Viva l’Italia!
Es ist der Sommer 1992. Es ist der 2. August und Marie sitzt im Wohnzimmer ihres kleinen Appartements. Heute ist ihr erster Arbeitstag nach dem Urlaub gewesen. Zwei Wochen hatte sie in Italien verbracht, und heute hatte sie gleich wieder mehr als zehn Stunden im Büro verbracht. Warum auch nicht? Gab es doch niemanden mehr, der zu Hause saß und auf sie wartete. Ein kleines Bild auf der Kommode ist die einzige Erinnerung an Holger, die noch übrig geblieben ist. Maries Blick bleibt kurz darauf hängen, und sie beschließt, es am Wochenende zu entfernen. Auf dem Tisch ausgebreitet liegen die Urlaubsfotos. Marie ist dabei sie in ein Fotoalbum einzukleben, als es an der Tür klingelt.
Erschreckt blickt sie auf. Dann fällt es ihr wieder ein: Peter hatte am Nachmittag im Büro angerufen und ihr mitgeteilt, dass er am Abend vorbeischauen werde, um sie Willkommen zu heißen. Sie öffnet die Tür und schon streckt Peter ihr einen Strauß bunter Blumen entgegen. Er freut sich, dass Marie wieder da ist, umarmt sie und drückt ihr einen Kuss auf die Stirn.
Marie kennt Peter schon so lange, sie denken kann. Sie waren zusammen im Kindergarten, in der Schule besuchte er die Parallelklasse. Unzählige Male hatte er sie beschützt und ebenso oft hatte sie sich später an seiner Schulter ausgeweint. Auch vor Maries Urlaub war er gekommen. Ja, er war es gewesen, der sie überhaupt dazu überredet hatte, mal wieder Urlaub zu machen. Geduldig hatte er all die Monate, in denen Marie mit diesem Holger zusammen war, vergeblich auf ihren Anruf gewartet. Einmal hatte Marie ihn heimlich getroffen, um ihm zu sagen, dass Holger es nicht schätze, wenn sie Peter weiterhin sehe. Peter war traurig gewesen, aber er kannte Marie und wusste aus Erfahrung, dass sie bei jedem Mann der in ihr Leben trat, Stück für Stück ihr Leben aufgab. Auch diesmal hatte er gewusst, dass sie sich melden würde, irgendwann, um sich an seiner Schulter ausweinen zu können.
Nun ist Holger also weg, und Peter wieder da. Lachend nimmt Marie den Blumenstrauß. Sie greift nach Peters Hand und zieht ihn aufgeregt mit ins Wohnzimmer. Dort sieht er die Fotos, die verstreut auf dem Tisch herumliegen. Marie holt schnell eine Vase, nimmt das Bild von der Kommode und stellt Peters Blumen an seine Stelle.
Dann setzt sich Marie wieder aufs Sofa und klopft ungeduldig auf den Platz neben sich. Lächelnd lässt Peter sich nieder und streckt seine langen Beine unter dem Couchtisch aus.
Peter sieht Marie an. Sie sieht müde aus. Er weiß, dass sie zu viel arbeitet, wenn sie sich einsam fühlt. Aber jetzt lächelt sie und beginnt, ihm zu jedem der Fotos, die sie gemacht hat, eine kleine Geschichte zu erzählen.
Er erfährt dabei, dass sie offenbar eine junge Frau in Italien kennengelernt hat. Antonella heißt sie. Und gut deutsch spricht sie. Und eine riesengroße Familie hat sie. Und viele nette Freunde hat sie.
Peter fühlt die Sehnsucht in Maries Worten. Antonella verkörpert für Marie all das, was sie nicht ist und nicht hat.
Marie kann ihre Möglichkeiten nicht sehen. Seit Jahren schon muss Peter hilflos mit ansehen, wie Marie an ihrem Glück vorbei rennt, um sich lieber regelmäßig neu mit Feuereifer ins Unglück zu stürzen. Er kann nichts tun. Er kann nur weiter für sie da sein, ihr dann und wann seine Schulter anbieten.
Marie erzählt ihm, sie habe Fernweh. Peter rät ihr, sie solle Antonella doch einfach schreiben. Ein guter Grund, nicht ganz so lange zu arbeiten, wenn sie Antonella abends viele lange Briefe schriebe.
Als Marie am nächsten Abend von der Arbeit heimkommt, findet sie ein Päckchen vor ihrer Haustür. Sie schließt die Tür auf, streift die Schuhe ab und geht in die Küche um es zu öffnen. Mit einer Schere durchtrennt sie die Bänder. Als sie hineinsieht, findet sie drei Blöcke wunderschönen Briefpapieres darin und einen kleinen vergoldeten Füller.
Peter ist wirklich der beste Freund, den man sich wünschen kann. Marie wünschte, es gäbe mehr Männer wie ihn.
Von nun an schreibt Marie fast täglich Briefe an ihre neue Freundin Antonella. Im Dezember hat Marie Urlaub. Sie schreibt Antonella von ihrer Angst, Weihnachten ohne eine Familie, ohne jemanden, zu dem man gehört, verbringen zu müssen. Für Antonella ist eine solche Situation derart undenkbar, dass sie Marie sofort einlädt, Weihnachten und Silvester bei ihr und ihrer Familie zu verbringen.
Also fliegt Marie wieder nach Mailand. Zu viert holen sie Marie vom Flughafen ab. Mehr konnten nicht kommen, da mehr nicht in das Auto von Antonellas Vater gepasst hätten, aber bei Antonella zu Hause angekommen, wird sie von allen in die Arme geschlossen. Marie ist überglücklich!
Schon im darauffolgenden Frühjahr löst Marie ihre Wohnung auf, kündigt ihre Arbeit und zieht nach Mailand. Durch die vielen Gespräche und Briefe, sowie ihre Vorkenntnisse in Französisch und Spanisch, kann Marie sich schon einigermaßen auf Italienisch verständigen. Antonellas Vater hat ihr eine winzige 1-Zimmer-Wohnung besorgt. In der ersten Zeit lebt Marie von ihren Ersparnissen, aber schon bald findet sie zwei Firmen, für die sie Übersetzungen anfertigen soll. Viel verdient sie nicht dabei, aber ihr gefällt das kreative Spiel mit der Suche nach den passenden Worten. Ihre Sprachkenntnisse werden durch diese Arbeit ebenfalls schnell erweitert.
Die Abende verbringt Marie oft mit Antonellas Familie, denn auch in Italien fällt ihr das Alleinsein nicht leicht. An den Wochenenden gehen Marie und Antonella mit den Freunden zum Tanzen. Manchmal fahren sie alle ans Meer und zelten. Marie ist überglücklich mit ihrem neuen Leben.
Schon im Herbst lernt Marie Roberto kennen. Er ist ein Bekannter eines Freundes von Antonellas Schwester Giovanna. Sie waren wieder übers Wochenende ans Meer gefahren und diesmal war auch Roberto dabei.
Er ist sehr interessiert an Maries Leben in Deutschland. Er hilft ihr dabei, das Zelt aufzubauen und überlässt ihr sogar seine Luftmatratze, da sie keine besitzt. Abends sitzen sie alle gemeinsam vor ihren Zelten und essen, was die italienischen Mamas vor Aufbruch sorgsam vorbereitet und verpackt hatten. Als die anderen längst in ihren Zelten schlafen, sitzt Marie noch immer mit Roberto am Strand und unterhält sich mit ihm. Er arbeitet für das Geschäft seiner Mutter. Sie verkauft Kosmetikartikel. Da sie aber eine Verkäuferin eingestellt hat und Roberto nur dafür sorgen muss, dass immer genügend Ware vorhanden ist, hat er viel Zeit und auch viel Geld.
Nach dem Wochenende am Meer weicht Roberto Marie nicht mehr von der Seite. Er führt sie mehrmals in der Woche zum Essen aus, damit sie die ganze Palette der, seiner Meinung nach, besten Küche der Welt kennenlerne. Er macht mit ihr Ausflüge ans Meer, ohne die anderen, an weiter entfernte Küsten, da seine Mutter diverse Ferienappartments an verschiedenen Orten besitzt. Marie genießt es, sich ihre neue Heimat zeigen und erklären zu lassen.
Nach etwa drei Monaten steht Roberto eines Nachmittags vor ihrer Tür und sagt, er habe eine Überraschung für sie. Marie, die gerade an einer Übersetzung gearbeitet hat, packt Zettel, Stift und Wörterbücher weg, zieht ihre Jacke an und eilt mit Roberto los. Wenn Roberto etwas vorhat, hat er es gern, wenn es schnell losgeht. Das hat Marie schon gelernt. Sie wird ihre Arbeit am späten Abend weitermachen, wenn Roberto schlafen geht. Schließlich muss er ja morgens früh aufstehen, während Marie sich ihre Zeit frei einteilen kann.
Roberto verrät nicht, wo er hinfährt. Sie fahren eine Weile durch Mailand. Ein bisschen kennt Marie sich schon aus in der großen Stadt, aber wo er sie nun hinfährt, da war sie bisher noch nicht gewesen.
Vor einem hohen Haus hält Roberto an und parkt seinen Sportwagen. Er muss aufpassen, denn sein Auto liegt tief, während die Bordsteinkanten in Italien recht hoch sind. Marie hofft, dass es gut geht, denn wenn nicht, regt Roberto sich sicher auf. Er mag es nicht, wenn sein Wagen einen Kratzer bekommt. Er hat zwar noch einen Zweiten, aber sein Sportwagen ist ihm heilig. Marie sieht fragend zu Roberto. Der zeigt nur stumm auf das Haus vor ihnen. Es ist ockergelb gestrichen. Hier und da blättert die Farbe ab. Die Balkone sind mit verschnörkelten Eisengittern versehen. Über den Fenstern sind grüne Vorhänge befestigt, die über die Balkongitter hängen. Sie sind aus dickem Stoff, damit sie die Sonne vom Balkon und den Innenräumen abschirmen, erklärt Roberto. Vor dem Haus befindet sich ein kleiner dreieckiger Platz, auf dem ein paar Jungen Fußball spielen. Immer wenn der Ball auf ein Auto prallt, und das passiert häufig, da der Platz eigentlich nicht groß genug ist, geht eine Alarmanlage an. Niemand kümmert es.
Neben dem Hauseingang sieht Marie die Schaufenster eines Tabakladens, daneben eine Bäckerei, gegenüber ein kleiner Tante Emma Laden. Alles da, was man so braucht. Sie steigen aus. Roberto führt sie zur Eingangstür. Das Treppenhaus ist hell gefliest, die Wände sind gelb gestrichen. Es riecht nach Basilikum, Oregano und gekochten Tomaten. Ein winziger Fahrstuhl, ganz aus dunklem, massiven Holz, fährt sie ganz nach oben in den 7. Stock. Vor der linken Tür bleibt Roberto stehen, kramt nach dem Schlüssel und öffnet die Tür. Erwartungsvoll sieht er Marie an. Sie macht einen Schritt hinein, und sieht sich um.
Der Flur ist groß und mit beigefarbenen, marmorierten Fliesen ausgelegt. Roberto legt eine Hand auf Maries Schulter und schiebt sie durch die Räume. Die erste Tür führt in ein Badezimmer. Es ist länglich geschnitten, mit einer Badewanne und sogar einem Bidet. Die Toilette befindet sich ganz hinten am Fenster, und als Roberto es öffnet, sieht Marie direkt auf einen großen, überdachten Balkon. Marie lässt den Blick in die Ferne schweifen. Eine lang gezogene, saftig grün bewachsene Hügelkette tut sich vor ihren Augen auf. Und ganz oben auf dem Berg steht groß und weiß eine Kirche. Marie sieht Roberto an. Sie ist den Tränen nah, so schön findet sie den Ausblick.
Er führt sie weiter, zum nächsten Raum. Er ist groß mit einer Kochnische im hinteren Teil. Auch durch das Küchenfenster erblickt Marie die Kirche. Auf der anderen Seite des Flures befindet sich das Schlafzimmer, wie Roberto ihr erklärt, daneben ein weiteres geräumiges Zimmer mit einem zweiten Balkon. Von hier kann sie die Alpen sehen. Roberto sagt, das könne ihr Arbeitszimmer werden, und später einmal vielleicht das Kinderzimmer.
Marie ist sprachlos. Diese Wohnung war kein Vergleich zu dem Loch, in dem sie momentan hauste, soviel war klar. Aber es war ihr Eigen. Nun konnte sie mit Roberto zusammen diese große Wohnung beziehen, und sie mussten nicht einmal Miete bezahlen. Denn, so Roberto, sie gehörte ja seiner Mutter und sonst stünde sie eh nur leer.
Also erlaubt Marie Roberto, ihre kleine Wohnung für sie zu kündigen. Während der Formalitäten lernt Marie erstmals Robertos Mutter kennen. Sie begrüßt Marie freundlich, wenn auch nicht so herzlich, wie sie es von Antonellas Eltern gewohnt ist. Die Mutter ist nicht froh darüber, dass Roberto auszieht, das merkt Marie im Laufe der Unterhaltung. Die Vorstellung, dass ihr Sohn, erst 21 Jahre alt, wie auch Marie, in „Wilder Ehe“ mit einer Ausländerin leben will, behagt ihr offenbar nicht. Eine Ausländerin könne nicht traditionell kochen und Roberto daher nicht optimal versorgen, findet sie.
Daher gibt sich Marie, kaum dass sie die Wohnung bezogen haben, größte Mühe italienische Gerichte kochen zu lernen. Robertos Mutter ist ihr dabei leider keine Hilfe, aber Antonellas Mutter ist hocherfreut, sie in ihre italienischen Kochkünste einführen zu können. Ganz zufrieden ist Roberto damit nicht. Antonellas Eltern stammen aus Süditalien und zeigen Marie deren traditionelle Gerichte. Robertos Familie bezeichnet sich dagegen feierlich als Norditaliener. Marie lernt also, dass es auch in Italien angeblich „bessere“ und „schlechtere“ Menschen gibt. Ihrer persönlichen Meinung nach tendiert sie eher dahin, Antonellas Familie „besser“ zu finden, aber das traut sie sich Roberto gegenüber nicht laut auszusprechen.
Ein Jahr ist vergangen. Marie arbeitet nicht mehr. Roberto sagt, er habe genug Geld für sie beide. Er gibt ihr jeden Montag etwas Geld, um davon einzukaufen. Marie versucht gut damit haus zu halten. Wenn etwas übrig bleibt, legt sie es sich als Taschengeld zur Seite. Viel bleibt ihr nicht, denn Roberto isst zwei Mal täglich warm, jeweils drei Gänge.
Marie hat viel zu tun. Wenn sie nicht am Herd steht, ist sie mit Robertos Wäschebergen beschäftigt. Er wechselt seine Kleidung zwei Mal täglich. Warum, weiß Marie nicht. Als Marie ihn einmal fragt, zuckt er nur mit den Schultern und sagt, dass er das eben so gelernt habe.
Marie findet nur noch selten die Zeit, bei Antonella vorbei zuschauen. Marie fühlt sich trotz der vielen Arbeit oft einsam. In manchen Wochen ist Roberto ihr einziger Gesprächspartner, nur hat sie häufig das Gefühl, er wolle lieber seine Ruhe haben.
Roberto sieht es nicht gern, wenn Marie Antonella und ihre Freunde trifft. Geld, um mit ihnen wegzugehen, hat Marie auch keines. Und Roberto darum zu bitten, wo er sie sowieso lieber bei sich zu Hause hat, mag sie nicht. Einmal fragt sie ihn, ob er nicht mitkommen möchte. Er sei doch damals am Meer auch gern mit ihnen zusammen gewesen. Aber er will nicht. Er habe andere Freunde, sagt er.
Marie sieht Antonella nur noch selten. Antonella studiert an der Uni, die ganz in der Nähe ist. So kommt sie manchmal heimlich vormittags vorbei. Als Roberto eines Vormittags zufällig nach Hause kommt, weil er etwas vergessen hat, schaut er die beiden böse an und fragt, ob sie nichts zu tun hätten, zu Zeiten, in denen andere arbeiten müssen. Und so bleibt ihnen nur noch das Telefon und Antonella kommt gar nicht mehr.
In langen Telefonaten versucht Antonella Marie bewusst zu machen, dass Roberto und seine Eltern nicht freundlich zu Marie sind. Sie behandeln Marie nach wie vor wie eine Fremde, akzeptieren sie nicht, so wie sie ist. Marie weint dann und will davon nichts wissen. Marie braucht Roberto in diesem fremden Land. Das glaubt sie zumindest felsenfest. Roberto ist derjenige, der das Geld nach Hause bringt, seit sie nicht mehr arbeitet. Nur durch ihn kann sie wohnen, wo sie wohnt, und leben, wie sie lebt. Dass das Leben, dass sie lebt, sie nicht glücklich macht, sieht sie nicht.
Als Marie das Gefühl hat, schwanger zu sein, geht sie heimlich in eine Apotheke und kauft sich einen Schwangerschaftstest. Sie übersieht nicht, dass die Apothekerin einen flüchtigen Blick auf Maries nicht beringten Finger wirft. Am nächsten Morgen wartet sie bis Roberto das Haus verlässt, und bereitet dann aufgeregt den Test vor. Eine Stunde lang soll sie auf das Ergebnis warten, aber schon nach fünfzehn Minuten, sieht sie ein deutliches Pluszeichen auf dem Teststreifen. Sie ist überglücklich.
Schlagartig fühlt sie sich nicht mehr allein. Roberto freut sich auch, als Marie ihm beim Abendbrot davon berichtet. Gleich nach dem Essen ruft er seine Mutter an. Sie sei ganz begeistert, noch mal ein Baby großziehen zu können, erzählt Roberto strahlend. Marie fällt auf, dass die Mutter ihr gar nicht gratuliert hat. Sicher hat sie es in der Aufregung vergessen, beruhigt sie sich selbst.
Am darauffolgenden Mittag bringt Roberto unangekündigt seine Mutter mit zum Essen nach Hause. Auch diesmal vergisst diese, Marie zu beglückwünschen. Stattdessen schmiedet sie eifrig Zukunftspläne für das Baby mit Roberto. Als beide bemerken, dass Marie ihnen entgeistert zuhört, erklärt Robertos Mutter Marie, dass, wenn Marie nun endgültig als Robertos Frau in Italien leben werde, und das sei ja selbstverständlich, nun, wo sie seinen Sohn erwarte, sie endlich mal arbeiten gehen müsse. Es sei üblich, in einer Familie, dass die Jüngeren arbeiten gingen, während die Älteren die Kinder großzögen, natürlich auch aufgrund ihrer größeren Erfahrung in der Kindererziehung. Marie sagt nichts mehr. Sie merkt, dass es sinnlos ist. Plötzlich fallen ihr Antonellas Worte wieder ein. Und diesmal fühlt sie es auch: Marie wird nicht akzeptiert!
In den nächsten Wochen zeigt Roberto immer mehr neue Facetten seiner Persönlichkeit. Er verbietet Marie, beim Essen zu reden. Wenn Roberto nach Hause kommt, schaltet er den Fernseher ein, und wechselt nach Belieben die Programme. Marie kann kaum noch eine Sendung zu Ende sehen. Einmal schreit Roberto sie in der Küche an, weil sie angeblich das Falsche gekocht hat. Ganz nah stellt er sich vor sie und brüllt, bis das Baby in ihrem Bauch zu strampeln beginnt. Marie hält ihren Bauch umklammert und weint. Als es ihr endlich gelingt, Roberto zu entkommen, rennt sie in ihr altes Arbeitszimmer und schließt sich ein. Auf dem kleinen Sofa, das darin steht, in eine Wolldecke gehüllt liegt sie da und streichelt ihren Bauch. Lange liegt sie so und denkt nach. Sie spürt eine nie gekannte Liebe zu ihrem ungeborenen Kind, und zum ersten Mal begreift sie, dass sie nicht mehr nur für ihr eigenes Leben verantwortlich ist. Spät in der Nacht hört sie wie Roberto den Fernseher nebenan ausschaltet. Er schlendert ins Bad, kurz darauf ins Schlafzimmer. Marie scheint er nicht zu vermissen, denn kurz darauf hört sie ihn leise schnarchen.
Ein anderes Mal streitet er mit ihr im Auto, bremst so stark ab, dass Marie Angst um ihr Baby bekommt, und zwingt sie auszusteigen. Kilometerweit muss die Schwangere im Regen durch ihr fremde Stadtteile irren, bis sie völlig durchnässt nach Hause findet. Als sie die Tür aufschließt, sieht sie Roberto seelenruhig vor dem Fernseher sitzen, zu vertieft, um sie zu begrüßen. Marie zieht ihre nassen Sachen aus und hängt sie sorgfältig über den Wäscheständer in ihrem Arbeitszimmer. Dann geht sie wortlos an Roberto vorbei in ihre Kochnische. Leise, denn Roberto hat es gern leise, wenn er fernsieht, bereitet sie das Abendessen zu. Sie stellt ihm das dampfende Essen auf den Tisch und geht wortlos in ihr Arbeitszimmer, wo sie nun schon seit Längerem übernachtet: Sie schwanger auf dem kleinen Sofa, während Roberto es sich im großen Ehebett bequem macht. Auf ihrer Bettseite ist sowieso kein Platz mehr für sie. Roberto breitet inzwischen seine Wechselwäsche darauf aus.
Abend für Abend sitzt Marie in ihrem Arbeitszimmer, die Tür abgeschlossen, denn mittlerweile hat sie Angst vor Roberto, liest oder puzzelt. Einen Fernseher hat sie nicht. Nacht für Nacht liegt sie auf dem Sofa, streichelt ihren Babybauch und denkt über ihr Leben nach. Sie ist erst Anfang zwanzig. Wenn sie Pech hätte, würde sie noch über vierzig Jahre in dieser Gefangenschaft ausharren müssen. Wie würde es ihrem Kind ergehen? Würde sie es ertragen, nur am Rande eine Rolle in seinem Leben spielen zu können? Der Gedanke daran bricht ihr fast das Herz. Eines Abends dämmert es ihr: Sie muss weg! Und zwar schnell! Bevor es zu spät ist! Bevor ihr Bauch zu dick geworden ist, bevor das Baby geboren, und so von ihr getrennt werden kann.
Aber wie soll sie das anstellen. Marie fühlt sich schwach und klein, abhängig und gefangen.
Trotzdem ruft sie am nächsten Morgen Antonella an. Sie hat ein schlechtes Gewissen, denn sie hat sich so lange nicht bei Antonellas Familie gemeldet, dass sie nicht einmal wissen, dass Marie seit sechs Monaten schwanger ist. Aber Antonella ist nicht nachtragend. Sie weiß, dass Maries Möglichkeiten eingeschränkt sind. Als Marie sie um ein dringendes Treffen bittet, ist Antonella sofort bereit dazu.
Schon am darauffolgenden Vormittag treffen sich die beiden in einem abgelegenen Café. Als Antonella Marie kommen sieht, kann sie es nicht vermeiden, ihr auf den schon unübersehbar gewölbten Bauch zu starren. Dann schlägt sie die Hände vors Gesicht. Sie bestellen einen Cappuccino und Marie beginnt, Antonella unter Tränen die ganze Misere zu berichten. Antonella hört wortlos zu. Sie macht Marie keine Vorhaltungen. Als Marie geendet hat, sieht sie ihre Freundin hilflos und verzweifelt an. Sie möchte nach Hause, nach Deutschland. Sie möchte ihr Kind in Deutschland zur Welt bringen, aber sie ist hier gefangen. Sie sieht keinen Ausweg.
Einen Moment lang denkt Antonella nach. Dann hat sie eine Idee: Marie soll Roberto und seiner Mutter glaubhaft machen, dass sie große Angst vor der Entbindung habe. Dass sie Angst habe, durch die starken Schmerzen der italienischen Sprache nicht mehr mächtig zu sein und daher unbedingt in einem deutschsprachigen Krankenhaus entbinden wolle. Außerdem müsste Robertos Mutter Maries Krankenhausaufenthalt in Italien aus eigener Tasche bezahlen, da Marie hier nicht versichert ist. In Deutschland dagegen wäre alles kostenlos für Marie. Na, wenn das kein Argument ist. Sie lachen beide befreit.
Es gelingt Marie tatsächlich, ihr Anliegen so glaubhaft vorzutragen, dass Roberto und seine Mutter sich darauf einlassen.
Nach langen, natürlich heimlichen, Telefonaten mit Maries Mutter, die ihr auch eine Fahrkarte für einen Autoreisezug, der leider erst ab Basel fährt, besorgt, beginnt Marie ihre große Reisetasche zu packen. Sie achtet darauf, dass sie keine Dinge einpackt, die den Eindruck erwecken könnten, sie käme nicht zurück. Sie weiß, dass sie das meiste wird zurücklassen müssen. Aber das Wichtigste wird sie mitnehmen: ihr Auto und ihr ungeborenes Baby! Alles andere ist unwichtig und ersetzbar, ihr Baby und ihre Freiheit dagegen nicht! Marie ist froh, als sie dies endlich begreift.
Als die Reise endlich losgeht, ist Marie bereits im siebten Monat. Roberto und die von ihm eigentlich unerwünschte Antonella begleiten Marie zu ihrem kleinen Auto. Roberto drückt sie kurz und förmlich an seine Brust, Antonella streichelt ihr zum Abschied über die Wange. Nur Antonella weiß, dass Marie nicht zurückkommen wird. Niemals mehr!
Marie kommt gut voran. Als sie die Alpen passiert, beginnen ihre Lebensgeister, mit jedem Meter, den die schmalen Straßen sie höher in die Berge tragen, zu wachsen. Alle Last, Angst und Enge fallen von Marie ab. Sie kurbelt das Fenster herunter und zieht die saubere, frische Bergluft tief in ihre Lungen ein. Sie könnte Schreien vor Freude, sich wieder lebendig zu fühlen.
Nach sieben Stunden im Auto erreicht sie Basel. Ihr dicker Bauch schmerzt und obwohl sie einige Toilettenpausen eingelegt hatte, spürt sie das Wasser in ihren geschwollenen Beinen. Marie wünscht sich nichts sehnlicher, als ihre Beine lang auf einem Bett ausstrecken zu können. Aber bis zur Abfahrt des Zuges sind es noch fast zwei Stunden. Also parkt sie ihren Wagen am Bahnhof und geht in einen Imbiss, um eine Kleinigkeit zu essen. Und natürlich, um wieder auf Toilette zu gehen. Das Baby in ihrem Bauch ist schon recht groß, und so drückt es ihr stetig auf die Blase, was sie zu vielen Pausen veranlasst.
Es ist schon dunkel, als Maries Auto endlich auf dem Zug steht. Ein netter Schaffner trägt Marie den Koffer und führt die Schwangere zu ihrem Abteil. Ein richtiges kleines Zimmer findet Marie vor. Ein mit frischer weißer Bettwäsche bezogenes Bett lädt zum Schlafen ein. Ein kleines Waschbecken, ja sogar eine eigene Toilette hat ihre Mutter ihr wohlweislich dazugebucht. Marie bittet den Schaffner noch, sie am Morgen rechtzeitig zu wecken, da sie mit dem dicken Bauch etwas länger brauche, sich fertigzumachen.
Marie schafft es gerade noch sich die Zähne zu putzen, dann lässt sie sich erschöpft in die Kissen sinken und schläft, trotz der lauten Fahrgeräusche, auf der Stelle ein. Hätte sie in der Nacht nicht vier Mal ihre Blase geweckt, hätte sie sicher durchgeschlafen, bis der Schaffner sie um 5.30 Uhr weckt.
Als Marie endlich fertig angezogen und frisiert ist, und sich über das Frühstück, dass der Schaffner ihr bereitgestellt hat, hermacht, sieht sie durchs Fenster schon die ersten Kräne der großen Hafenstadt am Horizont aufragen. Es beginnt, zu regnen. Marie legt ihre Hand zärtlich gegen die Scheibe, als wolle sie die Regentropfen streicheln. Nach der langen Zeit im warmen Süden liebt sie den Nieselregen dieser Stadt wie nie zuvor. Mein Gott, wie lange hat sie ihre Heimat nicht gesehen? Niemals hätte sie geahnt, ein derartiges Glücksgefühl, ja, geradezu ein Gefühl der Liebe, beim Anblick ihrer Heimatstadt zu empfinden.
Als der Zug in den Verladebahnhof einfährt, sieht Marie schon von Weitem ihre Mutter winken. Zu ihrer Überraschung steht Maries alter Jugendfreund Peter neben ihr. Vor Erleichterung muss Marie schon wieder weinen. Peter war einmal ihr bester Freund gewesen, zu nett für mehr.
Und doch ist es Peter, an dessen Schulter sie nun wieder einmal weinend lehnt. Plötzlich liebt sie dieses vertraute Gefühl, seinen wohlbekannten Geruch, den Klang seiner Stimme.
Er ist es, der ihr in den letzten Wochen der Schwangerschaft zur Seite steht. Er ist es, der mit ihr ein geeignetes Krankenhaus auswählt, ein Kinderbett mit ihr kauft und die ersten Strampelanzüge. Als Marie mitten in der Nacht die Fruchtblase platzt, ist er es, der sie ins Krankenhaus fährt, die ganze Nacht lang ihre Hand hält und ihre schweißnasse Stirn immer wieder mit einem feuchten Tuch kühlt. Marie wird bewusst, dass er all dies tut, ohne dass sie jemals ein Essen für ihn hatte kochen müssen, geschweige denn seine Wäsche hatte waschen müssen. Im Gegenteil, er war ihr immer ein Freund gewesen. Sie dagegen hatte ihm dafür nur wenig zurückgegeben.
Noch im Krankenhaus verfasst Marie einen langen Brief an Roberto. Hier, aus der sicheren Entfernung heraus, traut sie sich endlich, ihm all das zu schreiben, was sie in seiner Nähe nicht hatte aussprechen können. Zum Schluss teilt sie ihm mit, dass sie nicht zurückkommt. Sie hat große Angst vor seiner Reaktion, aber es muss sein. Für sie und vor allem für ihren Sohn, der friedlich in seinem kleinen Krankenhausbettchen neben ihr schlummert, muss sie so schnell wie möglich einen Schlussstrich ziehen. Erst dann kann sie ihr Leben neu in Angriff nehmen.
Zwei Wochen nachdem Peter den Brief für Marie zur Post gebracht hat, steht Roberto vor der Tür. Noch in der Tür teilt er Marie mit, dass er den ganzen Weg aus Italien mit dem Auto gekommen sei, um seinen Sohn abzuholen. Sie könne ruhig hier bleiben, das sei kein allzugroßer Verlust, aber seinen Sohn, den wolle er haben, der gehöre schließlich ihm.
Marie ist kreidebleich und zittert. Dann lehnt sie sich zum ersten Mal gegen Roberto auf. Lieber wolle sie sterben, als ohne ihren Sohn zu leben, schreit sie ihn an. Sie habe ihn in sich getragen und mit ihrer Liebe geschützt, als Roberto sie beleidigt und verletzt hatte, so sehr, dass ihr Ungeborenes in Gefahr geriet.
Robertos Augen verengen sich gefährlich. Er macht einen Schritt auf die Tür zu, doch Marie versperrt ihm mit den Armen den Weg. Ungerührt schlägt er ihr ins Gesicht, sodass Marie zurücktaumelt. Wieder versucht sie den Eingang mit den Armen zu versperren, als Roberto mit voller Wucht seinen Arm auf ihren niedersausen lässt. Es knackt. Marie schreit laut auf vor Schmerz. Dann sinkt sie zu Boden und beginnt leise zu weinen. Wer einem Kind seine Mutter stehlen wolle, sei kein guter Vater, sagt sie müde.
Geschockt über das, was er angerichtet hat, steht Roberto da. Dann hört Marie Schritte die Stufen heraufeilen. Es ist Peter. Ein kurzer Blick genügt: Marie, die auf dem Boden kauert, den Arm fest umklammert, Robertos Ausdruck wütend und hilflos zugleich, unschlüssig von einem Bein aufs andere tretend.
Peter lässt die Tüte mit den Windeln, die er nur schnell besorgt hatte, fallen. Ohne nachzudenken, packt er Roberto am Kragen und schubst ihn zur Treppe. Dann rennt er zu Marie und knallt die Haustür hinter ihnen zu.
Als der Krankenwagen eintrifft, ist Roberto verschwunden. Da er auch am folgenden Tag nicht mehr auftaucht, sieht Marie davon ab, Anzeige zu erstatten.
Als Maries Arm verheilt ist, teilt sie Peter eines Abends ihren Wunsch mit, mit ihm zusammen ein neues Zuhause zu suchen. Sie könne nicht ewig mit dem Baby bei ihrer Mutter bleiben, sagt sie. Und sie wolle in Zukunft auch niemals mehr seine Schulter entbehren müssen. Einen Moment lang sieht er sie ungläubig an. Sollte nun doch noch ein Wunder geschehen sein? Dann nimmt er sie in die Arme, sie und ihren kleinen Sohn.