Mutterliebe
Es war Wochenende. Frau Besler fuhrwerkte mit ihrem kleinen Eimer, Schaufel, Harke und Gartenschere bewaffnet, im Vorgarten herum. Dieser Eimer war ihr wichtigstes Utensil. Er war ihr Schlüssel zur Nachbarschaft und zu deren Neuigkeiten. Gern spähte sie von ihrem Platz am Wohnzimmerfenster aus, auf die davor liegende kleine Straße. Sobald ein Nachbar in Sicht war, griff Sie nach ihrem Eimer, legte ein wenig Müll hinein, und eilte zur Tür hinaus. Auf ihrem Weg zum Abfalleimer kreuzte sich dann, wie zufällig, ihr Weg mit dem des Nachbarn. Und schon wurde dieser, ob er nun wollte oder nicht, in ein Gespräch mit ihr verwickelt.
Die meisten Nachbarn wollten dies nicht. Sie hatten ihre eigenen Sorgen und mochten Frau Beslers Geschichten über ihren Sohn gar nicht hören. Da sie aber eine alte Frau, und ansonsten stets freundlich und hilfsbereit war, blieb hin und wieder doch ein Nachbar stehen und hielt ein Pläuschchen mit ihr.
Wochentags stand Frau Beslers Häuschen leer. Vor vielen Jahren hatte sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn Günther darin gewohnt. Er war nicht der beste Ehemann gewesen, aber er hatte eine Lebensversicherung abgeschlossen, starb früh und so kam es, dass Frau Besler alleinige Besitzerin eben dieses Häuschens wurde.
Eine Zeit lang wohnte Frau Besler regelmäßig in ihrem Haus. Ihr Sohn Günther war mit achtundzwanzig Jahren ausgezogen. Er hatte eine, wie sie fand, schreckliche Frau geheiratet und mit dieser drei Kinder in die Welt gesetzt.
Es war leer geworden, in dem kleinen Haus, in der kleinen Straße am Rande der kleinen Stadt. Frau Besler, die bisher nie einer Arbeit nachgegangen war, suchte sich eine Stelle als Verkäuferin in dem kleinen Kaufhaus, in der kleinen Stadt. Die Arbeit gefiel ihr gut. Sie traf viele Menschen und hörte viele Geschichten. Wenn sie abends nach Hause kam, kochte sie sich etwas und machte ein wenig sauber. Die Abende ließ sie regelmäßig bei einem langen Telefonat mit Günther ausklingen. Er erzählte ihr von seiner Arbeit, die ihn nicht glücklich machte - er arbeitete in einer großen Lagerhalle, wo er den ganzen Tag mit seinem Gabelstapler Ware von A nach B kutschierte - und nur wenig Geld verdiente. Er erzählte von seiner Frau, die ebenfalls arbeiten gehen musste, eben weil er so wenig Geld verdiente, was sie ihm inzwischen bei jeder sich bietenden Gelegenheit vorwarf. Er klagte über seine Kinder, die ungezogen und wild seien, darüber, dass er sich jeden Abend, obwohl er müde sei, mit ihnen befassen müsse, weil seine Frau nach der Arbeit lieber zum Sport oder mit ihren Freundinnen bummeln ginge.
Frau Besler liebte diese abendlichen Telefonate. Je wehleidiger die Geschichten ihres Sohnes waren, desto besser konnte sie in der Nacht schlafen. Aus jedem seiner Sätze hörte sie heraus, dass sie, seine Mutter, es viel besser gemacht hatte. Und das gab ihr das gute Gefühl, wichtig zu sein.
Eines Tages teilte der Chef des Kaufhauses, in dem Frau Besler arbeitete ihr mit, dass sein Kaufhaus schließen müsse. Die Leute führen lieber in die nahegelegene große Stadt, in der es große Kaufhäuser mit einer größeren Auswahl an Waren gebe, die in Straßen standen, in denen es auch Cafés, Kneipen, Restaurants, Kinos und Sportstudios gebe.
Da Frau Besler inzwischen schon sechzig Jahre alt geworden war, fand sie in der kleinen Stadt keine andere Stelle mehr.
Gelegentlich traf sie sich mit ihren ehemaligen Kolleginnen aus dem kleinen Kaufhaus, aber das war nicht sehr oft. Sie saß in ihrem Häuschen, in dem es nichts mehr zu putzen gab, denn allein machte sie nur wenig schmutzig. Im Vorgarten blühten die Blumen, befreit von jeglichen Unkräutern und im Fernsehapparat, den Frau Besler nun häufiger einschaltete, sah sie zu viele Menschen, die offenbar nicht allein oder einsam waren. Die Nachbarn, so schien es ihr, kamen immer seltener an ihrem Grundstück vorbei, und es sammelte sich immer weniger Müll in ihrem Eimer an, dass sie nur selten einen Grund fand, den Weg zum Abfalleimer anzutreten.
An einem solcher Tage rief ihr Sohn Günther schon am Nachmittag an. Hatte er ihr Unglück gespürt oder war es einfach ein Geschenk des Himmels gewesen, auf jeden Fall ging es im Leben von Frau Besler seit diesem Moment an wieder bergauf. Und diese Freude wurde Frau Besler ausgerechnet durch die schreckliche Ehefrau ihres Günthers beschert.
Günther rief schon am Nachmittag an, weil er sich am Vormittag hatte krankschreiben lassen, so berichtete er ihr. Seine Frau habe ihn am Abend zuvor wieder ganz allein mit den Kindern gelassen. Er habe nach seiner Arbeit sogar für sie kochen müssen. Die Wäsche habe er bis spät in die Nacht gewaschen. Dann endlich, als er gerade dabei gewesen war einzuschlafen, sei seine Frau fröhlich, laut und angetrunken von ihren Freundinnen zurückgekehrt. Die Kinder seien aufgewacht und er habe den Rest der Nacht mit offenen Augen an die Zimmerdecke gestarrt, während sie neben ihm geschnarcht habe.
Frau Beslers Herz tat vor Freude einen Sprung. Dennoch gab sie sich äußerst mitfühlend, ihrem Sprössling gegenüber. Sie bot ihm sogar an, ihm von nun an häufiger beizustehen. Günther war zutiefst erleichtert. Zusammen mit seiner Mutter würde er seinen Ehealltag sicher besser bewältigen. Seine Mutter hatte schon immer alles geradebiegen können.
Und so kam es, dass es in dem Häuschen wochentags so leer wurde und dass man Frau Besler von nun an nur noch an den Wochenenden mit ihrem Eimer im Vorgarten begegnete.
Frau Besler war schon immer eine gründliche Frau gewesen, und so gelang es ihr auch innerhalb weniger Monate gründlich in Günthers Leben aufzuräumen.
Von Montag bis Freitag gab es von nun an zwei Mütter in Günthers Haushalt. Da sich schnell herausstellte, dass zwei Mütter - auch bei drei Kindern und einem Mann – eine zu viel war, musste an dieser Stelle zu erst aufgeräumt werden. Frau Besler kochte die köstlichsten Gerichte, die jeden Abend um Punkt 18 Uhr durchs Haus dufteten. Die Wäsche lag von nun an stets frisch gebügelt in den Kleiderschränken. Wenn die schreckliche Ehefrau nach Hause kam, fand sie regelmäßig nur noch ihre Wäsche – ein zerknautschtes Häufchen in einer Ecke der Waschküche – vor. Die Wäsche der schrecklichen Ehefrau wusch Frau Besler nicht. Ihre Wäsche sei ihr zu schmutzig - diese Schlüpfer, winzig, nur so eine Kordel um sich den Po zu bedecken, einfach ekelhaft – erzählte sie jedem, der ihr samstags mit ihrem Eimerchen begegnete.
Als die schreckliche Ehefrau sich bei Günther darüber beklagen wollte, sah dieser sie nur verständnislos an. „Sei doch froh, dass sie uns hilft und dir die ganze Arbeit abnimmt.“ Mehr hatte er dazu nicht zu sagen. Er fand es herrlich, so entlastet zu sein und gleichzeitig nach einem anstrengenden und unbefriedigendem Arbeitstag, von den lieblichen Gerüchen seiner Kindheit eingelullt zu werden.
So war es auch nicht verwunderlich, dass die schreckliche Ehefrau kurz darauf, natürlich von Frau Besler, dabei ertappt wurde, wie sie mit einem schrecklich schmierigen Mann, in einer Eisdiele saß, lachte und sich küsste, anstatt zu Hause, wie Frau Besler meinte, ihrer Pflicht als Mutter und Ehefrau nachzukommen.
Ebenso wenig erstaunt es, dass Günther bereits am selben Abend davon erfuhr, zutiefst verletzt war, und seine schreckliche Ehefrau, mit samt ihren Schlüpfern, vor die Tür setzte.
Frau Besler war zufrieden. Von nun an hatte ihr Leben wieder einen Sinn. Fünf Tage in der Woche war sie wieder voll in ihrem Element als Mutter und Hausfrau, was ohnehin das war, was sie am besten konnte. Die zwei Tage am Wochenende, die Günther sich erbeten hatte, um mal mit den Kindern oder auch mit ein paar Kumpels alleine verbringen zu können, gönnte sie ihm von Herzen. Für zwei Tage fand sich immer genug Arbeit in ihrem eigenen Häuschen, um sich nicht einsam fühlen zu müssen.
So zogen sie gemeinsam die Kinder groß. Günther verdiente das Geld – hinzu kam das Geld, dass die schreckliche Ehefrau ihm wegen der Kinder schuldig war. Und natürlich legte Frau Besler jeden Monat eine ausreichende Summe in die Keksdose, die sie hinter den Tellern im Küchenschrank deponiert hatte – und seine Mutter erledigte spielend den Haushalt.
Günther fand, dass sein Leben gar nicht mehr so übel sei. Er hatte alles, was er zum Leben brauchte. Das Einzige, was ihm manchmal zu schaffen machte, war der Gedanke an eine Frau. Natürlich war seine Mutter auch eine Frau, und niemand bewältigte die Aufgaben einer Ehefrau besser als sie, aber da er ein Mann war, konnte er zunehmend nicht darüber hinweg sehen, dass ihm ab und zu ein junger, üppiger Frauenkörper auf seiner anderen Betthälfte fehlte.
Wenn er mit seinen Kumpels unterwegs war, an den Wochenenden, lernte er gelegentlich eine Frau kennen. Manchmal verstand er sich mit einer von ihnen eine Zeit lang ganz gut. Aber die Frauen, die er kennenlernte, hatten alle denselben Fehler: Sobald er sie mit zu sich nach Hause brachte und sie seiner Mutter vorstellte, reagierten sie mit zunehmender Eifersucht. Dabei war seine Mutter ausgesprochen freundlich zu ihnen, backte wunderbare Torten, wenn sie eine von ihnen zu Kaffee und Kuchen eingeladen hatte.
Frauen waren merkwürdige Wesen. Sie machten alles immer so kompliziert. Also beließ er es dabei und begnügte sich fortan damit, ein Mal pro Monat – das Geld nahm er aus der Haushaltskasse hinter den Tellern im Küchenschrank – in die große Stadt zu fahren, sich eine wohlgeformte Frau auszusuchen und sich für Geld zu erleichtern.
Obwohl er immer erst gegen Ende des Monats in die große Stadt fuhr, denn wenn es nicht gereicht hätte, wäre er natürlich nicht gefahren, kam es nicht ein einziges Mal vor, dass sich nicht mehr genug Geld dafür in der Haushaltskasse befand.
Frau Besler starb vier Monate nach Günthers dreiundfünfzigsten Geburtstag. Sie war übers Wochenende zu sich nach Hause gefahren. Am Samstag hatten Nachbarn sie noch mit ihrem Eimer zum Abfalleimer gehen sehen. Am Sonntag hatte sie niemand gesehen und am Montagabend fand Günther sich nach der Arbeit allein in seiner Küche wieder und nichts duftete nach Essen und seine Wäsche, die noch von seiner samstäglichen Kneipentour über dem Küchenstuhl hing, lag nicht gewaschen im Schrank.
Er war verärgert. All die Jahre hatte er sich auf sie verlassen können.
Günther rief bei seiner Mutter an, aber niemand nahm ab. Er bestellte sich eine Pizza, duschte und huschte dann nackt in sein Zimmer, um sich aus seinem Kleiderschrank etwas zum Anziehen herauszusuchen. Er hatte vergessen, sich vorher saubere Wäsche bereitzulegen. Bisher hatte, wenn er mit dem Duschen fertig war, immer frische Wäsche auf der Kommode im Bad gelegen.
Nach dem Essen fuhr er zum Haus seiner Mutter und schloss auf. Sie lag in ihrem Bett. Die Augen geschlossen, ein Lächeln auf ihren blassen Lippen. Sie atmete nicht mehr. Frau Besler war offensichtlich zufrieden eingeschlafen, für Günther dagegen brach eine Welt zusammen.
Aber das Schicksal meinte es auch diesmal gut mit ihm:
Schon vor Frau Beslers Beerdigung lernte Günther zum ersten Mal seit Jahren eine Frau kennen. Er hatte sein letztes Geld – eigentlich das Geld, von dem er sonst immer seinen monatlichen Ausflug in die große Stadt finanziert hatte – zusammengekratzt und wollte seiner verstorbenen Mutter davon ein wunderschönes Gesteck für ihr Grab, in dem sie am nächsten Tag ihre letzte Ruhe finden sollte, zusammenstellen zu lassen. Ingeborg arbeitete in eben der Gärtnerei, die er zu diesem Anlass betreten hatte.
Ingeborg war sieben Jahre älter als Günther. Ihr Körper war üppig, wenn auch ein wenig erschlafft. Schon am darauffolgenden Abend, nach Frau Beslers Beerdigung, saß er mit Ingeborg auf seinem Sofa, den Kopf an ihre starke Brust gelehnt und weinte über den Verlust seiner Mutter.
Niemals hatte er eine verständnisvollere Frau als Ingeborg kennengelernt.
Ingeborg wusste immer, was er brauchte, sie kannte die leckersten Gerichte und konnte sogar fast so wunderbare Torten backen, wie Frau Besler es einst gekonnt hatte. Ach hätten sich die Beiden doch nur kennenlernen können. Ingeborg hätte seiner Mutter sicher gefallen.
Ein Jahr später heirateten die Beiden. Sie zogen in Frau Beslers kleines Häuschen - denn selbstverständlich hatte sie es ihrem Sohn vererbt – wo Ingeborg sogleich begann, sich ganz ihrem jungen Mann, dem Haushalt und natürlich dem Garten mit seinen herrlichen Blumen zu widmen.
Im Keller fand sie einen kleinen Eimer, eine Schaufel, Harke und Gartenschere, die von nun an ihre ständigen Begleiter wurden.