Odysseus in der Sauna

Wie aus der Wollust die Wohllust wurde

Ein Mann auf hoher See, aufrecht steht er am Mast, starr, unbeweglich. Unter ihm sitzt, auf harten Bänken und mit verstopften Ohren, sein ruderndes Gefolge. Der Mann ist gefesselt. Auf sein Geheiß hin haben ihn die Ruderer mit starken Seilen an den Mast geschnürt. Doch plötzlich windet er sich, schreit, bittet, man möge ihn befreien! Die tauben Gefährten sehen seinen weit aufgerissenen Mund, seine verzweifelten Augen, doch anstatt seinem Flehen nachzugeben, schlingen sie die Seile nur noch fester um seinen Leib. Der Mann daraufhin reckt, so weit es ihm möglich ist, Kopf und Oberkörper nach vorne, er bemerkt die schneidenden Fesseln nicht, sondern hört nur den süßen Gesang zweier vogelähnlicher Frauen, die, umringt von Gebeinen und getrockneter Haut, auf einem begrünten Eiland sitzen:

 

»Hierher, Odysseus, Ruhm aller Welt, du Stolz der Achaier!
Treibe dein Schiff ans Land, denn du musst unsere Stimmen
erst hören!
Keiner noch fuhr hier vorbei auf dunklen Schiffen, bevor er
Stimmen aus unserem Munde vernommen, die süß sind wie Honig.«

 

Doch Odysseus, so der Name des Mannes, lenkt sein Schiff nicht an Land. Dank einer Warnung der Göttin Kirke wusste er rechtzeitig, dass die Sirenen ihn locken würden; und auch wusste er, dass er, wenn er ihrem Lockruf nachgäbe, sterben würde wie all die anderen Seeleute, auf deren Knochen die todbringenden Wesen sitzen. Und so folgt er Kirkes klugem Rat, den Gefährten mit Wachs die Ohren zu verstopfen und sich anschließend von ihnen an den Mast binden zu lassen – zumal ihm auf diese Weise die bezaubernden Lieder der Sirenen durchaus nicht entgehen. Nur die Ruderer werden ihres Gehörs beraubt, damit sie taub sind für die Verführungskraft der Sirenen und ihren Herrn kühlen Kopfes vor sich selbst schützen können; Odysseus dagegen kann den Gesang genießen, ohne sich von ihm auf tödliche Weise hinreißen zu lassen.

Odysseus, wie er am Mast steht, gefesselt, entsagend und doch genießend – er ist Sinnbild für einen Genuss, der sich durch strengste Selbstkontrolle und rationalen Verzicht auszeichnet. Odysseus überlässt sich nicht kopflos dem tödlichen Zauber des Sirenengesangs, sondern er bewahrt gesunden Abstand zum Objekt des Begehrens und damit die absolute Herrschaft über sich selbst. »Der gefesselt Hörende«, schreiben die Philosophen Max Horkheimer und Theodor Adorno in ihrer Dialektik der Aufklärung, »will zu den Sirenen wie irgendein anderer. Nur eben hat er Veranstaltung getroffen, daß er als Verfallener ihnen nicht verfällt.«

Indem Odysseus seine Triebe im wahrsten Sinne des Wortes zügelt und sich damit als stabiles, über jede Verführbarkeit erhabenes Selbstbewusstsein behaupten kann, nimmt er vorweg, was wir im 21. Jahrhundert längst bis ins Letzte perfektioniert haben: nämlich einen vernünftigen, gesundheitsbewussten Genuss, der an die Stelle des genussvollen, ekstatischen Selbstverlusts umgekehrt die Erhaltung und Instandsetzung des Selbst setzt. Im Wohlfühlgenuss wollen wir uns nicht verlieren, sondern wir wollen uns wiederfinden, wir wollen unsere Grenzen nicht auflösen, sondern diese durch eine noch reinere Haut, einen noch strafferen Po und eine noch größere Zurückhaltung beim Trinken und Essen umso präziser markieren. »Das Buffet, das wir kaum noch anrühren, der verschmähte Rest auf dem Teller, das Rumoren eines nicht ganz gefüllten Magens – das sind zweifellos zivilisatorische Errungenschaften«, stellt der Publizist Tobias Kniebe im Frühjahr 2008 im Magazin der Süddeutschen Zeitung fest. Eine zivilisatorische Errungenschaft sind diese Formen der Wohlstandsaskese insofern, als sie von einem hohen Maß an Kultiviertheit und Selbstbeherrschung zeugen. Der Wohlstandsasket schnallt den Gürtel nicht enger, weil er muss, sondern weil er sich gefällt in der freiwilligen Geste der Entsagung. Den Trieb unter Kontrolle zu haben bedeutet Autonomie nicht nur gegenüber den eigenen dunklen Mächten, sondern auch gegenüber der Überflussgesellschaft, die uns ein Gratishäppchen nach dem anderen feilbietet. Der Berliner Kulturwissenschaftler Thomas Macho schreibt: »Wer mit permanenter Fülle konfrontiert wird, sehnt sich nach Leere: nach einer Erlösung vom Zwang, alle Genussangebote akzeptieren zu müssen. Wer unaufhaltsam versorgt wird, beginnt nach Entzug zu streben. Daher ist es keineswegs verwunderlich, daß sich – gewissermaßen als Reaktion auf stets besetzte Supermarktregale – ein Typus alternativer Sinnstiftung etabliert hat: etwa in Gestalt pseudoasketischer Lebensweisheiten, die Verzicht und Enthaltsamkeit predigen. Jedem zeitgenössischen Kochrezept korrespondiert ein Diätvorschlag; jeder Metzgerei ein Reformhaus; jeder Werbung für ein neues Nahrungsmittel ein Medikament gegen ›Völlegefühle‹ oder Gastritis.«

Während weltweit Millionen von Menschen hungern und ums nackte Überleben kämpfen, haben wir das Luxusproblem ständiger Nahrungsmittelüberverfügbarkeit, die den Verzicht notwendig und durchaus auch attraktiv macht. Wer einen letzten Rest auf dem Teller lässt, wer lieber weniger als mehr isst, zeigt damit seine Souveränität, seine Selbstbestimmtheit, seine Diszipliniertheit und nicht zuletzt auch seine Schichtzugehörigkeit an. Mit den All-you-can-eat-Essern, denen der Spätkapitalismus durch Flatrate-Angebote unaufhörlich das Maul stopft, hat der gesundheitsbewusste Wellness-Genießer nichts zu tun. Gierig sind die anderen, die aus den unteren Lagen der Gesellschaft, die Colatrinker, Pornogucker und Fastfood-Konsumierer. Und um sich von ihnen abzugrenzen, übt der gehobene Mittelschichtler sich in vornehmer Entsagung. Dass allerdings ein solches Verhalten zugleich auch seelische Verarmung bedeutet oder zumindest bedeuten kann, daran lassen die Philosophen Horkheimer und Adorno keinen Zweifel. Odysseus, so schreiben sie, stellt ein Selbst vor, »das immerzu sich bezwingt und darüber sein Leben versäumt […] Er […] kann nie das Ganze haben, er muß immer warten können, Geduld haben, verzichten, er darf nicht vom Lotos essen und nicht von den Rindern des heiligen Hyperion«.

Doch greifen wir nicht vor. Denn zunächst einmal ist nicht von der Hand zu weisen, dass Genuss in gewisser Hinsicht durchaus die Fähigkeit zur Entsagung und Selbstkontrolle voraussetzt. Hätte Odysseus sich nicht an den Mast binden lassen, er wäre verloren gewesen. Der lebensgefährlichen Versuchung standhalten konnte er nur, indem er seinen Leib bezähmte. In der Tat ist unkontrollierter Genuss gefährlich nah an der Sucht, weshalb es unter Umständen sogar lebensnotwendig ist, auf manche Annehmlichkeit zu verzichten – so verlockend sie auch erscheinen mag. Wir entscheiden uns, das wusste bereits der antike Philosoph Epikur, »nicht schlichtweg für jede Lust, sondern es gibt Fälle, wo wir auf viele Annehmlichkeiten verzichten, sofern sich weiterhin aus ihnen ein Übermaß von Unannehmlichkeiten ergibt«.

Darüber hinaus ist der Ungezügelte unfähig, das Objekt seines Begehrens in seiner ganzen Schönheit zu erkennen. Man denke nur an den überhasteten Geschlechtsakt, bei dem sich Liebende im Grunde keines Blickes würdigen. Nur wenn der Genießer seine Triebhaftigkeit überwindet, verwandelt sich das Objekt seines Begehrens von einem natürlichen Ding, das lediglich Bedürfnisse befriedigt, zu einem bewunderungswürdigen Kunstwerk. Der Genießer hat es sorgsam arrangiert und zunächst in all seinen feinen Einzelheiten betrachtet, bevor er es sich langsam, nach Manier eines Connaisseurs, einverleibt. Wer genießen will, muss sich Zeit nehmen, um eine gewisse Atmosphäre zu schaffen, er muss eine Situation zu inszenieren wissen, in der das begehrte Objekt – sei es ein Teller Pasta oder ein anderer Körper – seinen ganzen Reiz entfalten kann. »Die Verwandlung in ein Artefakt, die Metamorphose in ein Kunstwerk, ist es, was … eine Intensität entstehen läßt, die sich nicht der Natur, sondern allein kunstvoller Inszenierung und Dramatisierung verdankt«, scheibt Nikolaus Lagier in seinem Buch Die Kunst des Begehrens. Homers Odysseus verhält sich in dieser Hinsicht geradezu vorbildlich. Anstatt sich den Sirenen einfach hinzugeben, dramatisiert er die Begegnung mit ihnen und hält, damit einhergehend, einen ehrerbietenden Abstand ein. Insofern ist Odysseus tatsächlich der kultivierte Genießer par excellence, ja, der gefesselte Held gemahnt gar an einen Konzertgänger, der den Sopranistinnen auf der Bühne gern nah sein würde, aber, da er die Grenze nicht überschreiten darf, wie gebannt auf seinem Platz verbleibt und genau dadurch Intensität, Spannung entstehen lässt. »Der Gefesselte«, so Max Horkheimer und Theodor Adorno, »wohnt einem Konzert bei, reglos lauschend wie später die Konzertbesucher, und sein begeisterter Ruf nach Befreiung verhallt schon als Applaus.«

Genuss setzt also Inszenierung, Dramatisierung und damit einhergehend einen gewissen Abstand zum begehrten Objekt voraus, was wiederum bedeutet, dass der Genießer zu Triebaufschub, Selbstkontrolle und Enthaltsamkeit fähig sein muss. Doch es besteht die Gefahr, dass der Genießer die Inszenierung und Dramatisierung überkultiviert und auf diese Weise, so paradox es klingen mag, pervertiert. Der Genießer will genießen, aber ist doch nur damit beschäftigt, die perfekten Voraussetzungen dafür zu schaffen! Geradezu zwanghaft hält er sich mit bestimmten Ritualen auf, die immer gleich zu sein haben und höchsten Standards genügen müssen. Gerade im Urlaub, der schwer verdienten Auszeit, reicht nicht ausnahmsweise mal ein Eintopf oder eine Wurst mit Pommes im Stehen. Unermüdlich sucht er das perfekte Restaurant, um dann spätnachts übelgelaunt und hungrig ins Hotel zurückzukehren, von dem er sich auch mehr versprochen hatte. Ja, selbst wenn ihn die Wurst mit Pommes im Grunde sogar reizt und er, nach einem Tag am Meer, Heißhunger auf Salziges verspürt, kann er sich nicht zum Verzehr entschließen. Stattdessen umkreist er die verheißungsvolle Wurst wie ein Zwangsneurotiker das verbotene Objekt und verliert sich in Ersatzhandlungen.

Der kultivierte Genießer erhebt den kontrollierten Genuss zum Kult. Diesem Kult wird alles geopfert, die Spontaneität, die Gier, die Lust, ja, sogar der Genuss selbst: Im Vordergrund steht nicht mehr das Genießen, sondern das rigide Maßhalten. Kein Schluck Wein, der vom asketischen Kult-Genießer nicht auf seine Spätwirkungen hin bedacht würde. Und bei der Frage, ob er noch einmal nachnehme vom Hirschragout, hebt er abwehrend die Hand, als habe man ihn mit dieser Frage regelrecht bedroht. Gewiss, der Körper dankt es uns, wenn wir nicht spätabends oder gar nachts noch schwer essen und das Ganze womöglich noch mit einer Flasche Rotwein herunterspülen. Doch, so wusste Walter Benjamin: Wer immer nur maßhält mit allem, kommt nie zu wahrer Welterfahrung – denn ein tiefes Eintauchen in das Wesen der Dinge ist allein, schreibt der Philosoph, dem Gierigen vorbehalten: »Der hat noch niemals eine Speise erfahren, nie eine Speise durchgemacht, der immer Maß mit ihr hielt. So lernt man allenfalls den Genuß an ihr, nie aber die Gier nach ihr kennen, den Abweg von der ebenen Straße des Appetits, der in den Urwald des Fraßes führt. Im Fraße nämlich kommen die beiden zusammen: die Maßlosigkeit des Verlangens und die Gleichförmigkeit dessen, woran es sich stillt. Fressen, das meint vor allem: Eines, mit Stumpf und Stil. Kein Zweifel, daß es tiefer ins Vertilgte hineingelangt als der Genuß. So wenn man in die Mortadella hineinbeißt wie in ein Brot, in die Melone sich hineinwühlt wie in ein Kissen, Kaviar aus knisterndem Papier schleckt und über einer Kugel von Edamer Käse alles, was sonst auf Erden essbar ist, einfach vergißt.«

Was tun Babys, sobald sie greifen, sobald sie begreifen können? Sie stecken sich alles, was in ihre Reichweite kommt, in den Mund und lutschen, schmecken, schlecken, um die Welt zu erkunden. Doch je besser erzogen wir sind und je gediegener das Ambiente ist, desto mehr ist Zurückhaltung gefordert – ja, man wird im schlimmsten Fall noch nicht einmal satt. So scheint es in manchem Restaurant gar nicht darum zu gehen, seinen Hunger zu stillen, sondern sich an dem kunstvollen Arrangement winziger Essenspartikel auf einem viel zu großen Teller zu ergötzen. Das Essen dient nicht primär der Nahrungsaufnahme als vielmehr der Schaulust, ja, der Genuss des Essens degeneriert gewissermaßen zum pornographischen Akt. Wie beim Konsum eines Pornos hält der Genießer das Objekt des Begehrens so sehr auf Abstand, dass er nicht mehr es selbst, sondern nur noch sein Abbild genießt. Es handelt sich um eine Entfremdung, ja beinahe um eine Abscheu vor dem, um das es doch eigentlich geht, nämlich um das Essen selbst. So wie der Pornokonsument den Geschlechtsakt nur im Bild, das heißt geruchlos und unberührbar hinter Glas erträgt, scheint auch der Nouvelle-Cuisine-Genießer vor der Taktilität, dem Geruch, der verführerischen Macht des Essens zurückzuschrecken, und deshalb lässt er sein Verlangen erst gar nicht so weit kommen. Ähnliches gilt auch für die mittlerweile vielfach adaptierte, längst zur Mode gewordene Molekularküche des katalanischen Starkochs Ferran Adrià. In höchst aufwendigen Verfahren verändert Adrià die Struktur des Essens und vergrößert durch die Technik des Aufschäumens dessen Oberfläche, wodurch sich der Geschmack intensiviert. Der Berliner Kunstkoch Jochen Fey sagt über dessen Schaumküche: »Bei Ferran Adrià handelt es sich wie damals bei der ›Nouvelle Cuisine‹ um eine Küche für Menschen, die satt sind, und das Essen wird im besten Falle zu einem Geschmackserlebnis ohne Ernährung und Sättigung. Darüber hinaus wird die Taktilität der Speisen und Substanzen vernichtet und/oder verändert, dadurch entfällt ihre Lesbarkeit, die Erinnerung und auch die Assoziationsbildung […] Das schon heute weiter verbreitete […] Aufschäumen von z. B. Gemüsen verschafft den unterschiedlichsten Ingredienzien eine gleiche Taktilität im Mund. Ja, die Vergrößerung der Oberfläche durch das Aufschäumen ermöglicht eine Geschmacksintensivierung. Dieser Vorteil wird aber durch den Verlust der ureigenen Taktilität der Substanz wieder zunichte gemacht.«

Um des Geschmacks willen löffelt der Genießer das Gänsebein also wie einen Brei, der die Ursprungsgestalt des Zugerichteten nicht mehr erahnen lässt. Wo aber, fragt Fey, bleibt da die Erinnerung? Um jene viel zitierte Passage aus Prousts berühmtem Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit einmal mehr zu bemühen: Wäre Prousts Hauptfigur Marcel im Strudel seiner Erinnerungen versunken, wenn er statt des Madeleine- Gebäcks einen Löffel Madeleine-Schaum gegessen hätte? Wohl kaum, denn er hätte die Madeleine noch nicht einmal in den Tee tunken können! Als Schaum verliert das Ding seine Geschichte, seinen Körper und seine Bedrohlichkeit. Er bleibt nicht im Halse stecken, birgt keine von außen unsichtbaren Knochen, Knorpel, Sehnen in sich, sondern stellt vielmehr eine transparente, ungefährliche Oberfläche dar. Auf diese Weise bekommt der Genuss etwas Unwirkliches, Künstliches, ja beinahe Virtuelles, scheint er doch mit dem ursprünglichen Ding nicht mehr viel zu tun zu haben.

Aber, so könnte man an dieser Stelle einwenden: Ist Künstlichkeit an sich unbedingt von Nachteil? Gut, dem Schaumpilz fehlt die Taktilität eines echten Pilzes, aber was wäre, wenn man einen Kunstpilz herstellen könnte, der aussieht und sich anfühlt wie ein Wald-und-Wiesen-Pilz und so intensiv schmeckt wie ein Schaumpilz? Wäre der Genuss eines solchen Super-Pilzes, Künstlichkeit hin oder her, nicht schlichtweg unübertrefflich? Warum schimpfen wir immer so auf das Virtuelle, das Künstliche, die Simulation? Ist die Simulation im Hinblick auf den Genuss nicht letzten Endes mindestens ebenso gut wie die Wirklichkeit, ja im Grunde sogar besser? Was empfinden wir intensiver: den Anblick eines küssenden Paares auf der Straße oder den Anblick eines küssenden Paares im Kino? Und, um noch eine Lanze für den simulierten Genuss zu brechen: Der simulierte Genuss ermöglicht nicht nur höchsten Genuss, sondern höchsten Genuss ganz ohne Gefahr! Wäre es für Odysseus nicht das Lustvollste gewesen, wenn er den Sirenen, anstatt auf dem Meer, im Kinosessel mit Dolby-Surround-System gelauscht hätte, ohne störendes Rauschen und so dicht dran am Geschehen, als wäre er doch an Land gegangen? Höchster Genuss, ja, sogar Ekstase ohne Risiko, das ist es, was simulierter Genuss im Gegensatz zu echtem leistet – und natürlich werden die entsprechenden Produkte längst angeboten. »Auf dem heutigen Markt«, so der Philosoph Slavoj Žižek, »finden wir eine ganze Reihe von Produkten, die ihrer schädlichen Eigenschaften beraubt sind: Kaffee ohne Koffein, Sahne ohne Fett, Bier ohne Alkohol und so weiter. Und was ist mit virtuellem Sex als Sex ohne Sex?… Die virtuelle Realität verallgemeinert einfach dieses Verfahren, ein Produkt anzubieten, das seiner Substanz beraubt ist: Sie stellt die Realität selbst ohne ihre Substanz zur Verfügung, ohne ihren harten Kern des Realen – so wie entkoffeinierter Kaffee wie echter Kaffee duftet und schmeckt, ohne das echte Ding zu sein, wird die virtuelle Realität als Realität erfahren, ohne wie sie zu sein. Alles ist erlaubt, man kann alles genießen – unter der Bedingung, daß es seiner Substanz beraubt ist, die es gefährlich macht.«

Der Genuss ohne Sünde hat keine Kalorien, er ist ungezuckert, beinhaltet kein Fett, keinen Alkohol, kein Koffein und verursacht außerdem keinen Tripper und keine Verlassensängste. Gut, man kann von Zuckerersatzstoffen und auch virtuellem Sex abhängig werden – aber ist das nicht immer noch besser als Verfettung, Liebeskummer oder gar eine Geschlechtskrankheit? Der Genießer, der nicht sündigt, macht sich nicht schuldig, er ist immer auf der richtigen Seite, auf der Seite seines Körpers, auf der Seite der Gesellschaft und, vor allem, auf der Seite der Vernunft. Doch handelt es sich überhaupt noch um Genuss, wenn er gesund, gesellschaftskonform und vernünftig ist? Horkheimer und Adorno schreiben: »Denken entstand im Zuge der Befreiung aus der furchtbaren Natur, die am Schluß ganz unterjocht wird. Der Genuss ist gleichsam ihre Rache. In ihm entledigen die Menschen sich des Denkens, entrinnen der Zivilisation. In den ältesten Gesellschaften war solche Rückkehr als gemeinsame in den Festen vorgesehen. Die primitiven Orgien sind der kollektive Ursprung des Genusses … Man gibt sich den verklärten Mächten des Ursprungs hin … Erst mit zunehmender Zivilisation und Aufklärung macht das erstarkte Selbst und die gesicherte Herrschaft das Fest zur bloßen Farce. Die Herrschenden führen den Genuß als rationalen ein, als Zoll an die nicht ganz gebändigte Natur, sie suchen ihn für sich selbst zu entgiften zugleich und zu erhalten in der höheren Kultur; den Beherrschten gegenüber zu dosieren, wo er nicht ganz entzogen werden kann. Der Genuß wird zum Gegenstand der Manipulation, solange bis er endlich ganz in den primitiven Veranstaltungen untergeht. Die Entwicklung verläuft vom primitiven Fest bis zu den Ferien.«

Der Inbegriff jenes erstarkten Selbst, das den rauschhaften Genuss entzaubert und als rationalen einführt, ist für Horkheimer und Adorno Homers Odysseus. Der Genuss des Sirenengesangs bedroht den Seefahrer und seine Weiterfahrt so wenig wie eine Cola light den Cholesterinspiegel, zwei Wochen Sommerurlaub das Bruttosozialprodukt oder in Maßen genossener Biowein aus ökologisch kontrolliertem Anbau die Leber. Aber apropos Bio: Gerade am gegenwärtigen Ökowahn zeigt sich, wie leicht ein vermeintlich rationales Genießen in ein zutiefst irrationales umkippen kann. Tatsächlich erfüllt so mancher gesundheitsbewusste Bioeinkäufer in seiner Gewissenhaftigkeit, was die Auswahl der für ihn erlaubten Speisen angeht, die Kriterien einer vergleichsweise jungen Essstörung namens Orthorexia Nervosa, die erstmals Ende der neunziger Jahre beschrieben wurde, als Bioläden wie Pilze aus dem Boden schossen. »Kennzeichnend für diese Essstörung ist, dass sich die Betroffenen in krankhafter Weise ›gesund essen‹«, so die Volkskundlerin Alexandra Deak. »Bei der Nahrungsaufnahme werden nicht nur Kalorien gezählt, sondern penibelst Inhaltsstoffe, Nährwerte, Vitamin- und Mineralgehalte überprüft. Auf diese Berechnungen werden häufig mehrere Stunden verwendet. Die Auswahl der ›erlaubten‹ Lebensmittel wird zunehmend geringer. Betroffen sind meist junge Frauen, die eine wachsende und teilweise enorme Angst vor ungesunden Lebensmitteln, z. B. Süßigkeiten, Fast Food oder Fertigprodukten, haben. Besonders häufig sind Orthorektiker in ökologischen Naturkostkreisen anzutreffen. Den Speiseplan dominieren frisches Obst und Gemüse. Die Krankheit setzt überwiegend schleichend ein, in späteren Phasen kommt es oftmals zu Missionierungsversuchen gegenüber Familienmitgliedern, Freunden und Kollegen am Arbeitsplatz, was zu einer sozialen Isolation der Betroffenen beitragen kann.«

Mittlerweile hat sich die Missionierung zumindest in den mittleren und oberen Gesellschaftslagen weitgehend erübrigt. »Dinkel macht glücklich«, lauten die Werbesprüche auf Wochenmärkten in gehobenen Stadtvierteln. Mütter sitzen mit ihren naturwollepullovrigen Kindern an Holztischen, es gibt Dinkelbrötchen, Dinkelwaffeln, Dinkelkekse und natürlich auch Dinkelkuchen. Dinkel ist gesund, keine Frage. Aber schmeckt er auch? Diese Frage stellt sich die gesundheitsbewusste Genießerin nicht und beißt stattdessen entschlossen in die Dinkelerdbeerschnitte, ein Kuchen, der den Namen Sandkuchen endlich einmal verdient hätte, denn er ist so trocken wie die Sahara und lässt sich nur mit einer Tasse Yogi-Tee herunterbekommen, die praktischerweise am selben Stand verkauft wird.

Doch noch viel schlimmer ist, dass gesundheitsbewusste Genießer bisweilen vereinsamen, ohne es zu merken. Schweigend drehen sie im Park ihre Runden, stumm schwitzen sie in der Sauna, und Feste verlassen sie natürlich immer sehr früh. Ja, es besteht sogar die Gefahr, dass ein rationaler Genussmensch aus der Endlosschleife asketischer Selbstkontrolle überhaupt nicht mehr herauskommt und sich auf nachgerade tödliche Weise um sich selbst dreht. Was Letzteres genau heißt, lässt sich am eindrücklichsten wiederum an Odysseus zeigen, den wir am Ende dieser Überlegungen zur Abwechslung einmal in die Gegenwart holen wollen. Würde Homers Held heute leben, er ginge vermutlich ins Wellness-Center, wo das rationale Genießen vorerst seinen Höhe- oder auch Tiefpunkt erreicht hat. Der Wellness-Genuss ist per definitionem Erholungsgenuss, ein Genesungs-Genuss, der den Produktionsapparat nicht nur unbeschädigt lässt wie ein alkoholfreies Bier. Nein, der Genesungs-Genuss – im Übrigen zwei Begriffe, die begriffsgeschichtlich in einem Zusammenhang stehen – der Genesungs-Genuss also stützt den Produktionsapparat sogar, indem er Gesundheitsvorsorge betreibt und selbst Einläufe und Fastenkuren als Vergnügen deklariert.

Im Wellness-Center also setzt sich Odysseus gemeinsam mit anderen von der Arbeit Geplagten auf die harten Holzbänke einer finnischen Sauna, lässt sich danach massieren und, abseits des Trubels, den durch schwer verdauliche Schiffskost arg strapazierten Darm durchspülen. Anschließend legt er sich in heißes Totes-Meer-Salzwasser, was ihn als Seefahrer zwar ein wenig langweilt, aber gut für die Haut sein soll. Dass er den Genuss auf diese Weise selbst zur Arbeit werden lässt, merkt Odysseus nicht – denn er ist, im heißen Salzwasser liegend, gerade mit etwas anderem beschäftigt. Er horcht. Horcht angestrengt in sich hinein. Horcht, ob sich seine Gedärme regen, ob sich irgendeine Auffälligkeit vernehmen lässt, die auf eine Krankheit hindeuten könnte. Eine Krankheit, die womöglich so gefährlich ist wie der Gesang todeslüsterner Vogelfrauen, die nur auf den Kontrollverlust ihrer Zuhörer warten … Und da, tatsächlich, ein seltsames Pfeifen, kommt es aus seinen Lungen? Hören Sie das nicht?, fragt Odysseus die Angestellte, die ihm gerade aus dem Wasser helfen will, dieses helle Pfeifen! Ganz nah tritt sie an ihn heran, doch anstatt ihren Kopf auf seine Brust zu legen, wickelt sie Odysseus fest in ein angewärmtes Handtuch. Verzweifelt blickt Odysseus in ihr Gesicht, sagt noch einmal: Hören Sie es denn nicht?, doch die Angestellte lächelt nur freundlich, und als sie sich, ihn noch fester ins Tuch schlingend, kurz zur Seite dreht, sieht er in ihrem Ohr einen kleinen Pfropfen aus Bienenwachs.