Ein neuer Abschnitt - Vaterliebe
Es war im Sommer 1974. Seine Tochter hatte den Sommer bei ihren Großeltern am Meer verbracht. Vor ein paar Tagen hatte er sie dort abgeholt, denn morgen würde für sie der Ernst des Lebens beginnen, der erste Schultag.
Er hatte ihr einen schönen Schulranzen ausgesucht. Rot war er, aus festem und genarbten Leder, aber nicht zu schwer. Mit einem Katzenauge als Schnalle, damit man sie im Straßenverkehr auch nicht übersah. Sie war doch noch so klein und zart. Er machte sich Sorgen, hätte sie lieber noch ein weiteres Jahr in seiner Obhut gewusst.
Seine Lebensgefährtin war mit ihr in der Stadt gewesen. Viele Kleider hatten sie anprobiert, bis sie dann mit diesem himmelblauen, mit gelben und roten Blüten übersäten Kleid, nach Hause zurückgekehrt waren.
Der große Tag war gekommen. Er hatte sein Mädchen geweckt. Sie hatten zusammen gefrühstückt, und nun stand sie vor ihm, bereit für den Aufbruch: aufgeregt und in ihrem neuen Kleidchen, den für ihren kleinen Rücken noch so großen Ranzen tapfer auf den Schultern.
Er ging ins Schlafzimmer, holte noch schnell die Überraschung für sie. Stolz, weil er den Inhalt selbst zusammengestellt hatte, überreichte er ihr die große Schultüte. Oh, wie ihre Augen vor Freude strahlten. Ihm ging das Herz über, bei diesem Anblick.
Zu dritt marschierten sie los. Der Weg zur Schule war nicht weit, sonst wäre er versucht gewesen, ihr die schwere Last abzunehmen. Doch ihre gestrafften Schultern zeigten ihm, dass sie groß, ein Schulmädchen, war.
Seine Lebensgefährtin war auch mitgekommen. Sie hielt die kleine rechte Hand, während er seine Hände in den Jackentaschen vergraben hatte. Die kleine linke Hand war nicht frei für ihn, sondern umklammerte die große Schultüte.
Als sie so in die kleine Straße einbogen, sah er schon von Weitem eine Traube von Eltern und neuen Erstklässlern vor und auf dem Schulhof. So viele Menschen auf einem Haufen war sein kleines Mädchen gar nicht gewohnt. Hoffentlich würde es ihr nicht unheimlich werden.
Rund um den Schulhof sah er die kargen, klotzigen Pavillons emporragen. Die schweren, orangefarbenen Gardinen lockerten deren Anblick nicht wesentlich auf. Wie lange es wohl dauern würde, bis sein Töchterchen feststellte, dass Schule gar nichts außergewöhnlich Tolles war? Dass man sich durchbeißen musste, durch einen anspruchsvollen, von Erwachsenen entworfenen Lehrplan. Ebenso wie man lernen musste, seine Zeit täglich mit nicht immer freundlichen Lehrern und oft gnadenlosen Mitschülern zu verbringen.
Egal, nicht heute! Heute war ihr Tag. Es waren ihre Träume, die heute für sie wahr wurden. Er schob seine dunklen Gedanken beiseite und lächelnd betraten sie das Schulgelände.
Während sie warteten, ertönte plötzlich durch ein Megafon die Stimme der Schuldirektorin. Nachdem das übliche Begrüßungszeremoniell abgeschlossen war, wurden ihnen die Lehrerinnen vorgestellt. Er beäugte sie kritisch. Ob sie wohl dazu geeignet waren, seine einzige Tochter anständig auf das Leben vorzubereiten? Die erste Lehrerin sagte ihm nicht besonders zu, erinnerte sie ihn doch an einen Drachen aus seiner eigenen Schulzeit.
Die Zweite gefiel ihm schon etwas besser. Aber leider rief auch sie den Namen seines Kindes nicht auf. Erst bei der dritten Lehrerin waren sie an der Reihe.
Die Frau war schon älter, mit grauen Locken, hatte aber ein warmes und freundliches Lächeln. Nun gut, jetzt würde er sein Kind hergeben müssen. Ob sie seinen Wunsch, sie bei sich zu behalten, spürte?
Jedenfalls schien sie überrascht, als er ihr leise zuflüsterte, dass sie nun allein zu ihrer neuen Klasse gehen müsse. Er sah, wie die Lehrerin sich zu ihr hinunter beugte, ihr die Hand gab, lächelte und sich vorstellte.
Er sah, dass die Angst auf dem kleinen Gesicht seiner Tochter einem Strahlen wich, und er entspannte sich.
Die Lehrerin wies mit dem Finger auf das Gebäude am linken Ende des Schulhofes und er sah, wie die Kinder ihr im Entenmarsch folgten.
Ihm kamen vor Rührung die Tränen.
Nachdem sich seine Begleiterin und er, zusammen mit zahllosen anderen Eltern, eine Weile die Beine
in den Bauch gestanden hatten, sah er sie mit roten Wangen wieder aus dem Haus kommen. Kurz blickte sie sich um, dann stürmte sie auf ihn zu.
Für heute hatte er es geschafft. Für heute hatte er sie wieder.
Schnell machte er noch ein paar Erinnerungsfotos. Er wusste, dass sie nicht gern von ihm fotografiert wurde. Es dauerte ihr zu lange, bis er den Fotoapparat optimal eingestellt hatte. Aber heute ließ sie es geduldig über sich ergehen.
Für den späten Nachmittag hatte er einen Tisch im Restaurant des Fernsehturmes, ganz oben, reservieren lassen. Eigentlich war das ein bisschen zu besonders für seinen Geldbeutel gewesen, aber er arbeitete in der näheren Umgebung des Turmes und jedes Mal, wenn sie ihn bei der Arbeit besucht hatte, hatte sie fasziniert dort hinaufgeblickt. So hatte er gedacht, würde es ihr sicher gefallen, einmal mit dem endlosen Fahrstuhl dort hinaufzufahren.
Er behielt recht. Sie vergaß fast ihr Essen. Immer wieder blickte sie hinaus und wollte wissen, welchen Teil der Stadt man jetzt gerade sehen könnte. Er hatte ihr zuvor erklärt, dass das Restaurant sich ganz langsam drehen würde, während sie dort säßen.
Zum Nachtisch schenkte er ihr eine silberne Kette mit einem kleinen Herz aus Rosenquarz. Als er die Kette um ihren zarten Hals legte, wünschte er, der Anhänger möge sie ein Leben lang an diesen besonderen Tag erinnern.
Und ein wenig auch an ihn.