Genussarbeit

Das Genießen der Mühsal, die Mühsal des Genießens

Arbeit ist für uns heute nicht mehr nur Mühsal. Wir, die wir unsere Arbeit gern tun und uns in ihr verausgaben auch über das erforderliche Maß hinaus, sind keine Pflichtarbeiter im herkömmlichen Sinne mehr, sondern Genussarbeiter. Diese Wortschöpfung bringt eine Entwicklung auf den Punkt, die sich verstärkt seit einigen Jahrzehnten, im Grunde aber schon seit zwei Jahrhunderten, nämlich seit Beginn des bürgerlichen Zeitalters vollzieht. Seitdem der Mensch körperlich ruinöse Arbeit von Maschinen erledigen lässt, Zugang zu Bildung hat, seine Tätigkeit neigungsorientiert wählen kann und sich vornehmlich durch Leistung definiert, birgt die Arbeit ein Glücksversprechen, das andere Quellen der Lust in immer stärkerem Maße verdrängt. Sex? – Keinen Kopf dafür. – Ausruhen? Mal nichts vorhaben? – Tödlich. – Feiern, hin und wieder über die Stränge schlagen? – Kindisch.

Für uns Genussarbeiter ist der Genuss Arbeit und die Arbeit umgekehrt Genuss. In unserer Arbeit gehen wir auf wie eine Knospe im Frühling. Jede neue Herausforderung lässt uns wachsen, überborden vor Energie, so wie ein Blümlein sich begierig zur Sonne reckt, damit es gedeiht, verlangen wir unentwegt nach neuen Möglichkeiten, um das eigene Können unter Beweis zu stellen. Als Genussarbeiter und Genussarbeiterinnen lieben wir unsere Arbeit, wir brauchen die Anerkennung, die wir durch sie erfahren oder doch zumindest zu erfahren hoffen , denn das Gefühl, tatsächlich ausreichend Anerkennung zu erfahren, stellt sich fast nie und wenn, dann nur flüchtig ein. Und so arbeiten und arbeiten wir, sind ehrgeizig und hochmotiviert, und verlieren dabei nicht selten jedes Maß.

Der Überschwänglichkeit in der Arbeit entspricht die Enthaltsamkeit im Genuss. Dort Distanzlosigkeit, hier vorsichtige Distanznahme; dort Gier, hier Abstinenz. Unsere sexuelle Energie sublimieren wir größtenteils oder sogar ganz in Arbeit. Mit größter Leidenschaft widmen wir uns unseren Projekten, geben uns unserer Arbeit hin wie einer großen, neuen Liebe, für die wir alles zu tun bereit sind.

Sublimation meint Verwandlung, Veredelung des Triebs. Doch häufig hat unser Tätigsein selbst triebhaften Charakter: dann ist es nicht ekstatisch, sondern exzessiv. Zwanghaft lebt der Workaholic seine Lust in der Arbeit aus, er muss arbeiten und kann überhaupt nicht mehr aufhören, denn wenn seine Dauererregung einmal nachlässt, überkommt ihn unweigerlich eine diffuse Angst. Jegliche Form der Muße ist für den exzessiven Genussarbeiter Mühsal. Während am Schreibtisch jedes Gefühl für die Zeit verloren geht und Überstunden kaum als solche empfunden werden, tickt die Uhr, sobald es still wird und nichts mehr zu tun ist, unüberhörbar laut. Unverplante Zeit, gar Langeweile ist für ihn kaum auszuhalten, er muss sich regelrecht anstrengen, um nicht sofort in zwangsneurotische Betriebsamkeit zu verfallen (E-Mails beantworten, Joggen und Aufräumen etwa sind beliebte Ersatzhandlungen), als würde ihn, wenn er auch nur einmal lockerließe, sofort der Teufel holen. Ein solcher Aktionismus, den wir in unserer Leistungsgesellschaft nur allzu leicht mit Leidenschaft und Vitalität verwechseln, ist in Wahrheit häufig nichts anderes als ein verzweifelter Kampf gegen die Depression. Selbst nachts kann der Genussarbeiter nicht mehr abschalten, muss unentwegt Gedanken wälzen, bis irgendwann, wenn die Kraft nicht mehr ausreicht, sich vollkommene Apathie einstellt.

Menschen bilden Süchte aus, um sich zu betäuben, um einen Schmerz, der tief in ihrem Inneren nagt, nicht spüren zu müssen. Die Arbeitssucht ist neben der Sportsucht die einzige gesellschaftlich anerkannte, ja sogar geforderte und geförderte Sucht. Drogenabhängige, Alkoholiker, Kettenraucher, sie alle gelten als randständig, bemitleidenswert, suizidal; Arbeitssüchtige hingegen lenken Firmen und Staatsgeschicke, werden bedient, bewundert, idealisiert.

In seiner Schrift Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus legt der Soziologe Max Weber die tiefe Genussfeindlichkeit der erstarkenden Wachstumsgesellschaft eindrücklich dar. Askese und Fleiß im Dienste Gottes respektive der Akkumulation: Das war das protestantisch geprägte Arbeitsethos des frühen Industriekapitalismus. Lebendig ist dieses Ethos nach wie vor, allerdings mit bedeutsamen Verschiebungen. Erstens: An die Stelle gottgefälliger Strebsamkeit ist heute nackter Ehrgeiz getreten, ein unerbittlicher Kampf um Anerkennung, der keine Grenzen mehr kennt. Wer lediglich fleißig ist und erledigt, was verlangt wird; wer Zeit mit der Familie verbringen will und am Sonntag prinzipiell nicht arbeitet, auch wenn eine Deadline drängt, gilt als unmotiviert und häufig auch als unbrauchbar. Einigermaßen sicher im Sattel beziehungsweise auf Chefposten sitzen nur die, deren Arbeitseifer unendlich ist, die in vorauseilendem Gehorsam auch am Wochenende arbeiten, spätabends noch E-Mails schreiben, jede Aufstiegsmöglichkeit beim Schopfe packen, die sich selbst überschreiten und bisweilen auch überschätzen.

Zweitens: Anders als Weber leben wir heute in Zeiten des globalisierten Schnäppchenkapitalismus, der die Gier respektive den Geiz (beide Wörter haben denselben Wortstamm), für den gläubigen Christen eine Todsünde, als lustvolle Grenzüberschreitung anpreist (Geiz ist geil!). Mit protestantischer Sparsamkeit hat der Geiz-Konsum nur scheinbar zu tun, geht es doch letztlich nicht darum, das Geld bei sich zu behalten, sondern möglichst viel für möglichst wenig zu bekommen. Der Schnäppchenkapitalismus ist ein Verschwendungskapitalismus. Wachsam studieren wir Sonderangebote, verfolgen Auktionen bei eBay, damit uns kein heruntergesetzter Fernseher, keine preisgünstige Couch entgeht. Dass Genuss heute Arbeit ist, hat also auch mit diesem Volkssport des gegenseitigen Wegschnappens zu tun, der die Massen selbst nachts die Discounter stürmen lässt.

Drittens haben wir heute probate Mittel und Wege gefunden, dem leiblichen Genuss, den der protestantische Asket sich naturgemäß versagt, den Stachel der Schuld zu ziehen. Genuss ohne Reue, so lautet das Motto des Wellness-Zeitalters. Alkoholfreies Bier, fettreduzierter Käse, virtueller Sex: »Alles ist erlaubt, man kann alles genießen«, schreibt der Philosoph und Kulturkritiker Slavoj Žižek, »unter der Bedingung, daß es seiner Substanz beraubt ist, die es gefährlich macht.« Der Wellness-Genuss ist schuldfrei, weil er sich nicht über gesellschaftliche Leistungsanforderungen erhebt, sondern den Körper gerade umgekehrt leistungsstark macht, ja im Grunde sogar selbst Arbeit ist. Es wird geschwitzt und gepeelt, trainiert und gefastet, meditiert und der Darm durchgespült, um den Körper fit zu machen und auch noch den letzten Dreck aus ihm herauszuschwemmen. Ob Fitness, Diät oder Wellness-Kloster: Die Wohlfühlarbeit reinigt den Körper, anstatt ihn zu beschmutzen, durch sie erspart man sich die Verschuldung, die ein zweckfreies Genießen unweigerlich mit sich bringt.

Hervorgegangen ist der Wellness-Kult bezeichnenderweise aus einer protestantischen Freikirche. So sehen die Siebenten-Tags-Adventisten den menschlichen Körper als »Tempel des Heiligen Geistes«, wie es in den Korintherbriefen heißt, und den Adventisten zugehörig fühlte sich einst auch ein Arzt namens John Harvey Kellogg. Im Battle Creek Sanatorium, das Kellogg leitete, aß man ausschließlich vegetarisch, nahm Heilbäder und ertüchtigte sich beim Sport. Alkohol, Tabak und Kaffee waren selbstredend untersagt. Und als John Harvey gemeinsam mit seinem Bruder Will Keith die erste knusprige Frühstücksflocke erfand, waren die Patienten im Battle Creek Sanatorium so glücklich über die neue Verbindung von Genuss und Vernunft, dass sie sich das neue Produkt auch nach ihrer Entlassung noch zusenden ließen. Ein neuer Industriezweig war geboren, der des gesundheitsbewussten Genießens, das den Körper stärkt, anstatt ihm zu schaden.

Das Genießen passt sich also dem Leistungsgedanken an; und umgekehrt ist auch die Leistung, sprich: die Arbeit, längst nicht mehr das Gegenteil des Genusses. Arbeit, das war in früheren Zeiten eine Plage, die Strafe Gottes für den Sündenfall, bis zum körperlichen Ruin mühte sich der Mensch ab mit Acker und Vieh, und wie froh war er, wenn er abends Pferdegeschirr und Sense an den Haken hängen konnte. Heute hingegen ist Arbeit – zumindest für die Mittel- und Oberschicht der westlichen Welt – keine Strafe im alttestamentarischen Sinne mehr, sondern eher ein Labsal. Vorbei die Zeiten körperlicher Qual, der Pflüge und Pferdekarren. Heute sitzt man auf ergodynamischen Stühlen vor schicken Macs, neben sich eine Latte macchiato, und gibt sich, scheinbar mühelos, dem Rausch der Arbeit hin. Der Genussarbeiter fühlt die Anstrengung nicht oder nur kaum, seine körperliche Aktivität beschränkt sich weitestgehend auf das Bewegen der Fingerspitzen auf der Tastatur und die Fokussierung der Pupillen, ansonsten ist nur sein Hirn tätig. Beiläufig nimmt er hier eine Information auf, reagiert dort auf einen Reiz, klickt sich durch Webseiten, folgt diesem oder jenem Link, während er Ideen und Projekte verwirklicht, manchmal sogar seine eigenen.

Seitdem der Mensch sich aus der göttlich verfügten Ordnung und der selbst verschuldeten Unmündigkeit befreit hat, muss er sich nicht mehr knechten lassen oder Schlosser werden, nur weil der Vater Schlosser war. Er kann sich seine Tätigkeit aussuchen, sich mit Leib und Seele in sie einbringen, sich mit ihr identifizieren, was naturgemäß zur Folge hat, dass die Ansprüche an die eigene Leistung sehr hoch sind: Wenn das Werk unvollkommen ist, ist es sein Schöpfer, seine Schöpferin auch; erst wenn das Werk perfekt ist, hat die arme Seele Ruh. Aber was ist schon perfekt? Lässt sich nicht immer noch ein bisschen feilen? Verschönern? Optimieren?

Die Lust an der Überschreitung, die kennzeichnend fürs Genießen ist, lebt der Genussarbeiter vor allem in seiner Arbeit aus. Nicht mehr nur die Verbotsüberschreitung, die ›süße Sünde‹, sondern insbesondere die Selbstüberschreitung im Beruf ist es, die ihm Lustgewinn bringt. Yes, you can!, ruft sich der Genussarbeiter unentwegt selbst zu – allein, wenn dieser motivierende Zuruf zu einem abstrakten Leistungsimperativ wird, verliert der Genussarbeiter schnell jedes Gefühl für die eigene Schmerzgrenze. »Das entgrenzte Können ist das positive Modalverb der Leistungsgesellschaft«, wie der Philosoph Byung-Chul Han in seinem Buch Müdigkeitsgesellschaft schreibt. Die andere Seite der Selbstüberschreitung ist die Selbstausbeutung, die übertriebene Verausgabung in der Arbeit, die mit der Gefahr lähmender Erschöpfungsmüdigkeit unauflöslich verbunden ist.

Ein Genuss, der nichts mit Arbeit zu tun hat, macht zwanghaften Genussarbeitern Angst. Sie fürchten sich vor der ›unnützen‹ Zweckfreiheit, die sie als Leere empfinden, als ein Ungehaltensein im doppelten Wortsinne: Ohne ihre Arbeit fühlen sie sich in ihrem Sein gefährdet, sie werden unruhig und agieren latent aggressiv – manchmal gegen sich selbst, manchmal gegen andere. Zeit mit kleinen Kindern zu verbringen etwa hält der exzessive Genussarbeiter in der Regel nicht lange aus. Auf dem Spielplatz wird eifrig ins Smartphone getippt, und beim Holzklötzchenbauen schweifen die Gedanken immer wieder ab zu diesem oder jenem wichtigen Projekt, das dringend vorangetrieben werden muss, Elternzeit hin oder her. Spielen um des Spielens willen, Stunde und Tag vergessen, ja, überhaupt keinen Begriff von Zeit zu haben, noch nicht einmal Sprache, das alles gemahnt an einen Daseinszustand, in den man nicht zurückfallen will, nicht zurückfallen darf. Das kindliche Sein ist ein mythisches: zeitlos, geheimnisumwoben, fremdbestimmt – bestimmt durch Mächte, deren Verfügungsgewalt alles umfasst. Das kindliche Dasein ist ein schicksalsergebenes Dasein, es ist eingebettet in die elterlich-göttliche Gewalt, die des Kindes innere Ruhe, seine Selbstvergessenheit im Spiel erst ermöglicht: Nur wer auf den Halt vertraut, kann sich dem Spiel hingeben. Doch genau das – Vertrauen zu haben – ist Genussarbeitern kaum möglich. Es gibt nichts, worauf sie sich verlassen wollen beziehungsweise können, sie fühlen sich austauschbar, ersetzbar, und sie sind es auch. Sich in der Arbeit zu verlieren wie in einem lustvollen Spiel und zwischendurch müßigzugehen ist in der beschleunigten Wachstums- und Wettkampfgesellschaft nicht gefragt; was zählt, sind Leistung, Effizienz und Flexibilität. Der moderne Genussarbeiter ist, ausgerüstet mit Smartphone oder Blackberry, immer erreichbar und einsatzbereit und muss doch ständig fürchten, dass jemand anderes noch erreichbarer und einsatzbereiter ist als er selbst, weshalb er die Verbindung zur Arbeit selbst im Urlaub hält. Die Verfügbarkeit des flexiblen Genussarbeiters, sein Ehrgeiz und seine Elastizität sind das Fundament der modernen Wachstumsgesellschaft: »Der flexible Mensch«, schreibt der Soziologe Richard Sennett, ist »driftend«, er treibt durch den globalen Kapitalismus wie ein Stück Holz im (Geld-)Fluss.

Das Urvertrauen des Kindes ähnelt in vielerlei Hinsicht dem Gottvertrauen des vormodernen Menschen: So wie das Kind sich auf seine Eltern verlässt und genau daraus seine Kraft zieht, hat dieser einst auf Gott vertraut. Es war der Glaube an einen Vater im Himmel, der den Rahmen für die eigene Existenz bereitstellte, ein Rahmen, der einengte, aber auch Sicherheit versprach. Seit der Aufklärung aber will der Mensch sich nicht mehr bestimmen lassen und sich in sein göttlich verfügtes Schicksal ergeben. Seine Existenz ist nicht länger fixiert durch Herkunft und Stand, sondern, dem Ideal der Französischen Revolution zufolge, frei. Diese Freiheit ist, unbezweifelbar, eine der größten Errungenschaften der Geschichte: Jeder Mensch kann sich (zumindest idealerweise) je nach seinen Fähigkeiten entwickeln und entfalten und einen frei gewählten Beruf ausüben. Er kann – wenn er sich nur gehörig anstrengt – die soziale Leiter hinaufklettern und ist, wie es heißt, ›seines eigenen Glückes Schmied‹. Die dialektische Kehrseite der Freiheit aber ist die Möglichkeit des Scheiterns. Wo die Chance zum Aufstieg ist, lauert immer auch die Gefahr des Abstiegs. In dieser Spannung zwischen Glück und Unglück, zwischen Erfolg und Ruin, zwischen Grandiositätsgefühl und Depression bewegt sich der Genussarbeiter von heute, ob bewusst oder unbewusst, ständig: Ohne Pause ist er unter Strom, greift ehrgeizig nach den Sternen – denn jedes Nachlassen, Ablassen, Auslassen und Loslassen birgt sogleich das Risiko des Falls.

Die Dialektik der Aufklärung haben wir längst noch nicht verarbeitet. Gerade einmal gut zweihundert Jahre ist es her, dass der Mensch ohne göttliche Bevormundung, die gleichzeitig metaphysische Geborgenheit bedeutete, leben muss, leben darf. Der vormoderne Mensch hatte Rituale, an die er sich halten konnte, religiöse Rituale, die ihn zur Ruhe kommen ließen wie etwa das Gebet oder der arbeitsfreie Sonntag. Der moderne Mensch hingegen muss vor sich selbst rechtfertigen, wann und ob er sich eine Pause gönnt; er muss damit zurechtkommen, dass sein Platz in der Gesellschaft keineswegs gesichert ist; und er muss akzeptieren, dass seine Existenz nicht mehr gehalten wird durch ein göttlich verbürgtes Danach. Der Tod bedeutet das unwiederbringliche Ende, weshalb wir uns, um ihn zu verdrängen, mehr denn je in hektische Betriebsamkeit flüchten. Die Hyperaktivität des Genussarbeiters, seine Arbeits- und Beschäftigungssucht, ist immer auch ein Ausdruck von Todesangst; genauso wie sein Fitness- und Wellness-Wahn, dessen Ziel es ist, den Körper jung zu halten, um ihn so lange wie möglich vor dem unabänderlichen Verfall zu bewahren.

Das Menschenbild der Aufklärung war ein materialistisches. Nicht die (undurchdringliche, metaphysische) Seele, der Körper war der neue Schlüssel zur Wahrheit, seine Mechanismen, seine Funktionsweisen zu verstehen, das hieß, den Menschen zu verstehen und ihn gegebenenfalls reparieren zu können wie eine Maschine. Heute spitzt sich diese Verwissenschaftlichung zu in den Neurowissenschaften, die jede menschliche Regung auf Neuronenströme im Hirn zurückführen möchte, auf Ströme, die sich abbilden und messen lassen und die wieder zum Fließen gebracht werden müssen, wenn sie einmal stocken. Die Begeisterung, die diese Wissenschaftsdisziplin derzeit ausübt, ist unübersehbar: Kaum ein Phänomen findet sich noch, das wir nicht mit den Erkenntnissen der Hirnforschung zu erklären versuchen, und auch die Muße ist längst in den Kernspintomographen geschoben worden, wie Ulrich Schnabel in seinem Buch Muße. Über das Glück des Nichtstuns darlegt. Doch auch wenn es richtig sein mag, dass wir unser »Betriebssystem«, wie Schnabel das Arbeitsgedächtnis nennt, nicht überfordern dürfen und ihm Pausen gönnen müssen, darf nicht übersehen werden, dass die Neurowissenschaft sich dem Leistungsgedanken, der unsere Gesellschaft beherrscht, zutiefst verschrieben hat.

Das offensichtlichste Beispiel hierfür ist das sogenannte Hirndoping oder fachsprachlich ausgedrückt: das Neuroenhancement. Unter Enhancement versteht man einen korrigierenden Eingriff in den menschlichen Körper, der nicht aufgrund einer medizinisch indizierten Krankheit, sondern allein zum Zweck der Optimierung erfolgt. Neben schönheitschirurgischen Maßnahmen, auf die wir in diesem Buch ebenfalls zu sprechen kommen werden, fällt auch die Verabreichung leistungssteigernder Medikamente wie Ritalin oder Modafinil unter den Begriff des Enhancement. Entwickelt wurden diese Medikamente für die Behandlung von Depressionen, Aufmerksamkeitsstörungen und exzessiver Schläfrigkeit, doch weil sie auch geeignet sind, um Prüfungsängste und Konzentrationsschwächen einzudämmen, werden sie immer häufiger verabreicht, um Erschöpfte schnell wieder arbeitsfähig zu machen. Wer arbeitet, soll sich nicht quälen, sich nicht herumplagen mit körperlichen Schwächen und psychischen Blockaden. Das Genießen der Arbeit wird damit zum Programm.

Im Lichte der Neurowissenschaften erscheint der (arbeitende) Mensch als entgrenzte Lustmaschine: als ein System, das funktioniert, solange man es schmerzfrei hält. Allein: Wenn der Schmerz nur noch als Störung, als ein Fehler im System begriffen wird und Körpergrenzen lediglich dazu da sind, um überschritten zu werden, verliert der Mensch einen wesentlichen Bezugspunkt seiner Existenz. Nur wenn ich mich selbst als begrenzt erlebe, habe ich überhaupt ein Selbst; sobald ich diese Grenzen medikamentös auflöse, verschwimme ich mit meiner Umwelt und mit den Anforderungen, die sie an mich stellt. Ein spannungsvolles Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Ich und Wir kann es nur geben, wenn der Mensch Kontur behält, wenn er seine Grenzen kennt und anerkennt und, vor dem Hintergrund einer (psychischen oder somatischen) Schmerzerfahrung, sein eigenes Leben wie auch gesellschaftliche Verhältnisse hinterfragt. Schmerz gibt Anlass zum Denken; wer ihn eindämmt, um möglichst schnell wieder arbeiten zu können, beugt sich dem Leistungsdiktat.

Wenn wir verstehen wollen, warum wir uns heute bis zur völligen Erschöpfung in der Arbeit verausgaben, und wenn wir begreifen möchten, weshalb das Genießen immer mehr Menschen außerordentlich schwerfällt, dürfen wir es nicht dabei belassen, den menschlichen Körper als radikal entkontextualisierten in den Blick zu nehmen. Wir haben nicht einfach nur ein Hirn, sondern wir haben auch eine Geschichte, eine individuelle Biographie, die sich in unseren Körpern, in unseren Gefühlen und Ängsten materialisiert und die auch unser Verhältnis zur Arbeit und zum Genuss maßgeblich beeinflusst. Und nicht nur unsere Vergangenheit ist höchst spezifisch, wir leben auch in einer ganz bestimmten Gesellschaft: einer Gesellschaft, die uns – bei aller Freiheit, die sie uns gewährt – einem überaus strengen Leistungsimperativ unterwirft. Diese individuellen und kulturellen Implikationen sieht – im Unterschied zur Neurowissenschaft – die Psychoanalyse Sigmund Freuds, auf die sich dieses Buch deshalb maßgeblich stützt: Bereits am Beginn des vergangenen Jahrhunderts bemerkte Freud die zunehmende »kulturelle Nervosität«, die verursacht wird durch gesellschaftlich geforderten Triebverzicht; und dass Depressionen und Angstzustände ihre Ursache nicht einfach in fehlerhaften Neuronenströmen haben, sondern auf komplexe, individuelle Verdrängungsmechanismen zurückgehen, ist die grundlegende Einsicht der psychoanalytischen Theorie. »[I]ch weiß nichts, was mir für das psychologische Verständnis der Angst gleichgültiger sein könnte, als die Kenntnis des Nervenwegs, auf dem ihre Erregungen ablaufen«, so Freud in seiner Vorlesung über die Angst.

Aus Sicht Freuds ist der Mensch kein in sich schlüssiges, autonomes, transparentes System, das, wenn alles ›normal‹ ist, funktioniert und sich im Falle einer Dysfunktion pharmazeutisch-technisch korrigieren lässt. Vielmehr ist der Mensch von Beginn an ein Mängelwesen: Er ist angewiesen auf Andere, deren Liebe und Anerkennung er begehrt und die er braucht, um zu (über-)leben. Dass wir uns nicht nur in Liebesbeziehungen, sondern auch in der Arbeit bisweilen bis zum Kollaps erschöpfen, hat fundamental mit diesem Begehren zu tun: Wir wollen anerkannt sein. Durch den Anderen, den wir lieben; durch das Werk, in dem wir uns spiegeln; von der Gesellschaft, für die wir arbeiten. Alles, was wir tun, ist auf einen Anderen bezogen. Und wer dessen Anerkennung nicht bekommt, kennt in seinem Ehrgeiz keine Grenze, in der Hoffnung, durch vermehrte Anstrengung doch noch Wertschätzung zu erfahren.

Es ist diese konstitutive Abhängigkeit vom Anderen, die uns in Bewegung hält und uns manchmal auch in tiefe Verzweiflung stürzt. Denn können wir uns seiner Anerkennung überhaupt jemals vollkommen sicher sein? Tatsächlich beruht der menschliche Zweifel wie auch der menschliche Wille – unsere Lebensenergie, unsere Neugierde, unser sexuelles Begehren, unser Ehrgeiz, unsere Schöpferkraft – wesentlich auf dieser Unsicherheit, die wir nie ganz überwinden können: Wir sind nun einmal keine selbstgenügsamen, fröhlich durch die Welt rollenden, vierarmigen und vierbeinigen Kugelmenschen, wie sie in Platons Gastmahl beschrieben werden, sondern Verlangende. So wie die Kugelmenschen, nachdem sie von Zeus in zwei Teile geschnitten wurden, sich nach ihrer verlorenen Hälfte sehnen, sehnen wir uns nach Anerkennung. Um es mit dem französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan zu sagen: Wir begehren das Begehren des Anderen.

Doch auch wenn dieses Begehren nie restlos gestillt werden kann und wir notgedrungen (oder auch zum Glück, denn sonst hätten wir keinerlei Antrieb mehr) mit einer gewissen Grundspannung leben müssen: Dass wir heute in einem Burnout-Zeitalter leben, zeigt deutlich, wie übertrieben wir uns für den Anderen verausgaben, wie fundamental gestört also die gesellschaftlichen Anerkennungsverhältnisse sind. Weil es in der Wettbewerbsgesellschaft primär um Erfolg geht und die Arbeit häufig lediglich ein Mittel zum Zweck darstellt, ist sie sinnentleert, hohl, und vermag kein tiefes Selbstwertgefühl zu vermitteln. Darüber hinaus ist das Verhältnis von Verausgabung und Wertschätzung vollends aus dem Lot geraten. Wir erleben zur Zeit, so meint der Medizinsoziologe Johannes Siegrist, eine schwere ›Gratifikationskrise‹. Aus ideellen oder auch strategischen Gründen erschöpfen wir uns in schlecht oder gar nicht entlohnten Projekten, machen unbezahlte Praktika, Fortbildungen, Umschulungen, stets hoffend, damit in die Zukunft zu investieren und früher oder später die angemessene Anerkennung zu erfahren. Wird die Hoffnung enttäuscht, so stellt Siegrist zusammen mit dem schwedischen Stressforscher Töres Theorell fest, kann das »dramatische Folgen für Gesundheit und Wohlbefinden haben«.

Die lebenswichtige Struktur wechselseitiger Anerkennung hat Freud (wie vor ihm Hegel und Marx) gesehen und sie zum Fundament seiner Theorie erklärt: Anstatt den Menschen als Maschine zu verstehen, nimmt Freud ihn als begehrenden in den Blick – als ein Wesen, das erst in seiner Beziehung zu einem Anderen, dessen Anerkennung er sich erhofft, seine Produktivität, sein erotisches Verlangen entwickelt.

Die andere Seite der menschlichen Unvollkommenheit und Abhängigkeit, auch diese sieht Freud wie kein Zweiter, ist die Todesangst. Es ist dies die Angst vor der eigenen Ohnmacht, vor dem Ausgeliefertsein an einen Anderen, vor dem Nichts, dessen Kälte den Menschen immer dann anhaucht, wenn er die Anerkennung, nach der er sich sehnt, nicht bekommt. Die Neurowissenschaften interessieren sich für diese Angst nicht in ihrer existenziellen Dimension; sie wollen sie lediglich möglichst schnell zum Verschwinden bringen. Aber die Angst verschwindet nicht, sie wird höchstens eingedämmt; und sie verschwindet auch nicht, indem man ihr durch Hyperaktivität zu entfliehen versucht. Vielmehr führt dieser Aktivismus, je weiter man ihn treibt, geradewegs ins Nichts hinein, in die vollständige psychische Lähmung, die Angstlähmung, das körperliche und seelische ›Ausgebranntsein‹, den Burn-out, wie man die Depression heute euphemisierend nennt.

Die alles entscheidende Frage lautet demnach: Woran liegt es, dass wir heute so angestrengt um Anerkennung kämpfen? Findet dieser Kampf seine Ursache womöglich auch und insbesondere in der Arbeit selbst, da diese, als entfremdete, uns nicht das eigene Sein spiegelt? An welchem Punkt schlägt der Kampf um Anerkennung in eine Sucht nach Anerkennung um? Inwiefern ist der Workaholic vergleichbar mit einem Pornodarsteller, der den Sex nicht um des Sexes willen, sondern einzig und allein für die Kamera vollzieht? Existiert womöglich ein säkularisiertes, abstraktes ›göttliches Auge‹, von dem wir uns unausgesetzt beobachtet fühlen und dem zu Gefallen wir alles unternehmen? Was ist das für ein imaginärer Anderer, dessen Blick wir auf uns fühlen? Ein liebender, der uns loszulassen erlaubt? Oder ein tyrannischer, dem wir nicht genügen können? Weshalb verausgabt sich der Workaholic bis zum Exzess? Inwiefern ähnelt er einem Asketen, der, wie es bei Paulus heißt, seinen Leib zerschlägt, um das göttliche Kleinod zu erwerben? Und: Dient der Wellness-Genuss wirklich nur dem eigenen Wohlbefinden? Oder ist er nicht doch zutiefst verschaltet mit einem emotionalen Weichspül-Kapitalismus, dessen Seele das »flüssig sein« (Wolfgang Ullmann), das flexible Floaten im globalen Raum ist?

Der Mensch ist kein unabhängiges Wesen, er existiert nur in Beziehungen; er hat immer ein Gegenüber (ob real oder imaginär, ob konkret oder abstrakt), dessen Anerkennung er sich wünscht und zu dem er sich in ein Verhältnis setzt. Dass diese Struktur auch und insbesondere für das Denken gilt, haben die antiken Denker erkannt: Der Denkakt ist, wie es in Platons Gastmahl heißt, eine geistige Zeugung, zu der naturgemäß immer zwei gehören. Entsprechend hatte Sokrates auf seinen Wandelgängen stets einen Gesprächspartner, sein Philosophieren war im wahrsten Sinne ein dialektisches, eine Kunst der Unterredung, der Gesprächsführung, des zweisamen Müßiggangs. Das Wort ›Genussarbeit‹ beginnt vor diesem Hintergrund zu schillern, ja bekommt einen ganz anderen Sinn: Als dialektische ist sie nicht exzessiv, sondern sinnlich, nicht rein geistig, sondern immer auch körperlich und mit Lust und Muße verknüpft. Zudem, und auch das ist entscheidend, liegt das Gelingen dialektischer Denkarbeit nie nur in der eigenen Hand, sondern immer auch in der Macht des Anderen. Dieser Andere kann ein menschlicher Anderer sein; es kann sich aber auch um Eros handeln, um den großen Dämon der Liebe, der das Denken inspiriert, es befruchtet – und zwar in aller Regel genau dann, wenn man loslässt, träumt und nicht verkrampft nach einer Lösung sucht.

Dieses Buch beleuchtet die Genussarbeit in ihrer tiefen Ambivalenz. Sind wir dabei, die marxistische Utopie unentfremdeter Arbeit zu realisieren, nur weil wir unsere Laptops und Blackberrys mit ins Bett nehmen? Oder verwechseln wir womöglich eine lustvolle Verwirklichung durch Arbeit mit einem zwanghaften Nicht-loslassen-Können? In welchem Verhältnis steht der Genuss zum Denken? Warum brauchte Heidegger die Askese der Berghütte, um in eine intime Beziehung zum Gedanken zu treten, während Sokrates bei Speis und Trank über den Eros philosophierte? Und weshalb scheinen wir heute der Erotik des Denkens, ja der Erotik schlechthin ferner zu sein denn je? Was für einen Bezug haben wir zur Sexualität in einer Gesellschaft, die einerseits Triebverzicht fordert, andererseits aber jede auch nur denkbare Überschreitung als lustvollen Kick anpreist? Täuscht die gegenwärtige, viel beschworene Pornographisierung der Gesellschaft womöglich nur darüber hinweg, dass wir im Grunde immer prüder und asketischer werden? Leben wir tatsächlich in einer enttabuisierten, durch und durch schamlosen Zeit, wie immer wieder behauptet wird? Oder weisen exhibitionistische Talkshows und auch Slogans wie Geiz ist geil eher darauf hin, dass wir uns womöglich gar schuldiger fühlen denn je? Welche Folgen hat die Säkularisierung für unser Genussverhalten? Und welche der technisch-medizinische Fortschritt? Bedeutet die Tatsache, dass wir über den eigenen Körper verfügen, ihn nach Belieben trainieren, verschönern, modifizieren, seine natürlichen Grenzen überschreiten können, wirklich einen Zugewinn an Freiheit? Oder ist die Elastizität des Körpers, seine Form-, Bieg-und Veränderbarkeit, nur ein Auswuchs ebenjener Flexibilität, die heute allenthalben gefordert ist?

Diesen und anderen Fragen widmet sich dieses Buch, das der gezwungenen Freiheit, dem freien Zwang unserer heutigen Leistungsgesellschaft auf den Grund zu gehen versucht. Einerseits sind wir so frei wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit; andererseits aber werden wir mit immer absurderen Leistungsanforderungen konfrontiert, die wir fatalerweise mit unserem eigenen Begehren identifizieren. Was wir wollen und was wir müssen, ist in Zeiten zunehmender Selbstverantwortung und Selbstausbeutung kaum noch unterscheidbar.

Zeigen möchte ich, dass wir gerade heute, in einer Zeit unausgesetzten Tuns und neurotischer Selbstoptimierung, wieder lernen sollten zu lassen. Das Lassen in seinen unterschiedlichen Formen ist die Freiheit des »Nicht-zu« (Byung Chul-Han), die Zweckfreiheit, die keiner Verwertungslogik gehorcht. Nur wenn wir nicht jede Herausforderung reflexhaft annehmen, nicht jede Möglichkeit zwanghaft nutzen, nur weil es sich um eine Möglichkeit handelt, sind wir wirklich frei. Es ist dies die Freiheit des Auslassens, des Einlassens und Seinlassens, die Freiheit des Nicht(s)tuns, des Ablassens, Gelassenseins und Loslassens. Erst wenn wir bereit sind, der Aktivität die Passivität an die Seite zu stellen, können wir die Gesellschaft, in der wir leben, und auch uns selbst verwandeln. An die Stelle von Entsagung und Exzessivität träte ein Genuss, der uns zum Funkeln bringt.