Wendepunkt
Karla Sander ist im Sommer dreiundvierzig Jahre alt geworden. Sie ist Hausfrau. Eberhard Sander ist fünfundvierzig Jahre alt und als Bauingenieur recht erfolgreich. Kennengelernt hat Karla ihren Mann mit neunzehn Jahren, während des Studiums. Karla hatte gerade ein Psychologiestudium begonnen. Ein Jahr später war sie schwanger geworden, hatte selbstverständlich ihr Studium an den Nagel gehängt und es wurde geheiratet.
Sohn Michael, heute zweiundzwanzig Jahre alt, Jurastudent in einer anderen Stadt, kam zur Welt, als das geräumige Haus am Stadtrand gerade bezugsfertig war. Zwei Jahre später wurde Tochter Sandra, heute knapp zwanzig Jahre alt und engagierte Krankenschwester im städtischen Hospital, geboren.
Karla Sander ist eine wunderbare Ehefrau. Sie hält das große Haus picobello sauber, das Essen ist stets pünktlich und wohlschmeckend angerichtet, und jeden Abend findet Eberhard ein frisches Hemd für den nächsten Tag über den Stuhl gehängt vor.
Jeden Samstag gehen Herr und Frau Sander zusammen zum Sport. Und jeden Sonntag sieht man die Sanders beim Spaziergang durch den Park.
Herr Sander ist stets mit einem frischen Hemd bekleidet, während Frau Sanders goldbraunes Haar akkurat gescheitelt und aufgesteckt ist. Niemals hat es Karla Sander versäumt, Bekannte freundlich zu grüßen.
Jeden Montag, pünktlich um 8.30 Uhr sieht man Herrn Sanders Limousine die Auffahrt hinunterfahren, und sich dann, rechts, in den fließenden Verkehr einzureihen.
An manchen Tagen bringt seine Frau ihm schnell noch sein Butterbrot und den Aktenkoffer hinterher, die Gute. Dann steht sie in der geöffneten Haustür und winkt ihrem Mann zum Abschied hinterher.
Wenn er fort ist, geht sie hinein und lässt die Tür hinter sich ins Schloss fallen.
Seit Sandra Sander vor neun Monaten ins Schwesternwohnheim gezogen ist, kann Karla Sander die Einsamkeit in dem großen Haus kaum noch ertragen.
Niemand scheint zu bemerken, dass sie Tag um Tag die Stunden zählt, bis ihr Mann Eberhard nach Hause kommt.
Niemand ist mehr da, der Staub aufwirbelt, niemand ist da, den sie bekochen muss. Auch die Wäscheberge von einst sind zu einem Häufchen zusammengeschrumpft.
Eberhard isst schon seit Langem mit einem Kollegen zu Mittag, sodass Karla ihm nur noch abends ein paar Häppchen schmieren muss. Oft isst sie mittags gar nichts.
Karla hat abgenommen.
Einmal klopft ihr Eberhard im Vorbeigehen auf den Hintern und witzelt: „Aber nicht, dass du mir an den falschen Stellen zu viel abnimmst!“ Er denkt, sie halte für ihn Diät. „So sind Frauen eben“, denkt er, reckt sich auf dem Sofa und streicht gedankenverloren über seinen fülligen Leib, bevor er den Fernseher einschaltet.
Vor ein paar Wochen hatte Karla ihren Mann gefragt, was er davon halte, wenn sie ihr Studium wieder aufnähme. Jetzt, wo tagsüber niemand mehr ihrer Hilfe bedürfe. Eberhard war gefährlich rot im Gesicht geworden. „Meine Frau muss nicht arbeiten gehen!“ hatte er sie angedonnert.
„Ich verdiene genug! Sollen die Leute etwa denken, es fehle meiner Frau an Geld? Nein, meine Gute, dein Platz ist hier. Triff dich mehr mit anderen Frauen. Die haben doch auch nichts zu tun.“
Karla hatte genickt und dann geschwiegen.
An einem der Vormittage schlendert Karla Sander ziellos durch die Straßen. Plötzlich steht sie doch vor der Uni.
Und sie schreibt sich ein.
Auf einmal fällt alle Angst von ihr ab. Sie geht in ein Straßencafé und bestellt einen Cappuccino. Sie sitzt in der Sonne und träumt. Sie träumt davon, ihr Studium abzuschließen, endlich, und eine kleine Praxis zu eröffnen. Es fühlt sich wundervoll an, der Gedanke an Freiheit, der Gedanke daran, endlich das zu tun, was sie jahrzehntelang hat zurückstellen müssen.
Nach einem weiteren eintönigen Wochenende mit Eberhard und der Einsicht, dass Eberhard seit ihrem letzten Gespräch nicht einen einzigen Gedanken mehr an ihr Anliegen verschwendet hat, fasst sie abermals den Entschluss mit ihm zu reden. Ein letztes Mal. Nein, sie will gar nicht mit ihm reden. Sie hat ihm eine Mitteilung zu machen.
Es ist der darauffolgende Samstag. Die Sanders sind wieder beim Sport gewesen. Es ist Abend geworden. Karla steht seit Stunden in der Küche und zaubert Eberhards Lieblingsgericht: Kohlrouladen, während Eberhard ein Nickerchen auf dem Sofa macht. Eben ist er aufgewacht und hat den Fernseher eingeschaltet: Sportschau. Dabei darf er nicht gestört werden. Karla wird das Essen gegen 19.45 Uhr fertig haben. Dann kann Eberhard gleich an den Tisch kommen. Früher hätte sie gehofft, dass seine Lieblingsmannschaft gewinnt, damit er guter Laune sei, aber heute ist ihr das egal. Karlas Entscheidung ist gefallen, ganz egal wie Eberhards Laune ausfällt. Karla wird morgen ausziehen. Die restlichen Kohlrouladen wird sie ihm noch einfrieren, danach ist sie nicht mehr für seinen Haushalt zuständig.
Eine kleine Wohnung hat sie bereits angemietet, für den Übergang, bis die Unterhaltsfragen geklärt sind, denn, Karla hat auch schon einen Anwalt konsultiert. Genug Zeit hatte sie, und als sie endlich aktiv wurde, gab es kein Halt mehr für sie. Das neue Gefühl war einfach zu schön!