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Sex im Burnout-Zeitalter
MENSCHEN HABEN SEX. Dies ist ein Satz, der, so viel Evidenz er auch auf den ersten Blick zu beanspruchen scheint, immer fragwürdiger wird, je länger man auf ihn schaut. Ist es nicht eigentlich seltsam, dass Wesen, die auf zwei Beinen gehen, Kleidung tragen, über Sprache verfügen, mit Messer und Gabel essen, E-Mails schreiben, Blackberrys bedienen und am Sonntagnachmittag bei einer Tasse Tee das Feuilleton lesen, sich dann und wann ihre durchaus nicht geruchsarmen und auch nicht sonderlich ansehnlichen Geschlechtsteile zur Begattung hinrecken? »Ich schau mir das lieber bei einem Hund an«, so sagte der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard einmal. Wäre es nicht tatsächlich möglich, dass dem Menschen der Geschlechtsakt immer suspekter wird, je weiter er sich entwickelt? Zumal dieser Akt mit dem Erhalt der Gattung ja keineswegs mehr in notwendiger Beziehung steht. Die Pille hat den Sex von der Fortpflanzung abgekoppelt, die Reproduktionsmedizin später dann umgekehrt die Fortpflanzung vom Sex: Im 21. Jahrhundert müssen Menschen nicht mehr miteinander schlafen, um Nachkommen zu zeugen, und es wäre zumindest vorstellbar, dass die Technik den Koitus früher oder später vollständig ersetzt.
Könnte es also sein, dass der Mensch den Sex irgendwann überwunden haben wird? Dass er ihn hinter sich lässt wie vor Jahrmillionen Reißzähne und Fell? »Das Sexualleben des Kulturmenschen ist doch schwer beschädigt, es macht mitunter den Eindruck einer in Rückbildung befindlichen Funktion, wie unser Gebiß und unsere Kopfhaare als Organe zu sein scheinen«, ist in Sigmund Freuds Das Unbehagen in der Kultur zu lesen. »Man hat wahrscheinlich ein Recht anzunehmen, daß seine Bedeutung als Quelle von Glücksempfindungen, also in der Erfüllung unseres Lebenszweckes, empfindlich nachgelassen hat.«
Das ist zugegebenermaßen eine steile These. Ja, es ist noch nicht einmal eine These, sondern, daraus macht Freud keinen Hehl, eine Spekulation, die natürlich sofort Widerspruch hervorruft: Das Sexualleben des Menschen soll evolutionärer Abfall sein? Schön und gut, man kennt diese Gedanken beim Ausziehen (oder sogar beim Sex selbst), dass man jetzt eigentlich ganz wunderbar die zwanzig rot markierten E-Mails beantworten oder endlich mit dem neuen Roman anfangen könnte, der seit Wochen auf dem Nachtisch liegt. (Und ist der Genuss, den man bei der Lektüre eines guten Buches empfindet, nicht wesentlich wertvoller als der eines Geschlechtsaktes? Ganz zu schweigen von dem Wert eines gründlich aufgeräumten E-Mail-Postkastens!) Bekannt auch die Hektik des Alltags, in der es ganz einfach keine Zeit und keinen Sinn gibt für Sex; oder das berühmte Abschaltproblem nach einem harten Tag im Büro und dem damit zusammenhängenden Wunsch, den Abend lieber mit Unanstrengendem zu verbringen (»Fernsehen oder Sex?« – »Ach, lieber Fernsehen …«). Gut, gut, alles bekannt. Aber war die sexuelle Lustlosigkeit zu Freuds Lebzeiten nicht wesentlich größer? Ist Freud nicht tatsächlich das Kind einer Zeit, in der die kulturelle Sexualmoral so streng war, dass schon allein der Gedanke an Sex mit gnadenlosen Gewissensbissen bestraft wurde? Tatsächlich leben wir doch heute in einer ganz anderen Gesellschaft: Vierzig Jahre nach der sexuellen Revolution, die Freud nicht mehr miterlebt hat, gibt es keinen Kuppeleiparagraphen mehr und der Ausdruck ›vorehelicher Sex‹ zaubert Pubertierenden heute höchstens noch ein Grinsen ins Gesicht. Im Kino werden erigierte Geschlechtsteile mit einer Selbstverständlichkeit gezeigt wie in den Fünfzigern Knie. Pornodarstellerinnen treten in Talkshows auf, Edel-Sexshops befinden sich hell ausgeleuchtet in bester City-Lage, und weil seit der Erfindung des Internets Pornofilme auch für Jugendliche problemlos konsumierbar sind, ist seit geraumer Zeit gar von einer »sexuellen Verwahrlosung« der jungen Generation die Rede. Kurz und gut: Die sexuelle Liberalisierung, oder, weniger wohlwollend ausgedrückt, die gesellschaftliche Pornographisierung, ist doch wohl das schlagende Argument gegen Freuds Behauptung! Sind wir nicht heute, was den Sex angeht, so frei und, möchte man doch meinen, entsprechend auch so aktiv wie nie zuvor?
Allein: Dass Sexuelles heute nicht mehr schamhaft verborgen, sondern in einem immer stärkeren Maße ins grelle Licht der Öffentlichkeit gezerrt wird, heißt nicht, dass wir alle lustbetonter, erotisierter, gar hedonistischer geworden wären. Tatsächlich könnte es doch genauso gut umgekehrt sein: Gerade weil der Sex aus der Tabuzone herausgetreten und zur Ware verkommen ist, verlieren wir zunehmend das Interesse an ihm. »Das Bombardement von sexuellen Außenreizen – praktisch jede Reklame arbeitet damit – ist tatsächlich zu einer Belästigung geworden«, meint der Frankfurter Sexualforscher Volkmar Sigusch. Auf hauswandgroßen Plakaten preisen halbnackte Moderatorinnen, sich in Laken räkelnd, Hotelketten und deren Betten an, geiles Bier schmeckt angeblich besser als gepflegtes Pils, und die E-Mailbox muss man mit Spamfiltern vor Viagra- und Sexwerbung schützen. Im 21. Jahrhundert ist das Sexuelle nicht mehr das Abwesende, Verdeckte, Heilige, auf geheimnisvolle Weise dem Blick Entzogene, sondern es wird umgekehrt regelrecht aufgedrängt und damit zunehmend profan. »Je unablässiger und aufdringlicher das Sexuelle öffentlich inseriert und kommerzialisiert wurde, desto mehr verlor es an Sprengkraft, desto banaler wurde es«, stellt Sigusch in seinem Buch Neosexualitäten fest und schlussfolgert, dass die Sexualität für immer mehr Menschen entbehrlich werde: »Weil sie nicht mehr die große Überschreitung ist, kann sie auch unterbleiben.« Man kennt diese Dynamik aus Überangebot und Langeweile ja in der Tat bestens aus Beziehungen: Sobald der Körper des anderen mir allzu selbstverständlich wird und ich keinerlei Anstrengungen mehr unternehmen muss, um ihn zu ›bekommen‹ – ja, wenn er sich mir sogar aufnötigt, indem er ständig nackt vor mir herumspringt –, verliere ich unwiederbringlich die Lust. Und könnte es nicht durchaus sein, dass sich dieser Überdruss nun auch auf gesellschaftlicher Ebene einstellt, weil Sex schlichtweg nichts Besonderes, Verbotenes, Tabuisiertes mehr ist?
Wirft man einen Blick in die Medien, dann scheint die Vermutung, dass der Mensch die Lust am Sex langsam verliert, zumindest nicht ganz falsch zu sein. »Willkommen im Club!«, titelte beispielsweise vor ein paar Jahren das Magazin Psychologie Heute und spielte damit auf die sexuelle Inaktivität vieler Paare an. Das Boulevardmagazin Bunte bot seinen Lesern und Leserinnen zur selben Zeit einen Artikel über »Das große Glück ohne Sex«, das angeblich der Wiener Musicalstar Dagmar Koller und ihr Ehemann, der einstige Wiener Bürgermeister Helmut Zilk, miteinander teilen. Und in der Welt am Sonntag lautete eine Schlagzeile: »War die Ehe in den fünfziger Jahren aufregender als heute?« Der Artikel beschäftigte sich unter anderem mit einer Studie des Kinsey-Instituts für Sexualforschung in Bloomington, Indiana, derzufolge die sexuelle Revolution zu einer Abwertung der Erotik geführt habe: »Die Menschen haben nicht mehr so viel Sex wie früher«, so der Institutsdirektor John Bancroft. Tatsächlich hat sich der Trend hin zur Asexualität auffallend verstärkt; oder zumindest outen sich immer mehr Menschen, die kein Bedürfnis nach Sex verspüren. Asexual Visibility and Education Network, so heißt das Internetforum, das der Amerikaner David Jay 2001 gründete und das mittlerweile auch eine Plattform in Deutschland hat. Und wer glaubt, dass sich nur die angeblich ohnehin frigiden Frauen bei AVEN melden, irrt gewaltig: Seit den neunziger Jahren sind vielmehr Frauen es, die sich in den Beratungsstellen gehäuft über ihre sexunwilligen Männer beklagen.
Allerdings ist es bei genauerem Hinsehen durchaus fraglich, ob die offenbar zunehmende – oder doch zumindest in auffälliger Weise thematisierte – Lustlosigkeit lediglich auf den Wegfall von Verboten, das heißt auf die sexuelle Liberalisierung, zurückzuführen ist. Denn wie befreit ist der Sex heute wirklich? Natürlich, es stimmt, Sex im Bild zu sehen, ihn zu konsumieren und offen über ihn zu sprechen, stellt heute kein Problem mehr dar. Aber was ist mit real vollzogenem Sex? Können wir uns etwa, wann und wo wir wollen, der Lust hingeben, nur weil 1975 die Pornographie legalisiert wurde? »Dass Sex an jeder Straßenecke ausgestellt und wie ein x-beliebiges Waschmittel behandelt wird, davon braucht man sich nichts zu erhoffen«, hielt Jacques Lacan bereits in den siebziger Jahren fest. »Es ist eine Modeerscheinung, Teil der angeblichen Liberalisierung, die uns von oben gewährt wird und mit der uns die sogenannte permissive Gesellschaft beglückt.« Die Sexualität ist nicht befreit, sie wird nur zunehmend vermarktet: Was früher das Pin-up-Girl im Spind war, ist heute der 24-Karat-Dildo, den man sich zur Zierde auf den Kaminsims stellen kann, und Sexshops, ehemals schmuddelig im Abseits gelegen, gleichen neuerdings Wellness-Centern, in denen Paare sich in entspannter Atmosphäre zum Smart Sex inspirieren lassen können. Dass Sex sich bekanntermaßen gut verkauft, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch unsere Gesellschaft ganz fundamental auf Triebverzicht beruht – und zwar in extremem Maße. Noch nie war der Leistungsdruck so groß wie heute, bis zum Burnout verausgabt sich der Mensch in der Arbeit, ständig ist er verfügbar, legt Abend- und Nachtschichten ein, weil sich das Gefühl, genug getan zu haben, nicht einstellen will – und dabei bleibt der Sex, um den sich doch heute augenscheinlich alles dreht, zwangsläufig auf der Strecke.
Tatsächlich setzt ja schon ein ganz normales Verhältnis zur Arbeit eine gewisse sexuelle Abstinenz voraus: »Der Sexualtrieb«, schreibt Sigmund Freud, »stellt der Kulturarbeit außerordentlich große Kraftmengen zur Verfügung, und dies zwar infolge der bei ihm besonders ausgeprägten Eigentümlichkeit, sein Ziel verschieben zu können, ohne wesentlich an Intensität abzunehmen. Man nennt diese Fähigkeit, das ursprüngliche sexuelle Ziel gegen ein anderes, nicht mehr sexuelles, aber psychisch mit ihm verwandtes, zu vertauschen, die Fähigkeit zur Sublimierung.« Anstatt die sexuelle Spannung unmittelbar abzubauen, muss der Mensch diese Spannung aufrechterhalten und sie in Kulturarbeit verwandeln – und tatsächlich ist nur so die Leidenschaft zu erklären, die viele Menschen für ihre Arbeit empfinden. Allerdings war Freud durchaus skeptisch, ob sich alle sexuelle Energie in Arbeit verschieben lässt und der Mensch für vollkommene sexuelle Enthaltsamkeit tatsächlich geschaffen ist: »Ins Unbegrenzte fortzusetzen ist dieser Verschiebungsprozess aber sicherlich nicht, so wenig wie die Umsetzung der Wärme in mechanische Arbeit bei unseren Maschinen. Ein gewisses Maß direkter sexueller Befriedigung scheint für die allermeisten Organisationen unerlässlich, und die Versagung dieses individuell variablen Maßes straft sich durch Erscheinungen, die wir infolge ihrer Funktionsschädlichkeit und ihres subjektiven Unlustcharakters zum Kranksein rechnen müssen.«
Ein Mensch, der nur noch arbeitet und sich nicht ein Mindestmaß an Entspannung erlaubt, sublimiert nicht mehr, sondern verhält sich neurotisch. Der Workaholic steckt sämtliche Kraft, die er zur Verfügung hat, in seine Arbeit, weil sie für ihn ein Suchtmittel ist wie der Alkohol für den Alkoholiker. Sein Tätigsein hat mit Sublimation nichts mehr zu tun, er verwandelt Lust nicht in Arbeit, was einen Moment der Freiheit voraussetzen würde, sondern sein Verhalten ist exzessiv, triebhaft und selbstzerstörerisch. In seiner Zwanghaftigkeit funktioniert der Workaholic wie eine Maschine, Erschöpfungszustände werden ignoriert, und selbst wenn der Kollaps droht, arbeitet die Maschine immer noch weiter. »Burnout«, schreibt der Psychologe Matthias Burisch, »ist eine langandauernd zu hohe Energieabgabe für zu geringe Wirkung bei ungenügendem Energienachschub – etwa so, wie wenn eine Autobatterie nicht mehr über die Lichtmaschine nachgeladen wird, dennoch aber Höchstleistungen abgeben soll.«
In dieser Hinsicht ähnelt der Workaholic in auffälliger Weise den Lustmaschinen der Pornographie: Auch der pornographische Körper ist ein Hochleistungsarbeiter, der sich keine Pause gönnt, in einer Endlosschleife trägt er zum Bruttosozialprodukt größtmöglicher Lust bei. Und so wie der Pornoarbeiter seine körperliche Endlichkeit dank filmischer Mittel bis zur Absurdität überschreitet, überschreitet auch der Arbeitssüchtige unentwegt seine natürlichen Grenzen, indem er sich durch leistungssteigernde Mittel wie Ritalin oder Modafinil aufputscht. So gesehen ist der Porno durchaus nicht die Umkehrung der heutigen Arbeitswelt, sondern vielmehr deren karikaturistische Engführung: Was er uns zeigt, sind Körper, die immer können und sich, so erschöpft sie auch sein mögen, trotzdem noch auf nachgerade absurde Weise Lust abringen. Dass unsere Gesellschaft ›pornographisiert‹ ist, stimmt insofern durchaus – allerdings nicht, weil wir ein ungezwungenes Verhältnis zum Sex hätten, sondern weil wir uns gerade umgekehrt zwanghaft in der Arbeit verausgaben.
Diese Ich-kann-immer-Logik ist es, durch die sich Pornographie von Erotik unterscheidet. Pornographie ist reine Aktivität. Sie erträgt keine Unterbrechungen, keine Schwäche, keine Stille, was allein zählt, ist Leistung und nicht der einzelne Körper in seiner jeweils höchst individuellen Lust und Unlust. Erotik hingegen lebt von der Begrenztheit der Körper, sie braucht Pausen, Verzögerungen, Passivität, Muße, ja, das Nicht-Können ist sogar der Boden, auf dem das erotische Spiel gedeiht. Nicht inmitten betriebsamer Hyperaktivität, sondern in einer Atmosphäre entspannter, vertrauensvoller Müdigkeit entsteht sexuelle Lust. Müde Körper werden weich, öffnen sich, die Müdigkeit, schreibt Peter Handke, ist ein »Zugänglichwerden«, ist »die Erfüllung des Berührtwerdens und des selber Berührenkönnens«. Und nicht nur für die Öffnung der Körper, auch für ein inspiratives Offensein in der Arbeit ist die »erotische Müdigkeit« (Handke) die Grundvoraussetzung. Ein Mensch, der nie zur Ruhe kommt, produziert das Immergleiche – ganz ähnlich wie die nimmermüden Körper im Porno, die immer wieder von vorne die immergleichen Akte vollführen.
»Hektik bringt nichts Neues hervor«, schreibt Byung-Chul Han. »Sie reproduziert und beschleunigt das bereits Vorhandene. « Schöpferisch tätig und offen für seinen Gegenstand kann nur sein, wer nicht ununterbrochen aktiv ist, sondern spazieren geht, schläft, träumt, phantasiert und sich der Langeweile hingibt. Doch genau das ist uns heute immer weniger gestattet – beziehungsweise wir gestatten es uns selbst nicht. An die Stelle einer innigen, auf Muße und Zeit beruhenden Auseinandersetzung mit einem anderen Körper respektive der Arbeit tritt eine asketische Verwertungslogik, in der es ein produktives Unproduktivsein schlichtweg nicht geben darf. Hier eine Konferenz, da ein Businesslunch, dort eine unaufschiebbare Deadline, abends diverse Sporttermine, alles absolviert in nervöser Dauererregung. Die moderne Askese, so der Kulturwissenschaftler Thomas Macho, ist »eine Komposition aus Arbeitssucht und Aktivismus, Streß und Zeitdruck, Einsamkeit und Depression, eine traurige Mixtur aus Sexismus, Kinderfeindlichkeit und zölibatärer Impotenz.«
Die Hochleistungsgesellschaft unterhält ein affirmatives Verhältnis zur Pornographie, nicht zur Erotik. Ja es liegt sogar der Verdacht nahe, dass sich unsere zwanghaft exhibitionistische Pornokultur vor erotischer Sexualität nachgerade fürchtet. »Je mehr die Gesellschaft als ganze ihre kulturellen Bezüge zur Sexualität verliert, desto drastischer sind die Bilder davon, die auf ihren Bühnen erscheinen«, schreibt Robert Pfaller. »Und zwar mit einer doppelten Funktion: sowohl, um der verbliebenen Sehnsucht Nahrung zu geben, als auch, um von der Sache abzuschrecken und über ihren Verlust hinwegzutrösten.« Sex, so Pfaller, gibt es in unserer Gesellschaft nur noch als Extrem. »Wenn es keine Normalvorbilder des Genusses mehr gibt, dann treten nur noch deren Zerrbilder in Erscheinung. Das Zerrbild des Genusses ist der Süchtige; das Zerrbild der Sexualität ist der Popstar oder der Talkshowgast.« In Doku-Soaps wie Big Brother oder Dschungelcamp geben Menschen ihre intimsten Geheimnisse preis, entblößen sich, kopulieren gar vor der Kamera. In Hip-Hop-Videos kreisen Frauen bis zum Schwindeligwerden mit ihren Hüften, halten ihre Brüste, Hintern, Schenkel in die Kamera, und vor allem im Porno selbst wird uns der Sex bis zur Absurdität verdinglicht präsentiert. Grell leuchten die Scheinwerfer den Koitus aus, Beine werden angewinkelt, damit man die Penetration besser sehen kann – und je drastischer der Geschlechtsakt dargestellt wird, umso mehr sehen wir gebannt zu; ganz ähnlich, wie auch ein exotisches Tier umso faszinierender ist, je näher man ihm kommt und je gefährlicher es sich gebärdet. Vorausgesetzt allerdings, dass es sich hinter Gittern beziehungsweise bruchsicherem Glas befindet. Ohne diese unüberwindbare Grenze würde man schreiend davonlaufen, würde sich fürchten und womöglich auch ekeln. Sobald man sich aber sicher fühlt, verwandelt sich der Ekel in Attraktion, ja, man kann sogar am Gitter rütteln oder gegen das Glas klopfen, um das Tier ein wenig zu reizen, damit es sich aufbäumt und sich in seiner ganzen Widerwärtigkeit zeigt. Genau das geschieht in interaktiver Webcam-Pornographie: Konsumenten sagen Frauen per Telefon, was sie tun sollen vor der Kamera, während sie selbst bequem vor dem PC sitzen und die Bilder, die über den Monitor laufen, auf sich wirken lassen: Komm schon, Kleines, zeig mir deine Muschi! Lass dich gehen! Je wilder, desto geiler! Zumindest, solange sich die Mattscheibe zwischen mir und dir befindet …
Indem unsere Gesellschaft den Sex hinter die Scheibe bannt, schürt sie einerseits die Sehnsucht nach ihm und pathologisiert ihn gleichzeitig. Sie grenzt sich im wahrsten Sinne des Wortes von ihm ab und degradiert »das Tier mit den zwei Rücken«, wie Jago in William Shakespeares Othello den Geschlechtsakt nennt, zu einem erregenden Ausstellungsobjekt, das zwar bestaunt, aber auf keinen Fall angefasst werden darf: Seht her! Ist das nicht animalisch? »Denn der natürliche Gebrauch, den ein Geschlecht von den Geschlechtsorganen des anderen macht«, so schrieb immerhin schon Immanuel Kant in seiner Metaphysik der Sitten, »ist ein Genuß, zu dem sich ein Teil dem anderen hingibt. In diesem Akt macht sich ein Mensch selbst zur Sache, welches dem Rechte der Menschheit an seiner eigenen Person widerstreitet.« Sex, meinte Kant, widerspricht dem Menschsein schlechthin, weil die Koitierenden sich im Dienste ihrer Lust wechselseitig instrumentalisieren. Und in der Tat: Je mehr sich die Lust beim Koitus steigert, desto stärker konzentriert sich der Mensch auf die pochende Mitte seines Körpers beziehungsweise auf das Genital des Anderen, das dieses Pochen erzeugt. Das achtbare Wesen des geliebten Gegenübers tritt dabei genauso zurück wie das Wesen eines Rindes, dessen saftiges Fleisch man gerade verzehrt (insofern man sich das Fleischessen nach Karen Duves Vegetarismus-Aufruf Anständig essen überhaupt noch erlaubt). Und wo, fragt Kant, bleibt da bitte schön der Respekt? Dann doch lieber völlige Entsagung! Asketische Hingabe an die reine Vernunft!
Auch zweihundert Jahre nach Kant scheinen wir die tiefe Ambivalenz der Sexualität, ihr Schillern zwischen Gewalt und Lust, zwischen Verdinglichung und Vereinigung, zwischen schmutzigem Fick und heiligem Eros, offenbar kaum auszuhalten. Dass viele Paare, ob verheiratet oder nicht, keinen Sex haben, hat tatsächlich nicht nur etwas mit Überdruss zu tun, sondern auch mit einem diffus empfundenen Schuldgefühl: Kann ich den Anderen denn lieben, wenn ich mich an ihm und mit ihm verlustiere, wenn ich ihn zu obszönen Handlungen animiere und ihm dreckige Phantasien ins Ohr flüstere? »Ich vermisse nichts, auch nicht jene Form von Sexualität, wie sie zum Beispiel Monica Lewinsky mit Bill Clinton praktiziert hat«, sagt die Wiener Bürgermeister-Ehegattin Dagmar Koller über ihre sexlose Ehe. »Also nein, das machen wir nicht… [H]eute bin ich froh, dass ich eine so zärtliche Liebe leben darf…« Im Zuge der gegenwärtigen Pornographisierungsdebatte wird diese Abspaltung von Liebe und Sex einmal mehr vollzogen: Mit dem Finger zeigt man auf die böse Sexualität, gepriesen hingegen werden Zärtlichkeit, Zuneigung, Respekt – ganz so, als ob beides nicht durchaus zusammenginge. »40 Tage ohne Sex«, so hieß eine Sendung des niederländischen Fernsehens im Jahr 2008. Jugendliche mussten versprechen, vierzig Tage lang zu ›fasten‹, also keinen Geschlechtsverkehr und kein Petting zu haben, nicht zu masturbieren und auch keine Pornos zu konsumieren. Auf diese Weise, so lautete die Rechtfertigung vonseiten des Senders, wolle man der gesellschaftlichen Übersexualisierung entgegenwirken. In Wahrheit aber wurde weniger die Pornographie als vielmehr Sex als solcher an den Pranger gestellt.
Auch im Kino ist der Abgesang auf die Sexualität längst angestimmt worden. Zwar sieht man heute auf der Leinwand in der Tat Geschlechtsteile, aber sogenannte post-pornographische Filme wie Patrice Chéreaus Intimacy, Larry Clarks und Edward Lachmans Ken Park, Catherine Breillats Romance oder Michael Winterbottoms Nine Songs feiern den Sex nicht, sondern dekonstruieren sein ehemaliges Glücksversprechen gründlich, indem sie ihn in seiner ganzen Pockennarbigkeit, seiner kläglichen Alltäglichkeit präsentieren. »Im post-pornographischen Blick ist die Sexualität zerfallen«, meint der Filmtheoretiker Georg Seeßlen. »Die Naheinstellung fetischisiert nicht mehr, sondern dokumentiert die Fremdheit. Der postpornographische Blick ist vor allem ein gespaltener, einer, der sich vor lauter Verzweiflung darüber, dass sich das Objekt der Begierde umso mehr entzieht, je genauer man hinsieht, in seine analytische Strafe verkehrt. Der Blick wird zum Zwang. Ist es also das, was ihr sehen wollt? Dann seht nur noch genauer hin. Und erkennt euch selbst.« Der Post-Porno funktioniert wie ein altes, rissiges Foto, auf dem nur noch schemenhaft der Star von einst zu erkennen ist, und lediglich erahnbar ist die Begeisterung, die er auslöste. In den sechziger Jahren noch versuchte man Revolutionen auf den Sex zu gründen, glaubte, sich durch ihn befreien zu können, und zwar nicht nur von bürgerlichen Idealen, sondern auch von entfremdeter Arbeit: »Die unverklärte, unrationalisierte Freigabe der sexuellen Beziehungen wäre die stärkste Freigabe des Genusses als solchem und die totale Entwertung der Arbeit um der Arbeit willen«, schrieb der Philosoph Herbert Marcuse damals. »Die Spannung zwischen dem Selbstwert der Arbeit und der Freiheit des Genusses könnte innerhalb eines Menschenwesens nicht ertragen werden: die Trostlosigkeit und Ungerechtigkeit der Arbeitsverhältnisse würden eklatant das Bewusstsein der Individuen durchdringen und ihre friedliche Einordnung in das gesellschaftliche System der bürgerlichen Welt unmöglich machen.« Heute hingegen ist der Sex nicht mehr, so scheint es, als eine überkommene Illusion: All die Verwicklungen und Verstrickungen, all die Verletzungen, enttäuschten Hoffnungen und unerfüllten Wünsche, die mit ihm verbunden sind! Wird die Welt wirklich besser, menschlicher, liberaler, wenn jeder mit jedem schläft? Ja, ist der Sex nicht, sobald er zum Heilsversprechen stilisiert wird, im Grunde selbst Arbeit? Eine Art Revoluzzerpflicht? Und überhaupt, so fragen Postmodernisten, Dekonstruktivisten und Postfeministen durchaus zu Recht, was soll ›freier‹ Sex eigentlich sein? Ist heterosexueller Sex frei? Oder homosexueller? Oder sadomasochistischer? Oder Gruppensex? Ist die Perversion etwa frei, nur weil sie sich dem Sittlichen widersetzt? Die Perversion ist genauso unfrei und unnatürlich wie die Sitte selbst, denn das Perverse, das ›Umgekehrte‹, kann es nur vor dem Hintergrund des Sittlichen geben. Eine freie Sexualität, die sich der Arbeit, der Gesellschaft, der Warenakkumulation radikal widersetzen würde, existiert nicht, denn jede noch so abwegige Perversion ist immer schon geprägt, ja sogar überhaupt erst produziert worden von kulturellen Diskursen und Praktiken, die mit der Erfindung der Humanwissenschaften auf den Plan traten. So schreibt der französische Historiker Michel Foucault, eine der Galionsfiguren der Postmoderne: »Das 19. und unser [20., S. F.] Jahrhundert sind eher ein Zeitalter der Vermehrung gewesen: einer Verstreuung der Sexualitäten, einer Verstärkung ihrer verschiedenartigen Formen, einer vielfältigen Einpflanzung von ›Perversionen‹.« Wer also die Sitte umkehrt und sich zwanghaft im ›perversen‹ Sex verausgabt, stützt sie eher, als dass er sie untergräbt.
Die sexuelle Revolution wollte mit der strengen Sexualmoral der Nachkriegszeit endgültig brechen: »Wer zweimal mit der gleichen pennt, gehört schon zum Establishment«, so lautete der bekannte Spontispruch. Weg mit der Ehe, weg mit der patriarchalen Unterdrückung der Lust, weg mit den bürgerlichen Verhältnissen, weg mit dem Kapitalismus! Die Kinder der damaligen Revolutionäre aber scheinen sich heute wieder an genau eben jenen Werten zu orientieren, die ihre Eltern so hart bekämpften: »Im Querschnitt aller seriösen Studien zur Entwicklung der Erotik und Sexualität der letzten Jahre ergibt sich folgendes Bild«, so heißt es in der Trendstudie Sexstyles 2010, die von der Beate Uhse AG in Auftrag gegeben wurde: »Die Sexhäufigkeit hat im letzten Jahrzehnt vor allem in den jungen Altersgruppen eher leicht abgenommen, während das Treuebedürfnis eher wächst. Die Koitus-Frequenz der Studenten ist seit 1981 gesunken, sexuelle Treue steht heute höher im Kurs als in den Jahrzehnten zuvor.« Dass die Jugend von heute – insbesondere die arme, bildungsferne – sexuell verwahrlose, wie in den Medien immer wieder behauptet wird, ist folglich barer Unsinn. Solche Skandalmeldungen dienen dem kulturbeflissenen Mittelschichtler lediglich dazu, sich am angeblich primitiven Pornoproletariat »abzuputzen«, wie Robert Pfaller es formuliert. Tatsächlich zeigen Sexualforscher in ihren Studien immer wieder, dass genau das Gegenteil der Fall ist: Zweimal mit derselben zu pennen ist heute quer durch alle Schichten wieder ›in‹ – womöglich nicht zuletzt aufgrund der familiären Zerrüttungen, die der ›freie‹ Sex in den 1970ern nach sich zog, oder wegen der Angst vor Aids. Vielleicht aber auch, weil heutige Ausbildungsgänge keine Zeit lassen für sexuelle Experimente und das Dazugehören zum Establishment immerhin besser ist, als von Hartz IV zu leben.
Vor einigen Jahrzehnten war es noch recht leicht, sexuell aus- und vom beruflichen Lebensweg abzuschweifen. Schön, so ein halbes Jahr auf Gomera mit Gitarrenmusik, Wasserpfeifen und fernöstlich inspirierter Liebeskunst am Strand, wenn man sicher sein kann, auch in ein paar Monaten noch einen Arbeitsplatz zu bekommen. In unserer heutigen Gesellschaft aber, in der bereits Jugendliche an ihrer Karriere basteln und die immer mehr auf Effizienz setzt, wirkt jede Form von Müßiggang zunehmend anachronistisch, ganz zu schweigen von zeitaufwendiger Erotik. Wie bitte? Vorspiel? Lust um der Lust willen? Da gehe ich doch lieber zum Sport! Der auf Leistung getrimmte Mensch verschleudert seine überschüssigen Energien nicht, sondern investiert sie in Muskeln und gesteigerte Produktivkraft. »Vergeude keine Energie, verwerte sie!«, so forderte der Chemiker und Philosoph Wilhelm Ostwald bereits am Beginn des Industriezeitalters in seinem Energetischen Imperativ, ein Befehl, der heutzutage offenbar mehr gilt denn je. Jedes Jahr gewinnen deutsche Fitnessstudios weit über 600 000 neue Mitglieder hinzu, und in amerikanischen Sportclubs hat sich für die vielen Dauerabonnenten die Bezeichnung permanent residents eingebürgert, weil sie den Trainingsraum praktisch kaum mehr verlassen. »Der Fitnesstrainer ersetzt den Geliebten, Sport ist wichtiger als Sex«, so hieß es in einer Zeitungsmeldung über Madonna, nachdem bekannt geworden war, dass sie jeden Tag vier Stunden in ihrem Fitnessraum verbringe und damit ihre Ehe ruiniert habe. War bis in die achtziger Jahre hinein noch Sex der Garant für Erfüllung, ist es in Zeiten des immer größer werdenden Konkurrenz- und Leistungsdrucks der Sport. Wenn wir genießen wollen, geben wir uns nicht mehr einem anderen Körper, sondern dem Sportgerät hin, geradezu zwanghaft verausgaben wir uns beim Hantelnstemmen, Laufbandjoggen oder Fahrradfahren.
Dass die Koitus-Frequenz sinkt, hat außerdem – wiederum eine Folge der heutigen Arbeitsverhältnisse – mit der Zunahme an Wochenendbeziehungen zu tun. Wie denn miteinander schlafen, wenn der eine in Berlin, die andere in Brüssel wohnt? Experten schätzen, dass jede siebte Beziehung in Deutschland eine Fernbeziehung ist, unter Akademikern ist es jede vierte. Der Trendbericht Sexstyles 2010 zieht daraus das Fazit: »Die Zukunft gehört mehr denn je dem medialen Sex.« Vibratoren, die sich an den iPod anschließen lassen und sich im Rhythmus der Musik bewegen, gibt es schon jetzt; die nächste Dildo-Generation aber ist, dank hoch technisierter »Teledildonik«, interaktiv! »Die Vibratoren 2.0 durchbrechen die Grenze zwischen Virtualität und realem Sex«, schreiben die Beate-Uhse-Zukunftsforscher. »Digitale Sexspielzeuge lassen sich nicht nur ans Multimedia-Equipment anschließen – ›Plugand-Play‹ bekommt da eine ganz neue Bedeutung –, sondern via Internet auch in Echtzeit fernsteuern. Im digitalen Zeitalter wird es so immer besser möglich, sich trotz räumlicher Trennung gegenseitig zu spüren.« Chatten und Skypen war gestern, morgen wird digital gevögelt – wobei allerdings unklar ist, was uns dann mehr erregt: der Sex oder die technischen Möglichkeiten, ihn zu übermitteln? Tatsächlich ist es ja schon jetzt so, dass jener Reiz, der ehemals vom Sexuellen ausging, in einem immer stärkeren Maße von den Medien selbst ausgeübt wird. Ob iPhone oder iPad, immer faszinierter sind wir von den technischen Innovationen, unaufhörlich fummeln wir an ihnen herum, fahren mit dem Finger über Displays, lustvoll, ausdauernd. »Bin ich schon drin?«, fragte Boris Becker Ende der neunziger Jahre unüberhörbar doppeldeutig in einem Werbespot für einen Internetanbieter, und fügte hinzu: »Das ist ja einfach.« Das Internet lässt sich erobern wie eine willige Frau, wollte Boris Becker uns sagen: Nur ein paar unbeholfene Berührungen auf der Benutzeroberfläche, und schon öffnet sich der virtuelle Bildraum für jedermann. Es bedarf keines technischen Vorwissens, keines aufwändigen Einarbeitens, keines lustverzögernden Vorspiels mehr, um in diesen Raum einzudringen.
Dank VDSL ist man heute sogar in Millisekundenschnelle ›drin‹ – und ist da die Verlockung nicht groß, lieber virtuellen Sex zu genießen, als sich den zeitaufwendigen Mühen rituellen Balzens und Beschnupperns und Betastens auszusetzen? Früher, vor der Erfindung des Internets, musste man immerhin noch gewisse Anstrengungen unternehmen, um in die Welt der Cumshots und Blowjobs zu gelangen. Wer Pornos wollte, dem blieb nichts anderes übrig, als den Mantelkragen hochzuschlagen und in einen Sexshop oder einen Pornoverleih zu schlüpfen, immer in der Gefahr, gesehen zu werden. Heute hingegen bedarf es nur noch einiger Klicks, und schon kann man wählen zwischen ›anal‹ und ›amateur‹, ›big titts‹, ›big cocks‹ und ›lesbian‹. Wie anstrengend und zeitaufwendig dagegen ist es, sich mit den Begierden und Wünschen eines Menschen aus Fleisch und Blut auseinanderzusetzen – ja, überhaupt erst einmal einen Partner zu finden! »Fakt ist doch, dass die Leute in einer pornographisierten Gesellschaft weniger Sex haben«, meint Ariadne von Schirach in ihrem Buch Tanz um die Lust. »Warum noch rausgehen, wenn die Erfüllung jedweder Phantasie nur einen Klick weit entfernt ist?« Im Internet ist sexueller Genuss ohne jeden Triebaufschub möglich: Nur einmal auf Enter klicken, und schon sind sie da, die unzähligen Amateurvideos und Werbetrailer mit Titeln wie »Monstercock deep in her ass« oder »Lucky guy fucks four Hotties« oder »Raw but willing to please!«. Klick. Klick. Klick.
Eine solche Art des sexuellen Genießens ist leicht, kinderleicht sogar – befriedigend aber ist sie nicht. Wer zu einem Porno masturbiert, hat kein Gegenüber, das die Lust spiegeln könnte, sondern lediglich einen Film, der nichts abverlangt: weder eine intensive Auseinandersetzung noch Einfühlungsvermögen und schon gar keine Phantasie. Die sexuelle Erregung geschieht vielmehr wie von allein – ganz ähnlich wie der Appetit automatisch angeregt wird, wenn man geschmacksverstärkte Kartoffelchips konsumiert. Man muss sie essen, aber gesättigt fühlt man sich nicht, im Gegenteil: Und schon stopft man die nächste Handvoll in sich hinein. Und noch eine. Und noch eine. Und wenn man dann doch irgendwann aufhört, ist man nicht befriedigt, sondern frustriert.
Ganz ähnlich empfindet übrigens, um von hier aus noch einmal auf die Arbeit zu sprechen zu kommen, der ermattete Workaholic am Ende eines Tages. Was für den Pornokonsumenten ein erigierter Schwanz oder eine feuchte Möse ist, stellt für ihn der Arbeitsauftrag oder das Arbeitsangebot dar. Sofort nimmt er alles an, gibt der Versuchung zwanghaft nach, ohne dass sich das mit diesen Reizen verbundene Glücksversprechen je einlöste.
Nehmen wir zum Schluss einmal an, Freud hätte recht mit seiner Spekulation und in ferner, ferner Zukunft lebten wir tatsächlich in einer Gesellschaft oder gar in einer Welt, in der nur noch gearbeitet, verwertet, produziert und nicht mehr sexuell verschwendet wird. Muss diese Gesellschaft, muss diese Welt nicht früher oder später an ihrem eigenen Wachstum kollabieren? So wie die Workaholic-Lustmaschine an ihrem unausgesetzten Aktivismus? Und was hält die Menschen, wenn sie keinen Sex mehr haben, noch zusammen? Was verbindet sie mehr als erotische Anziehung? Was macht sie vertrauter miteinander als körperliche Hingabe? Und wo ließen sich all die Aggressionen, die das Leben in Gemeinschaft mit sich bringt, wo ließen sich Gier, Wollust, Neid und brennende Eifersucht sozialverträglicher und gleichzeitig leidenschaftlicher ausagieren als im sexuellen Akt?
Eine Welt ohne Sex wäre bevölkert von versprengten Individuen, die sich längst nicht mehr nur vor Exkrementen und Schmutz, sondern in immer stärkerem Maße auch vor Hautkontakten ekeln. Ein hochneurotischer, sozialphobischer Einzelgänger wäre der Mensch der Zukunft, unzugänglich, einsam, zwanghaft, nur noch für sich selbst genießend in eigentümlichen Zeremonien. Gewiss, noch ist diese Zukunft weit entfernt, und womöglich wird sie auch nie eintreten; vielleicht aber hat sie auch schon begonnen, und wir haben es nur noch nicht gemerkt?