40.

Leon konnte nichts sehen, bekam keine Luft mehr, der Schmerz hatte einen neuen Höhepunkt erreicht, und dennoch erwartete er, dass die Qualen gleich viel schlimmer werden würden, sobald von Boyten neben ihm sich wieder aufgerappelt hatte.

Momentan begnügte er sich mit heftigen Tritten in den Unterleib.

Mit einer Hand schützte Leon seine Genitalien, die andere hielt er abwehrend vors Gesicht und wunderte sich, dass Siegfrieds Tritte so ungezielt waren.

Er versuchte, die Augen zu öffnen. Die Welt dahinter war verschwommen und glasig, kein Wunder, nach der Gehirnerschütterung durch den Aufprall.

Worauf wartet er?

Von Boyten schrie etwas, was Leon nicht verstehen konnte, weil der Pfeifton in seinem Kopf auf die Lautstärke eines explodierenden Teekessels angeschwollen war. Er versuchte sich abzustützen, und seine Hände griffen in eine Lache, von der er hoffte, dass es kein Blut war.

Siegfrieds Tritte wurden unterdessen schneller, aber auch schwächer. Seine Rufe lauter.

Was hat er vor? Will er, dass ich ihm beim Sterben in die Augen sehe?

Leons Sehvermögen hatte sich geringfügig verbessert, und als er einen weiteren Versuch unternahm, die Augen zu öffnen, erkannte er zumindest die Umrisse von Siegfrieds Körper, der unmittelbar neben ihm lag, als wären sie ein Liebespaar, in Seitenlage, die Gesichter einander zugewandt.

Leon blinzelte, aber das Gefühl, den Killer durch eine Fensterscheibe hindurch zu betrachten, wollte nicht verschwinden. Weil es nicht verschwinden konnte.

Genauso wenig, wie von Boyten aufhören konnte, wild um sich zu treten und unverständliche Laute von sich zu geben.

Im Gegensatz zu Leon hatte er sich beim Fallen mit den Händen zu schützen versucht, aber Skalare, Natalies Lieblingsfische, brauchen hohe Aquarienwände, und Siegfrieds Arme waren nicht lang genug gewesen, um verhindern zu können, dass sich ein noch aufrecht stehender Splitter der Vorderwand durch seine Kehle bohrte, als er in die Überreste des Aquariums gestürzt war.

Aber er lebt noch. Das Schwein lebt noch.

Leon rappelte sich auf die Knie und sah die Eintrittswunde.

Dickes Blut sickerte aus der Kehle des unkontrolliert zuckenden Mörders.

»Hah!« Leon lockerte den Strick um seinen Hals und sog gurgelnd die Luft in die Lungen.

Laut. Verzweifelt. Hysterisch.

Er packte den sterbenden Siegfried von Boyten mit beiden Händen am Schopf und brüllte den Namen seiner ermordeten Frau. Wieder und wieder, und als ihm die Stimme versagte, schmetterte er den Kopf zurück auf die Scherben, spießte Siegfried von Boyten noch tiefer auf.

Er wartete, bis das Zucken aufgehört hatte und die Augen brachen.

Dann stand er auf. Trat mit nackten Füßen in die Glasscherben.

Blutige Fußspuren zeichneten seinen Weg über den Flur ins Treppenhaus, die Stufen hinab. Es war zu spät. Feierabend. Kein Arbeiter mehr zu hören.

»Hilfe!«, schrie er. Im Wechsel mit Natalies Namen. Er klingelte an jeder Haustür, wartete aber nicht, ob ihm jemand öffnete, sondern taumelte zum Ausgang auf die Straße hinaus.

Schnee wehte ihm ins Gesicht.

Ein Pärchen schrak vor ihm zurück, Passanten glotzten ihm hinterher, während er nackt und blutverschmiert durch die Kälte rannte und weiter um Hilfe schrie.

Vor einem Supermarkt an der Ecke brach er zusammen.

Niemand sprach ihn an. Keiner wollte dem offensichtlich geistesgestörten Menschen zu nahe kommen, aber Leon sah, wie sich eine Traube von Schaulustigen um ihn bildete. Viele hatten ihr Handy gezogen.

»Sie ist noch unten«, hörte Leon sich schreien.

Schnell. Ich muss es ihnen sagen, bevor ich keine Kraft mehr habe.

»Beeilen Sie sich. Er erfriert«, hörte er eine Frau rufen. Autos hupten. Jugendliche lachten und machten Fotos.

»Natalie ist unten. Im Labyrinth.«

Sie müssen sie suchen. Vielleicht ist sie noch zu retten.

Leon zitterte, als hätte er eine Starkstromleitung berührt, und spürte mit einem Mal eine Decke auf sich liegen. Jemand fragte ihn nach seinem Namen, aber das war unwichtig, also sagte er nur: »Schieben Sie den Schrank zur Seite, und gehen Sie ins Labyrinth. Sie finden Natalie hinter der Geheimtür.«

»Ja, das werden wir. Aber jetzt müssen Sie erst einmal mitkommen.«

Autotüren schlugen, auf einmal flackerte alles um ihn herum in Blau und Weiß, und der Mann, der eine rote Warnweste mit einem Kreuz trug, packte ihn unter den Schultern, während ein anderer ihn an den Füßen griff. Leon schwebte.

»Verstehen Sie denn nicht? Er hat ihr einen Füller in den Hals gerammt. Der Code für die Geheimtür lautet a-Moll. Sie müssen sich beeilen.«

»Ja doch. Beruhigen Sie sich«, sagte der Mann und schnallte ihn an der Trage im Rettungswagen fest. »Wissen Sie, wer Sie sind?«

Leon versuchte sich aufzubäumen und wurde von den Fesseln zurückgerissen. »Es war Siegfried. Siegfried von Boyten.«

»Ist das Ihr Name?«

»Nein. Sein Vater hat das Haus gebaut. Er kannte die Geheimwelt hinter dem Schrank.«

»Aber klar doch.«

»Neiiin«, schrie Leon, rüttelte an den Schlaufen um seinen Arm.

Sie glauben mir nicht. Großer Gott.

»Bitte, verschwenden Sie keine Zeit. Natalie ist vielleicht noch am Leben. Sie müssen sie suchen.«

»In der Geheimwelt hinter dem Schrank. Gewiss.«

Er spürte etwas Kaltes am Arm, dann einen Einstich, und der Rettungswagen setzte sich mit angeschaltetem Signalhorn in Bewegung.

Der Nachtwandler
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