Erlösung zum Sonderpreis
Die Schnäppchenjagd
Es ist kurz vor Mitternacht, und es ist eng auf dem Berliner Alexanderplatz. 5000 Menschen stehen dicht aneinandergedrängt vor einem Gebäude aus altrosa Sandstein, ungeduldig mit den Füßen scharrend, und warten darauf, dass sich die Glastüren endlich öffnen. Dann, plötzlich, ein lauter Knall. Die Masse hat den Absperrungszaun vor dem Haupteingang umgestürzt. Schreie, dann ein Scheppern und Klirren, die erste Glastür geht zu Bruch. Die Menschen stürmen los, schieben sich durch die Eingänge, die notgedrungen geöffnet werden müssen, und stürzen sich auf preisreduzierte Laptops, Handys, iPods, Flachbildschirme und Stereoanlagen.
Abgespielt haben sich diese Szenen im Jahr 2007 während der Eröffnung des Berliner Einkaufszentrums Alexa – Szenen, die dazu nötigen, Max Webers berühmte These, der Geist des Kapitalismus sei wesentlich durch protestantische Askese und Sparsamkeit bestimmt, zu überdenken. Die vom Calvinismus geprägte asketische Lebensführung, so schrieb der Soziologe Anfang des 20. Jahrhunderts, bestehe in arbeitsamem, gottgefälligem Streben und striktem Sparzwang und habe auf diese Weise die Entwicklung des kapitalistischen Systems begünstigt. Neunzig Jahre später geraten die Massen selbst nachts in einen Kaufrausch, angefeuert durch Slogans wie Geiz ist geil, die zwar insofern auf die Grundsätze des asketischen Protestantismus Bezug nehmen, als sie – zumindest auf den ersten Blick – analretentives ›Beisichbehalten‹ anpreisen: Gib bloß nicht zu viel aus! Wenn du dein iPhone bei uns kaufst, sparst du 30 Euro! Dennoch ist der Geiz-ist-geil-Schnäppchenjäger ganz offensichtlich kein sparsamer Asket.
Das Wort ›Geiz‹ kommt vom Mittelhochdeutschen gīt[e], und das heißt: Gier. Habgier. Der geizige Schnäppchenjäger kauft nicht aus Bedürftigkeit, und er ist auch nicht im eigentlichen Sinne sparsam. Vielmehr frönt er seiner Habgier unter dem Deckmäntelchen rationalistischer Investition – und manchmal geht er dabei sogar in buchstäblichem Sinne über Leichen. In New York kam 2008 ein Mitarbeiter der amerikanischen Supermarktkette Wal Mart ums Leben, weil er von einer kaufwütigen Masse zu Tode getrampelt wurde. Zu Beginn der Weihnachtssaison hatte Wal Mart die Preise heruntergesetzt, tausende Menschen drängten sich im Morgengrauen vor den Eingangstüren, drückten sie ein und überrannten den 34-jährigen Angestellten wie eine Herde Rinder bei einer Stampede.
Zerstört und getötet haben Massen schon immer. Der Unterschied ist nur, dass sie es früher aus existenzieller Not, religiösem Fanatismus oder für politische Ziele taten. In anderen Teilen der Welt ist das auch heute noch so. Hierzulande dagegen geraten die Massen für einen billigen Flachbildschirm außer Rand und Band. Die Gier nach heruntergesetzter Ware verbindet und verschwört die Menschen untereinander, Hartz-IV-Empfänger, Friseurinnen, Studenten, Rentner und Referendare, sie alle stellen sich den Wecker, um reduzierte Flachbildschirme, Waschmaschinen, Staubsauger und DVD-Player zu ergattern. »Im Grunde hat der Schnäppchenwahn die Menschen einander über alle sozialen Schranken hinweg nähergebracht«, schreibt die Historikerin und Wissenschaftsjournalistin Eva Tenzer in ihrem Buch Go shopping! »Am Ende kann jeder den anderen verstehen, da alle vom selben Jagdfieber ergriffen sind, oszillierend zwischen rationaler Sparsamkeit und destruktivem Wahn.« Aber warum sind die Massen dem Schnäppchen derart verfallen? Weshalb verzichten sie um seinetwillen sogar auf wertvolle Stunden Schlaf? Wieso drängen sie sich mitten in der Nacht dicht aneinander wie Schafe, nur um einen Toaster zu ergattern?
Eva Tenzer bietet auf diese Fragen eine Antwort, wie sie derzeit häufig gegeben wird. Des Rätsels Lösung, meint sie, liege in unserem Gehirn: Es befiehlt uns ganz einfach, gierig zu sein. »Das menschliche Gehirn selbst liebt den Konsum und verschmäht die Askese«, schreibt Tenzer. »Das Belohnungssystem unseres Körpers schüttet Glückshormone nicht etwa aus, wenn wir Verzicht üben und den schönen Dingen entsagen, sondern vielmehr wenn wir Abenteuer in der bunten Warenwelt erleben.« Der Grund: Konsum habe sich in der Menschheitsgeschichte bewährt und also in unser Gehirn als Erfolgsrezept eingeschrieben. »Wer sich rechtzeitig um Vorräte kümmerte, Überschüsse beiseite legte und Überfluss produzierte, war im Vorteil. Vorratskammern und Statussymbole sicherten in allen Kulturen der Welt das Überleben.« Die Schnäppchenjagd als Überlebensstrategie? Der globalisierte Schnäppchenkapitalismus, ein evolutionäres Konzept der Existenzsicherung? Ist das Verhalten, das Menschen bei Supermarkteröffnungen an den Tag legen, schlichtweg natürlich und damit womöglich sogar entschuldbar? Oder kommen wir, wenn wir uns der Gier nicht neurowissenschaftlich, sondern philosophisch nähern, zu einer plausibleren Erklärung des gegenwärtigen Konsumwahns?
Die Gier richtet sich auf Dinge, mit denen man einen körperlichen Mangelzustand beheben will. Wer etwa fürchterlichen Hunger hat und einen großen Teller Nudeln vorgesetzt bekommt, wird diesen gierig verschlingen. Doch auch Menschen, die eigentlich satt sind, können gierig sein. Ihre Gier ist die Gier nach mehr. Es handelt sich um eine Gier, die prinzipiell nicht zu befriedigen ist, weil sie immer wieder neu aufflammt. Kaum ist das Hühnerbein verschlungen, schon meldet sich wieder der Appetit. »Warum fresst ihr so viel? Ihr habt gar keinen Hunger!«, sagt eine junge Frau in Marco Ferreris Film Das Große Fressen aus dem Jahr 1973. Fassungslos schaut sie den vier Herren Marcello, Ugo, Philippe und Michel beim kollektiven Fress-Suizid zu und fügt resigniert hinzu: »So viel frisst nicht mal ein primitives Tier.« Während das Tier frisst, um satt zu werden, frisst der Mensch um des Fressens willen: Er frisst, weil er das Fressen selbst genießt. »Das Ideale war für mich immer, mit dem Essen anzufangen und nie wieder aufzuhören«, sagt Philippe in Ferreris Film und stirbt wenig später. Würde Ferriri seinen Film heute drehen, er würde ihn womöglich nicht Das gro∫se Fressen, sondern Das gro∫se Kaufen nennen. Neun Prozent aller Deutschen sind mittlerweile kaufsüchtig. Wie im Wahn konsumieren sie Dinge und stapeln sie zu Hause, meist ohne sie überhaupt noch auszupacken.
Aber woher genau kommt sie denn nun, diese Gier nach dem Mehr? Eine mögliche Antwort liefert Georg Wilhelm Friedrich Hegel in der Phänomenologie des Geistes. Hegel meint: Ein gesundes Verhältnis zu den Dingen kann ich nur erlangen, wenn ich sie in ihrer »Selbstständigkeit« erfahre. Nur wenn ich mit den Dingen umgehe, wenn ich sie bearbeite, herstelle und zubereite, kann ich sie wertschätzen; und nur wenn ich die Dinge wertschätze, erschöpft sich meine Freude an ihnen nicht nur in ihrem Verzehr, ihrem Konsum, ihrer Vernichtung. Der Inbegriff eines solchen Menschen, der weiß, wie viel Arbeit in einem fertigen Produkt steckt, ist für Hegel der Knecht. Die Arbeit des Knechtes, so Hegel, »ist gehemmte Begierde, aufgehaltenes Verschwinden«. Tagtäglich geht ein Knecht mit Nahrungsmitteln um, etwa bei der Ernte oder der Essenszubereitung, ohne sie sofort zu verschlingen. Er ist geübt in Triebaufschub, er widersteht der Lust, das Ding unmittelbar zu genießen. Stattdessen lenkt er diese Lust in Arbeit um, er verschiebt sie in die Bearbeitung des Gegenstandes. Sigmund Freud würde sagen: Der Knecht ›sublimiert‹ seine Lust in Arbeit. Und je größer die Hingabe ist, mit der er die Dinge formt, desto mehr wächst auch der Knecht an und in seiner Tätigkeit. In dem Mahl, das er mit seinen eigenen Händen hergestellt hat, steckt er selbst, und indem er sich mit seinem Werk identifiziert, strahlt es auf ihn zurück.
Ganz anders dagegen der Herr. Der Herr bekommt von seinem Knecht die Dinge fertig bearbeitet vorgesetzt. Der Herr weiß nicht, was es bedeutet, ein Essen zuzubereiten, und deshalb kann er es auch nicht wertschätzen. Anders als der Knecht erfährt der Herr die Dinge nicht in ihrer Selbstständigkeit, und so bleibt ihm nur die Lust des Verzehrs, die Lust des Genusses, oder, wie Hegel sagt, die »reine Negation« des Gegenstandes. Der Knecht empfindet Befriedigung in der Herstellung des Dinges, der Herr dagegen nur in ihrer Zerstörung. Der Knecht produziert, der Herr konsumiert. Die Lust des Knechts bezieht sich auf Bleibendes, die Lust des Herrn dagegen auf Flüchtiges, Schwindendes. »Diese Befriedigung ist aber deswegen selbst nur ein Verschwinden, denn es fehlt ihr die gegenständliche Seite oder das Bestehen«, wie der Hegel-Interpret Alexandre Kojève schreibt. »Auch kann dieses ›Verzehren‹, diese müßige Lust des Herrn, die aus der ›unmittelbaren‹ (un-vermittelten) Befriedigung der Begierde hervorgeht, dem Menschen höchstens einiges Vergnügen bereiten, niemals aber vermag sie ihm vollkommene und endgültige Befriedigung zu verschaffen.« Der Herr empfindet Befriedigung nur in der unmittelbaren Befriedigung seiner Gier. Und weil die Befriedigung jeweils nur kurz anhält, giert der Herr sofort nach mehr.
In unserer heutigen Konsumgesellschaft sind wir im Grunde alle Herren im Hegel’schen Sinne. Wir konsumieren Dinge, die ›Knechte‹, vorzugsweise in Billigländern, produziert haben. Allenthalben wird hierzulande der Geldbeutel oder die Kreditkarte gezückt, sofern man sich zum Einkaufen überhaupt noch aus dem Haus bewegt. Bequem shoppen, so lautet die Devise. Nutzen Sie unseren Online-Service! Ein Mausklick, und der in Indien hergestellte Rattansessel wird frei Haus geliefert. Und wenn man bei Aldi fünf Paar Socken made in Taiwan für 2,99 bekommt: Wer ist da noch so verrückt und trägt sie länger als ein Jahr? Weg mit den ollen Dingern und schnell ein paar neue gekauft. Auf diese Weise wird eine Kaufsucht regelrecht antrainiert: Weil der Mensch kein Verhältnis mehr zu den Dingen hat, kann er nur noch ihren Konsum genießen. Oder wie es der Philosoph Herbert Marcuse formuliert: »Die Beschränkung des Glücks auf die vom Produktionsprozeß getrennt erscheinende Sphäre der Konsumption verfestigt die Partikularität und Subjektivität des Glücks in einer Gesellschaft, in der die vernünftige Einheit von Produktions- und Konsumptionsprozeß, von Arbeit und Genuß nicht hergestellt ist.« Genießen, meint Marcuse, heißt für uns heute: Beine hochlegen und konsumieren, was andere erarbeitet haben. Der Produktionsprozess selbst bleibt vom Genuss abgespalten. Vor diesem Hintergrund ist es aufschlussreich, das Augenmerk einmal auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes ›Genuss‹ zu richten. Das mittelhochdeutsche Geniesz bezeichnete, so ist im Grimmschen Wörterbuch nachzulesen, »gemeinsame nutznieszung … was noch in genosse so nahe liegt«. Während wir heute den Genuss mit Konsum, Überfluss und kruder Selbstsucht in Verbindung bringen, spricht seine Begriffsgeschichte eine ganz andere Sprache: Der Genuss im ursprünglichen Sinne des Wortes ist kein besonders luxuriöser und ichbezogener Akt, sondern ein sozialer und an die Arbeit gekoppelter: Man ›nutznießt‹ gemeinsam ein Feld oder eine Wiese, man ›nutznießt‹ das gemeinsam Erwirtschaftete, man ›nutznießt‹ gemeinsam die Früchte der Arbeit. Heute ist das Genießen nicht mehr abhängig von einem Acker, der früher oder später abgeerntet ist, sondern es ist allein abhängig von unserem Portemonnaie beziehungsweise einem Kredit, den uns die Bank gewährt. Und warum mit dem Konsumieren aufhören, wenn mehr sogar billiger ist als weniger? Wären wir nicht dumm, wenn wir während der Happy Hour nur einen Cocktail tränken? Laden nicht die mittlerweile allgegenwärtigen All-you-can-eat-Angebote dazu ein, sich, auch wenn man schon längst satt ist, noch weitere drei, vier Male ans Buffet zu schleppen und sich den Teller vollzuladen? Wer sieben Euro pauschal für das Frühstücksbuffet bezahlt, handelt unökonomisch, wenn er nur ein Ei und ein Brötchen isst. Mehr denn je wird unser Ess- und Trinkverhalten vom Geld und nicht von unseren tatsächlichen Bedürfnissen bestimmt. Wir wollen möglichst viel haben und möglichst wenig dafür bezahlen.
»[D]ie sinnliche Lust wird, weil sie so heftig ist, von denen erstrebt, die an keiner anderen ein Vergnügen finden können«, schrieb der antike Philosoph Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik. »So gibt es Menschen, die in sich selbst ein künstliches Durstgefühl hervorrufen … Denn sie haben nichts anderes, worüber sie Freude empfinden können.« Dieses ›künstliche Durstgefühl‹ ist das Prinzip der heutigen Konsumkultur: Unablässig erzeugt sie körperliche Bedürfnisse, die wir natürlicherweise kaum empfänden. Ach, Media Markt hat diese Woche (nur diese Woche!) Fernseher, die eigentlich über 500 Euro kosten, für 100 Euro weniger im Angebot? Nichts wie hin!
Der Mensch im Spätkapitalismus hat ständig eine trockene Kehle. Immerzu denkt er, dass ihm etwas fehlt, etwas, das er JETZT UND SOFORT haben muss. Er läuft durch die Welt wie ein Kind, überall sieht er es glitzern und blinken, alles ist eine ständige Verheißung. Wenn ich nur dieses Sofa hätte … sprach’s, und schon ist das Konto überzogen – nur der Durst, der ist immer noch nicht gelöscht.
Vor dem Hintergrund der grandiosen Verdrängungsleistung des Schnäppchenjägers, was globale Ausbeutungsverhältnisse angeht, ist es umso frappierender, dass ausgerechnet die Schnäppchenjagd heute als politischer Akt, ja gar als eine Art Revolution verkauft wird. »Wir hassen teuer«, lauten die massentauglichen Statements, und: »Ich bin doch nicht blöd!« Der Schnäppchenjäger lässt sich nicht für dumm verkaufen, er lässt sich nicht schröpfen ›von denen da oben‹, Euro ist Teuro, aber nicht bei Media Markt. Die neue große Volkspartei, so scheint es, ist der Discounter: Vorbei die Zeit, in der die unteren Schichten aufs Genießen verzichten mussten, shoppen gehen kann heute jeder, und vor dem Sonderangebot sind sowieso alle gleich. Und war Gleichheit nicht das Ideal der Französischen Revolution? Bitte schön, hier ist er, der billige Flachbildschirm, ergattern kann ihn auch ein Mindestlohnarbeiter, er muss sich nur seines eigenen Verstandes bedienen und wachsam Werbeprospekte studieren. Der Bezug zur Französischen Revolution mag für manche Ohren überzogen, nachgerade absurd klingen: Was hat die Schnäppchenjagd schon mit den Idealen der Aufklärung zu tun? Allein, man muss sich nur einmal aufmerksam die Werbung anschauen, um zu sehen, dass diese für die Menschheitsgeschichte so wesentliche Epoche längst zu einem prominenten Bezugspunkt heutiger Reklame avanciert ist: »Telefonieren ohne Ende. Ich liebe meine Redefreiheit«, heißt es in der Werbung eines Telefonanbieters für eine Handy-Flatrate. Redefreiheit, auch Meinungsfreiheit genannt, war eine der größten Errungenschaften der Aufklärung. In spätkapitalistischen Zeiten heißt Redefreiheit: loslabern. Reden ohne Punkt und Komma und für möglichst wenig Geld.
So pseudopolitisiert wie heute war die Werbung in der Tat noch nie. Die Telekom etwa feierte den zwanzigsten Jahrestag des Mauerfalls, als hätte sie diesen selbst herbeigeführt. Auf Plakaten war die Berliner Mauer zu sehen, davor Menschen, die sich hingebungsvoll mit ihren mobilen Entertainmenteinheiten beschäftigen. Das Motto der Kampagne: »Grenzen gab’s gestern. Kommunikation überwindet alle Grenzen.« Ein anderer Telekom-Spot spielte im Leipziger Bahnhof. Hunderte Menschen laufen durcheinander, bis plötzlich ein Startenor die Stimme erhebt und Beethovens Ode an die Freude anstimmt. Die Menschen bleiben stehen, erstarren zur Masse, blicken zum Tenor, fangen zu Tränen gerührt an zu singen: »Deine Zauber binden wieder, was die Mode streng geteilt/alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt.« Wir danken dir, Deutsche Telekom, für unsere Freiheit. Würde es dich nicht geben, wir säßen immer noch einsam und stumm oder höchstens mit Schnurtelefonen an Resopalwohnzimmertischen und wüssten gar nicht, was es heißt, frei wie ein Vogel zu twittern.
Das wiedervereinigte Deutschland feiert den Konsum. Unterdrückung gab’s gestern, heute wird geshoppt. Endlich dürfen alle ran an die Schnäppchen! Auch die Ostdeutschen, die jahrzehntelang entsagen mussten und umso größeren Nachholbedarf haben. Also flugs künstliche Verknappung herbeigeführt, um die Kauflust noch ein wenig zu steigern (»Nur solange der Vorrat reicht!«), und dann: Komm, Ossi, schnapp! Braaaav. Das Sonderangebot ist das Leckerli für die Massen: Wer es nach Hause trägt, fühlt sich belohnt und beschenkt. Toll, das 199-Euro-Handy für 169! 30 Euro gespart! Dann nehme ich doch noch ein paar Rohlinge und Folienschreiber mit, die sind dann ja quasi umsonst. Doch es ist nicht nur das trügerische Gefühl des Beschenktwerdens, das den Reiz des Schnäppchens ausmacht. Zugeschnappt wird auch und vielleicht sogar vor allem deshalb, weil man anderen etwas wegschnappt. Was wäre langweiliger, ja sinnloser als eine Schnappjagd ohne Rivalität? Wer würde nicht misstrauisch, wenn er nachts allein auf dem Alexanderplatz stünde in Erwartung der Schnäppchen zur Kaufhausneueröffnung oder bei eBay als Einziger für einen alten Schrank böte? Nein, wer Lust an der Jagd haben will, braucht Konkurrenz, denn nur wenn andere einen Gegenstand auch haben wollen, wird dieser überhaupt begehrenswert. Bei der Schnäppchenjagd geht es nicht um den Gegenstand an sich, es geht nicht um den Gebrauchswert eines Dinges, sondern um den Tauschwert. Um das gierige Anhäufen von Gütern, die ihren Wert allein dadurch erlangen, dass ein anderer sie ebenso gern besessen hätte.
Doch kommen wir noch einmal zurück zur Aufklärung – denn es gibt womöglich noch einen weiteren Grund, weshalb ihre Grundsätze derzeit in so auffälliger Weise als Legitimation für enthemmtes Konsumverhalten herangezogen werden. Um die Menschen von der Gier abzuhalten, musste sich die Kultur seit jeher etwas einfallen lassen – und bis zur Aufklärung hieß die Lösung schlicht und einfach: Gott. »Seht zu und hütet euch vor dem Geiz; denn niemand lebt davon, daß er viele Güter hat«, steht im Lukasevangelium geschrieben, und im Epheserbrief heißt es: »Denn ihr sollt wissen, dass kein Hurer oder Unreiner oder Geiziger, welcher ist ein Götzendiener, Erbe hat in dem Reich Christi und Gottes.« Die stets dräuende Strafe Gottes respektive die Verheißung auf jenseitiges Heil waren es, die den Menschen von gierigem Verhalten (zumindest wenn er gottesfürchtig war) absehen ließen. Später dann, nachdem die Menschen sich im Zuge der Aufklärung aus ihrer religiösen Unmündigkeit befreit hatten, übernahmen Morallehren jene Aufgabe, die vormals die Religion innehatte. »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde«, so versuchte etwa Immanuel Kant die Menschen zu moralischem Handeln anzuhalten. Kann die Gier zu einem allgemeinen Gesetz werden? Wohl kaum. Denn wenn alle nur gieren und raffen und schlingen, entzieht sich eine Kultur selbst ihre Grundlage, die doch gerade darin besteht, dass die Menschen ihre Begierden hemmen und in Arbeit sublimieren. Letztendlich aber war ein strafender Gott effektiver als der Kategorische Imperativ Kants. Denn warum sollte der einzelne Mensch überhaupt ein Interesse am Wohlergehen der Gesellschaft haben? Wenn ich nur geschickt genug bin: Kann ich dann nicht gierig sein, ohne dass die anderen es merken? Und womöglich verhalten sich die anderen ja heimlich auch unmoralisch? Warum also soll ausgerechnet ich moralisch sein? Ich bin ja nicht blöd!
»Die Morallehren der Aufklärung zeugen von dem hoffnungslosen Streben, an Stelle der geschwächten Religion einen intellektuellen Grund dafür zu finden, in der Gesellschaft auszuhalten, wenn das Interesse versagt«, schreiben Horkheimer und Adorno. So betrachtet war es nur eine Frage der Zeit, bis an die Stelle des Kantischen Imperativs der Befehl Sei geizig! treten würde. Derart selbstgerecht und wütend wird dieser Befehl in der Werbung verkündet, ja, wird er von Maschinenfrauen regelrecht herausgeschrien, als habe es nie einen Glauben an Gott, nie Todsünden und nie eine jahrtausendealte Debatte um moralische Grundsätze gegeben. Haben wir vielleicht tatsächlich keinen Begriff von Schuld mehr?
Das ist allerdings kaum möglich – denn die unstillbare Gier nach Mehr, das zwanghafte Genießen, ist überhaupt nur denkbar vor dem Hintergrund eines Verbots, das im Akt des Genießens überschritten wird (vgl. »Das genießende Arbeitstier«). Das Tier kennt keine Gier, und es kennt auch keinen Genuss. Gierig ist nur der Mensch, denn nur er ist, als Kulturwesen, zu Triebverzicht angehalten und entwickelt demzufolge eine umso größere Lust auf alles, was ihm verboten ist. Der provokative Reiz von Werbesprüchen wie »Geiz ist geil!« liegt ja in der Tat genau darin, dass sie an den Grundfesten der Zivilisation rütteln, an fundamentalen Regeln, die für menschliches Zusammenleben seit jeher gelten. In seinem Fragment Kapitalismus als Religion vertritt der Philosoph Walter Benjamin entsprechend die These, dass der Kapitalismus, gerade weil er diese Regeln durchbricht, zutiefst durchdrungen sei von einem Schuldbewusstsein; und weil er nicht mehr weiß, wie er seine Schuld überhaupt noch sühnen soll, tritt er gewissermaßen die Flucht nach vorn an. Benjamin schreibt: »Ein ungeheures Schuldbewusstsein, das sich nicht zu entsühnen weiß, greift zum Kultus, um in ihm diese Schuld nicht zu sühnen, sondern universal zu machen, dem Bewusstsein sie einzuhämmern und endlich und vor allem den Gott selbst in diese Schuld mit einzubegreifen, um endlich ihn selbst an der Entsühnung zu interessieren.« Der Kapitalismus, so Benjamin, ist der einzige Kult, der nicht entschuldend, sondern verschuldend ist. Er will so viel Schuld anhäufen, bis sogar Gott in dem Haufen unterzugehen droht und sich im letzten Augenblick doch noch zur Entsühnung entschließt: »Es liegt im Wesen dieser religiösen Bewegung, welche der Kapitalismus ist, das Aushalten bis ans Ende, bis an die endliche völlige Verschuldung Gottes, den erreichten Weltzustand der Verzweiflung auf die gerade noch gehofft wird. Darin liegt das historisch Unerhörte des Kapitalismus, daß Religion nicht mehr Reform des Seins, sondern dessen Zertrümmerung ist. Die Ausweitung der Verzweiflung zum religiösen Weltzustand, aus dem die Heilung zu erwarten sei.« Vereinfacht ausgedrückt: Das kapitalistische System gleicht einem Kind, das unentwegt ein Verbot überschreitet, um den Vater, der sich abgewendet hat, wieder für sich zu interessieren. Guck mal, Papa! Ich baue einen riesengroßen Haufen Scheiße, und wenn du mir das nicht sofort verbietest, steckst du mit drin. Das Kind, das so handelt, genießt die Verbotsübertretung; es weidet sich an dem Kitzel, nie genau zu wissen, wann und wie der Vater reagiert. Übertragen auf die Schnäppchenjagd heißt das: Wenn wir gierig nach Sonderangeboten jagen, wissen wir genauso wie das Kind, dass wir eine Grenze verletzen: Anders als das Tier hat der Mensch nie in einem unschuldigen Naturzustand gelebt; für ihn als Kulturwesen galt das Verbot, seine Triebe ungehindert auszuleben, von Beginn an, und es ist noch heute in uns lebendig. Der Kapitalismus hat uns nicht vom Verbot und auch nicht von der Schuld befreit; vielmehr genießen wir es wie Kinder, uns immer wieder aufs Neue schuldig zu machen, gespannt darauf wartend, was wohl passiert.
Das Wort ›Schuld‹ muss übrigens in seiner ganzen Doppelsinnigkeit begriffen werden – denn tatsächlich erleben wir ja gerade eine Zeit, in der uns der ›Schuldenhaufen‹, der durch unsere Gier entstanden ist, buchstäblich über den Kopf wächst. Gemeint ist die globale Finanzkrise, der bisherige Höhepunkt kollektiver Gier. Ist die weitestmögliche Ausdehnung der Verschuldung also womöglich bereits erreicht? Hat die Finanzkrise den finalen Big Bang eingeläutet und den kapitalistischen Traum endgültig zum Platzen gebracht? Welches Zeitalter könnte dann aber danach anbrechen? Benjamin nennt zwei Alternativen: entweder das Zeitalter des nietzscheanischen Übermenschen, der weder Gut noch Böse kennt, oder die Zeit des Sozialismus, die Karl Marx zufolge dann gekommen ist, wenn der Kapitalismus sich selbst zerstört hat. Allein, noch ist es nicht so weit. Denn der Gott, den wir auf dem Zenith der Verschuldung angesprochen haben, war Vater Staat, und der hat seine verlorenen Schäfchen schnell unter einem von ihm gesponserten finanziellen Rettungsschirm versammelt. Durch Milliardensubventionen ist die finanzielle Apokalypse also vorerst aufgehalten worden. Aber wer weiß: Wenn uns schon nicht die Finanzkrise zum Ziel führt, dann vielleicht der Klimawandel?
Worauf wir allein achten müssen, ist, dass wir der Gier weiter frönen und uns zum Beispiel jede Menge subventionierter Neuwagen kaufen, Fleisch aus Massentierhaltung essen oder, das Fliegen ist ja heute so schön billig, noch mehr Kerosin in die Stratosphäre pumpen. Dann werden wir den Himmel irgendwann womöglich, wie es Benjamin formuliert, endgültig und im wahrsten Sinne des Wortes »aufsprengen« – und das, was sich dann über uns ergießt, wird kein Rettungsschirm mehr aufhalten können.