha, obwohl von zierlicher Gestalt, den Kopf tief einziehen musste, um sich nicht zu stoßen. Die Behausung, von nahezu rundem Grundriss, bestand aus einem einzigen Raum, der ins Eis hineingeschlagen war.

»Ist das dein Werk?«, fragte Talitha voller Bewunderung.

»Mehr oder weniger«, antwortete der Ketzer.

Der Raum war zwar klein, aber es fehlte an nichts: In einer Ecke erkannte man ein mit Tierfellen überzogenes Lager und auf der gegenüberliegenden Seite eine kleine Feuerstelle, über der in einem Kessel eine Suppe köchelte. Es gab sogar einige Regale, direkt ins Eis geschlagen, voller Gläser und Fläschchen verschiedensten Inhalts sowie ziemlich viele Bücher. Erhellt wurde die Eishöhle durch einen Luftkristall von mittlerer Größe, der an der Decke befestigt war.

Der Ketzer hatte Saiph sofort auf dem Bett niedergelegt und ihn mit den Fellen zugedeckt, dann hatte er sich der Zubereitung der Heilkräuter gewidmet. Währenddessen stand Talitha da und staunte ihn ungläubig an. War dieser über den Mörser gebeugte Alte, der das Leben ihres engsten Freundes zu retten versuchte, tatsächlich jener Mann, nach dem sie monatelang gesucht hatten? Und warum hatte er Verbas Schwert für sich beansprucht, als gehöre es ihm? War er wirklich der Ewige, jenes legendäre Wesen, das den Krieg zwischen Mira und Cetus überlebt haben sollte? Und zu welcher Rasse gehörte er? Eigentümlich und fremd waren seine Haut und die Proportionen seiner Gliedmaßen. Was Talitha besonders beeindruckte, war sein Rücken. Unter seinem Gewand waren zwischen den Schulterblättern zwei Schwellungen zu erahnen, die dort den rauen, mit geronnenem Blut besudelten Stoff wölbten. So als sei ihm etwas amputiert worden.

»Gib mir den Luftkristallanhänger«, sagte er.

Er hatte die Masse auf Saiphs Wunde verstrichen, und Talitha, die versunken zugeschaut hatte, schrak auf. Sofort reichte sie ihm den Anhänger, und der Ketzer führte ihn zum Munde und besprach ihn, kaum vernehmlich, mit einigen Worten einer Talitha unbekannten Sprache. Kurz darauf erstrahlte der Anhänger in einem magischen Licht. Der Ketzer legte ihn auf die Salbe über der Wundstelle, die am tiefsten zu sein schien, und umwickelte Saiphs Oberkörper mit einigen Binden.

»Deine Resonanz scheint sehr stark zu sein …«, murmelte Talitha. »Du kannst mit dem Luftkristall sicher große Zauber vollbringen.«

Der Ketzer antwortete nicht, stand auf und trat zur Feuerstelle. Talitha beugte sich über Saiph und betrachtete sein Gesicht. Es wirkte immer noch erschreckend blass, doch atmete er schon ruhiger.

»Wird er durchkommen?«, fragte sie.

Der Ketzer zuckte mit den Achseln. »Es war gut, wie du die Blutung gestoppt hast. Aber er hat dennoch viel Blut verloren. Außerdem könnte sich die Wunde entzünden.«

»Schafft er es oder nicht?«, fragte Talitha noch einmal.

»Die Heilkunst kennt keine exakten Vorhersagen. Wir müssen abwarten, wie er die Nacht übersteht.«

Von einer Kelle, die er in den Kessel getaucht hatte, schlürfte der Ketzer ein wenig Suppe, griff dann zu zwei Holzschalen, füllte sie und stellte eine davon vor Talitha hin.

Sie rührte die Suppe nicht an. Zu sehr entsetzte sie der Gedanke, vielleicht ohne Saiph weiterleben zu müssen. Es war unvorstellbar. Seit Kindertagen war er immer an ihrer Seite gewesen. Obwohl er ihr Sklave war, waren sie gemeinsam aufgewachsen, und bei allem, was sich in ihrem Leben ereignet hatte, war er in irgendeiner Form dabei gewesen. Besonders nach dem Tod ihrer Schwester Lebitha. Seitdem war er das Einzige, was ihr auf der Welt geblieben war.

Laut schlürfend löffelte der Ketzer seine Suppe. »Du solltest dich auch stärken. Du hast mit Sicherheit einen anstrengenden Tag hinter dir«, sagte er.

»Ich bekomme keinen Bissen hinunter, mein Magen ist wie zugeschnürt«, murmelte Talitha.

»Dann musst du dich zwingen. Glaub mir, du siehst auch nicht gesund aus, und das Letzte, was dein Freund brauchen kann, ist eine Begleiterin, die selbst zusammenbricht. Du musst jetzt für ihn da sein.«

Talitha warf noch einen Blick auf Saiph und gab sich dann einen Ruck. Sie griff zu der Schale und schnüffelte daran. Der Geruch war nicht schlecht, die Suppe schien gut gewürzt zu sein. Und so nahm sie den Löffel und tauchte ihn langsam hinein.

»Als wir uns begegnet sind, habe ich dir eine Frage gestellt und stelle sie dir jetzt noch einmal: Wie kommst du zu meinem Schwert?«, sagte der Ketzer nach einer Weile.

Talitha schluckte etwas Suppe hinunter und antwortete dann, während sie den Blick auf ihn richtete: »Das kann nicht dein Schwert sein.«

»Wieso? Was verlangst du? Dass ich dir eine Besitzurkunde vorlege?«

»Seit Ewigkeiten, so haben mir die Priesterinnen es erzählt, befand sich dieses Schwert immer in einem Schrein im Kloster von Messe.«

Der Ketzer lachte auf. »Und du glaubst tatsächlich, was dir die Priesterinnen weismachen wollen? Es war eine von ihnen, die mir die Waffe geraubt hat. So eine ganz junge, die die Krieger deiner Rasse im Krieg segnete. ›Mira ist mit uns! Mira beschützt uns‹, rief sie in einem fort. Ja gewiss … Mira ist immer mit allen. Aber am Ende verliert doch eine Seite, und die andere gewinnt«, erklärte er spöttisch.

Talitha erwiderte nichts und löffelte die Suppe weiter. Lange schwieg sie.

»Du sprichst vom Antiken Krieg, nicht wahr«, sagte sie schließlich.

»Ja, so nennt ihr ihn wohl«, antwortete der Ketzer.

»Der wurde vor siebenhundert Jahren ausgetragen!«

»Ja, das kann ungefähr stimmen.«

»Niemand überlebt siebenhundert Jahre.«

»Dann musst du wohl mit einem Geist reden.«

Talitha sprang auf. »Wer bist du? Und woher kommst du?«

Der Ketzer richtete den Löffel auf sie. »Setz dich!«

»Monatelang habe ich nach dir gesucht«, rief Talitha aufgebracht. »Saiph hätte den Versuch, dich zu finden, fast mit dem Leben bezahlt, und du sitzt einfach da, isst deine Suppe und erzählst mir etwas von einem Krieg, der sich vor Hunderten von Jahren zugetragen hat!«

»Warum hast du mich denn gesucht?«

»Weil du erkannt hast, was mit unseren Sonnen geschieht. Weil dir klar ist, dass unsere Welt dem Untergang entgegengeht. Und weil du weißt, wie sich das verhindern lässt.«

Der Ketzer blickte Talitha an, und zum ersten Mal blitzte so etwas wie Interesse in seinen Augen auf. »Wenn ich dir deine Fragen beantworten soll, will ich zunächst einmal Antworten von dir hören. Ich hatte dich gefragt, wie du an dieses Schwert gekommen bist«, sagte er und zeigte auf die Waffe, die schärfer und funkelnder als je zuvor im kalten Licht, das den Raum erhellte, an der Höhlenwand lehnte.

Talitha setzte sich wieder und legte die flache Hand an die Stirn. Diese Begegnung lief nicht so, wie sie sich das vorgestellt hatte.

»Ich habe es mir einfach genommen, im Kloster von Messe«, gab sie schließlich zu und berichtete dann ausführlich, wie sich die ganze Geschichte zugetragen hatte, erzählte von den Monaten im Noviziat, zu dem ihr Vater sie nach dem Tod seiner Erstgeborenen, ihrer Schwester Lebitha, genötigt hatte, von dem Geheimnis, das die Priesterinnen dort im Kloster hüteten und das Lebitha das Leben kostete, von dem Feuer, das sie gelegt und in dem das Kloster niedergebrannt war, von ihrer Flucht und ihrer langen Wanderung auf der Suche nach ihm, dem Ketzer, dem Einzigen, der wusste, was Cetus’ Erstarken entgegenzusetzen wäre, und schließlich auch von der Treibjagd, mit der ihr Vater und die Priesterinnen sie überall in Talaria verfolgten.

»Ich verstehe«, sagte der Ketzer, als sie geendet hatte. »Deswegen bist du also geflohen, und deswegen wurde Orea dem Erdboden gleichgemacht.«

»Ja, so ist es …« Talitha spürte, wie der Hass wieder in ihr aufstieg, der sie auch schon angesichts der brennenden Stadt überkommen hatte. Angesichts dieses bohrenden Gefühls verblasste alles andere.

»Ein Wunder, dass ihr entkommen seid. Sie hatten ganz Orea umzingelt.«

»Du hast den Kampf wohl aufmerksam verfolgt«, bemerkte Talitha.

»Ja. Und sie werden euch nun überall suchen«, sagte der Ketzer.

»Das sind wir gewohnt. Aber ich habe dir nun alles erzählt. Sagst du mir jetzt, wer du bist?«

»Wie heißt das Schwert, das du trägst?«

»Verbas Schwert.«

»Eben. Und so lautet auch mein Name. Verba. Ich war es, der es geschmiedet hat.«

»Unmöglich. Dann müsstest du ja über siebenhundert Jahre alt sein.«

»Nein, fünfzigtausend. So ungefähr. Nach so langer Zeit kann man sich schon mal um ein Jährchen vertun«, sagte Verba.

»Niemand kann so lange leben …«

»Ich schon.«

Talitha schwieg. Irgendwie spürte sie, dass dieser seltsame Mann die Wahrheit sagte. »Was bist du?«, raunte sie.

»Ich bin ein Relikt der Vergangenheit. Ein Mann, der schon längst nicht mehr leben sollte, jedenfalls nicht hier an diesem Ort.«

»Du bist weder Talarit noch Femtit. Welcher Rasse gehörst du an?«

»Auch wenn ich es dir sagte, du könntest nichts damit anfangen.«

»Verrate es mir trotzdem.«

»Ich bin ein Shylar«, murmelte der Ketzer, wobei er das fremde Wort rau und zischend aussprach.

»Gibt es noch mehr Angehörige deiner Rasse?«

Verba zögerte einen Moment. »Nein. Alle starben.«

»Und wodurch?«

»Sie starben eben. Was hat es für einen Sinn zu wissen, wie sie gestorben sind? Das würde an der Tatsache nichts ändern«, brauste er auf.

»Als man dich gefangen genommen hatte, wurdest du auch verhört. Da hast du davon gesprochen, was uns allen droht …«

»Ja, das habe ich«, sagte Verba und sah sie mit stechendem Blick an.

»Und dass die Bedrohung mit den beiden Sonnen zusammenhängt, die über Nashira scheinen.«

»Ja, so ist es.«

»Das heißt, sie werden tatsächlich alles verbrennen … Cetus wird uns alle umbringen«, stöhnte Talitha.

»Ja.«

»Aber wie können wir ihn daran hindern?«

Verba sah sie lange an. Seine Augen waren von reinstem Azurblau und so klar wie tiefe Abgründe, in denen man sich leicht verlieren konnte. Etwas Unergründliches, längst Vergessenes lag darin, eine eigene, fremde Welt, die Talitha Angst einflößte.

»Ich kann dir nicht helfen.«

»Kannst du nicht, oder willst du nicht?«

Verba schwieg und schaute sie weiter an. Talitha überlegte, dass er, kräftig wie er war, sie mit einem Schlag töten könnte, wenn ihm der Sinn danach stand. Und sie fragte sich, ob er nicht genau darüber nachgrübelte, während er sie mit diesem entsetzlichen Blick anstarrte. »Erzähl mir doch, was du weißt«, versuchte sie es noch einmal.

Verba schüttelte den Kopf. »Es gab einmal eine Zeit, da habe ich mich für euer Schicksal interessiert. Aber ich habe zu viele Gräueltaten von eurer Seite gesehen. Ihr könnt es nicht lassen, einander bis aufs Mark auszubeuten oder gleich niederzumetzeln. Ja, ich habe euch beobachtet und kann dir versichern, aus der Ferne wirkt ihr nur grotesk mit euren theatralischen Versuchen, euch gegenseitig zu überleben, während ihr Tag für Tag unaufhaltsam dem sicheren Ende näher kommt. Und ich werde euch weiter beobachten. Mehr nicht. Denn mehr könnte ich nicht tun. Sobald es deinem Freund besser geht, werdet ihr beide von hier verschwinden.«

Mit diesen Worten nahm er ihr die Schüssel aus den Händen und kippte die restliche Suppe in die Flamme, die zischend erlosch. Dann wickelte er sich in seine Decke und schien augenblicklich eingeschlafen.

Unfähig sich zu rühren, saß Talitha da und ließ ihren Tränen freien Lauf. Es war alles sinnlos … Alles, was ich versucht habe, war vergeblich.

Mit dem Rücken zu ihr lag Verba starrköpfig auf seinem Lager, kniff die Augen fest zusammen und bemühte sich, an etwas anderes zu denken, damit sein Geist nicht von Mitleid getrübt wurde. Doch während Talitha weinte und weinte, wollte der Schlaf in dieser Nacht einfach nicht kommen.