Grau und Bunt
Blöd hörte sich schon der Wecker am Morgen an. Ich hatte ihn auf Radio gestellt. Gerade fingen die Nachrichten an.
Ich quäle mich also aus dem Bett und schlurfe in die Küche, wo Mama mir schon ein Müsli hingestellt hat. Natürlich mit H-Milch.
Der Tisch steht am Fenster. Während ich kaue, gucke ich mich an der Betonwand des Hauses gegenüber fest. Mein Handy klingelt: Rita, meine beste Freundin ist krank. Also darf ich auch noch alleine los. Mist! Ich dusche, schlüpfe in Jeans und Top, schnappe mir eine Jacke vom Haken. Dem Spiegel daneben schenke ich lieber keine Beachtung. Meine Haare führen heute ein Eigenleben. Ich rufe Mama „Bis später!“, zu und weg bin ich.
Unterwegs merke ich, dass ich mein Schulbrot vergessen habe. Egal! Ohne nachzudenken, wähle ich den Weg am Kanal. Ich sehe beim Gehen auf meine grünen All Star. Sie sind das einzige Grün links vom Kanal. Ich blicke nicht auf. Wenn ich das täte, würde ich unsere Wohnsiedlung sehen. Sie ist grau und hoch. Selbst die winzigen Balkone sind grau, allerdings dunkelgrau.
Mama und ich leben allein hier. „Wenn man keinen Papa hat, dann muss man so wohnen.“, hat Mama erklärt. Und das ist sicher wahr, denn wir sind ganz viele hier in der Siedlung, ohne Papa, mit einer Mama. Manche müssen sich die Mama sogar zu zweit teilen. Ein paar auch zu dritt. Dabei sehen die Wohnungen alle gleich aus. Alle haben zwei Zimmer, ein Bad, eine Küche.
Ich gehöre also zu den Glücklicheren. Ich habe mein Zimmer für mich. Aber heute kann ich mich an so was nicht erfreuen.
Dann sehe ich die Schule. Sie ist hellgrau. Am Schultor lungern schon Arne, Hannes und Simon rum. Noch schnell eine rauchen. Noch schnell warten, um jemanden wie mich zu mobben. Die Typen hier sind alle fies. Wieso ist Rita nur krank? Ich ziehe den Kopf ein und gucke starr zu Boden. Nur schnell vorbei. Die Schulglocke klingelt. Ein guter Grund mich zu beeilen. Die Lehrerin ist auch krank. Was für ein Scheißtag. Was für ein Scheißleben.
Wir kriegen eine Vertretungslehrerin. Die ist neu. Die ist jung. Die ist irgendwie cool. Sie sagt: „Jungs! Mädels! Hier ist es mir zu grau. Nehmt eure Taschen und lasst uns ein bunteres Plätzchen zum Lernen suchen!“ Das sind ganz neue Worte. Für alle von uns. Wir sind voll motiviert. Das waren wir noch nie. Wozu auch?
Die Lehrerin wandert mit uns die Straße entlang, biegt links ab, kurz darauf rechts. Wir alle im Entenmarsch hinterher. Dann biegt sie in einen winzigen Sandweg ein. Wir hinterher. Und dann stehen wir plötzlich alle auf einer großen Wiese. Es duftet. Und es blühen sogar kleine Blumen hier und da. Sieben Bäume zähle ich. Echte Vögel zwitschern darin. Wir sind stumm vor Ehrfurcht. Alle!
Die Lehrerin lächelt. Sie sagt aber nichts. Sie lässt uns lernen, was Bunt ist. Wir lernen Natur kennen. Nicht aus dem Fernseher. Nein, mit echtem Naturgeruch. Ganz ohne Worte. Nur mit den Sinnen. Wow!
Dabei kenne ich diese Wiese. Ich kenne sie von meinem Fenster aus. Denn mein Fenster zeigt nicht auf die Siedlung. Es zeigt auf den Kanal. Und der Kanal ist auch nur auf unserer Seite grau und öde. Genaugenommen, denke ich, ist der Ausblick aus meinem Fenster ein sehr schöner Ausblick. Denn man sieht die andere Seite des Kanals. Und die ist bunt und saftig grün. Noch grüner als meine All Stars. Nur habe ich nie darüber nachgedacht, dort hinzugehen. Ich wusste gar nicht wie. Dabei musste es einen Weg geben. Denn inmitten des Grüns steht eine kleine Eisdiele. Manchmal habe ich gesehen, dass dort Pärchen in der Sonne sitzen.
Genau zu der Eisdiele führt die Lehrerin uns jetzt. „Na? Jemand Lust auf ein Eis?“, ruft sie. „Na klar!“, brüllen wir im Chor zurück.
Ein total süßer Junge kommt mit Schürze und Stift hinter dem Ohr auf uns zu. Sein Haar ist fast schwarz und seine Augen haben die Farbe von Oliven. Beim Lächeln hat er Grübchen. Er ist ganz natürlich, nicht so ein Macho. Ich schmelze dahin, wie das Eis in meiner Hand. Dabei esse ich ganz selten Eis. Wir müssen immer sparen.
Ich habe mich mit meinem Eis unter einen der Bäume gesetzt. Ich glaube, ich habe noch nie unter einem Baum gesessen. Ich fühle mich wie in einem Traum, in einer anderen Welt, in einem anderen Leben. Ich spüre, wie jemand sich neben mich ins Gras setzt. Es ist der Eisdielenjunge. Er heißt Luca. Schulter an Schulter sitzen wir da und betrachten die Blumen. Ich werde nicht ohnmächtig. Und er labert auch nicht rum. Worte sind gerade überflüssig.
Sein Vater ruft. Luca steht auf, nimmt meine Hand, öffnet sie, legt zwei Amaretti Kekse hinein und geht. Als ich einen der Kekse in den Mund stecke, sehe ich den Zettel mit seiner Handynummer. Ich lasse ihn in meine Jeanstasche gleiten, bevor jemand ihn sieht. Dann ruft auch die Lehrerin. Wir müssen zurück. Was für ein bunter Tag!
Ich denke an Rita. Schade, dass sie krank ist, denke ich. Und gut, dass ich gesund bin. Da kann ich ihr wenigstens davon berichten. Ich werde versuchen, ihr alles in bunten Worten zu erzählen. Bunte Worte sind positive Worte, hat die Lehrerin uns erklärt. Die sind besser, als unsere grauen Worte. Wenn wir positive Worte benutzen, dann wird die Welt um uns herum viel bunter. Egal, wie grau sie auch aussehen mag. Das finde ich schön. Heute habe ich endlich etwas gelernt in der Schule, womit ich was anfangen kann.
Ich putze mir noch schnell die Zähne und stelle meinen Wecker so ein, dass mein Lieblingslied mich morgen wecken wird. Dann rufe ich Rita an. Und wenn ich mich traue, dann vielleicht auch noch Luca.