41.
Der Patient lag noch nicht einmal eine halbe Stunde auf der Station, und schon machte er Ärger. Schwester Suzan hatte es geschmeckt, kaum dass der Rettungswagen seine Türen geöffnet hatte und die Liege herausgeschoben wurde.
Sie schmeckte es immer, wenn Probleme in die psychiatrische Abteilung rollten. Dann zog es in ihrem Mund, als kaue sie auf Alufolie, und diesen unangenehmen Effekt konnten auch Patienten auslösen, die auf den ersten Blick eher wie ein Opfer und nicht gewalttätig wirkten, so wie der Mann, der gerade in Zimmer 1310 den Alarm aktiviert hatte.
Ausgerechnet um 19.55 Uhr.
Hätte er noch fünf Minuten länger gewartet, wäre Suzan in der Pause gewesen. Jetzt musste sie mit leerem Magen den Gang heruntereilen. Nicht, dass sie abends großen Appetit gehabt hätte. Suzan achtete sehr auf ihre Linie, tatsächlich war sie nicht sehr viel dicker als einige der stationär betreuten Anorexiepatientinnen, aber der kleine Salat und das halbe Ei zählten zur abendlichen Routine – ein Paranoider mit Wahnvorstellungen leider auch, doch auf Letzteren konnte sie gut verzichten.
Der Patient war nackt, blutüberströmt und mit Schnittwunden an den Füßen im Schnee vor einem Supermarkt aufgegriffen worden, hatte verwahrlost, desorientiert und dehydriert gewirkt, aber sein Blick war wach und stetig, seine Aussprache klar, und die Zähne (Zähne waren in Suzans Augen immer ein sicheres Indiz für den Zustand der Seele) hatten keine Anzeichen von Alkohol-, Nikotin- oder Drogenmissbrauch gezeigt.
Und dennoch habe ich es geschmeckt, dachte sie, die eine Hand am Pieper, die andere am Schlüsselbund.
Suzan schloss auf und trat ein.
Das Szenario, das sich ihr bot, war so bizarr, dass sie erst nach einer Schrecksekunde den Pieper betätigte, um die für derartige Krisensituationen ausgebildeten Sicherheitskräfte zu verständigen.
»Ich kann es beweisen«, schrie der nackte Mann vor dem Fenster. Er stand in einer Lache aus Erbrochenem.
»Natürlich können Sie das«, antwortete die Schwester, wobei sie darauf achtete, Abstand zu wahren.
Ihre Worte klangen einstudiert und unehrlich, weil Suzan sie einstudiert hatte und nicht ehrlich meinte, aber sehr oft schon hatte sie mit hohlen Phrasen kostbare Zeit gewinnen können.
Nicht so dieses Mal.
Später würde eine Untersuchungskommission in ihrem Abschlussbericht festhalten, dass die Putzfrau Musik über einen MP3-Player gehört hatte, was während der Arbeit strengstens untersagt war. Als ihre Vorgesetzte unerwartet zur Hygienekontrolle kam, versteckte sie das Gerät in einem Fach neben der Dusche, wo sich die Wasserzähler befanden.
In dem Moment der Krise jedoch war es für Schwester Suzan ein Rätsel, wie der Patient in den Besitz des elektronischen Gerätes gekommen war, dessen Batteriefach er aus dem Gehäuse gebrochen hatte. In der Hand hielt er eine verborgene Alkali-Batterie, deren Hülle er mit den Zähnen aufgekaut haben musste. Suzan konnte es nicht sehen, stellte sich aber vor, wie zähflüssige Batteriesäure wie Marmelade an den scharfen Kanten hervortrat.
»Alles wird wieder gut«, versuchte sie zu beschwichtigen.
»Nein, nichts wird wieder gut«, protestierte der Mann. »Hören Sie mir zu. Ich bin nicht wahnsinnig. Ich habe versucht, mich zu übergeben, um ihn wieder aus meinem Magen herauszubekommen, aber vielleicht habe ich ihn schon verdaut. Bitte. Ihr müsst mich röntgen. Ihr müsst meinen Körper röntgen. Der Beweis steckt in mir drin!«
Er schrie so lange, bis endlich die alarmierten Kräfte eintrafen, um ihn zu überwältigen.
Doch sie kamen zu spät.
Als die Ärzte ins Zimmer stürmten, hatte der Patient die Batterie längst verschluckt.
»So, jetzt müssen Sie mich in die Röhre schieben«, triumphierte er, als er zurück aufs Bett gepresst wurde.
»Ich hab mich selbst gefesselt, unten im Labyrinth, beim Schlafwandeln, verstehen Sie? Und weil Siegfried nur so getan hat, als wäre er ich, muss der Handschellenschlüssel noch immer in meinem Magen sein.«
»Schwester, informieren Sie die Radiologie«, sagte einer der Ärzte und schüttelte mit dem Kopf. »Und bereiten Sie eine Magenspülung vor«, ergänzte ein anderer. »Wir müssen die Batterie herausholen, bevor sie zu viel Säure freisetzt.«
»Scheiß auf die Säure«, schrie Leon jetzt. »Es geht um den Schlüssel.«
Sein Bett wurde aus dem Raum geschoben.
»Sie werden einen Handschellenschlüssel in meinem Magen oder Darm finden, und dann bitte …« Leon packte die Hand des Arztes, der zu seiner Rechten neben dem Bett herlief. Er hatte mehr Haare im Gesicht als auf dem Kopf und trug einen Schnurrbart, der seine Gaumenspalte nicht überdecken konnte.
»Bitte gehen Sie in meine Wohnung, und schieben Sie den Schrank zurück«, flehte Leon ihn an. »Wenn er klemmt, können Sie auch durch das Badezimmer von Frau Helsing einsteigen, um in das Labyrinth zu kommen.«
»Ins Labyrinth?«, fragte der Bärtige und stellte sich ihm als Dr. Meller vor.
»So nenne ich es, ja. Ich kann es Ihnen aufzeichnen. Am Ende des ersten Schachts gibt es eine Gabelung, die zu einer Geheimtür führt.«
Und zu der Leiche meiner Frau.
Leon schloss erschöpft die Augen, als ihm klarwurde, dass er sich selbst kein Wort glauben würde. Aber es war ohnehin zu spät. Wenn Natalie nicht unmittelbar durch den Stich gestorben war, so war sie nach all der verstrichenen Zeit jetzt unter Garantie nicht mehr am Leben.
»Meinen Sie die Tür mit dem ACHTUNG-Schild?«, fragte Dr. Meller unvermittelt.
Leon riss die Augen wieder auf. »Woher wissen Sie das?«
»Die Polizei hat Ihre Angaben bestätigt.«
Im Gegensatz zu Schwester Suzan schien der Arzt seine Worte ernst zu meinen. Sie klangen nicht einlullend, sondern ehrlich.
»Sie glauben mir?«
»Ja. Ein Freund von Ihnen, ein gewisser Sven Berger, hat sich Sorgen gemacht und nach Ihnen sehen wollen. Er hat vor einer Viertelstunde eine Männerleiche in Ihrer Wohnung entdeckt.«
Die Liege wurde vor einer Flügeltür angehalten. Leon hob den Kopf. »Und Natalie?«
Leon versuchte sich aufzurichten. »Was ist mit meiner Frau?«
Wurde sie auch schon gefunden?
Die Angst vor der Wahrheit schnürte ihm die Kehle zu. Der Arzt schüttelte bedauernd den Kopf.
»Das weiß ich nicht. Die Einsatzkräfte versuchen wohl gerade, eine Tür zu öffnen, aber sie ist mit einem Code gesichert.«
»A-Moll«, rief Leon. »Bitte, sagen Sie denen, der Code lautet: A-H-C-D-E-F-G-A.«
Der Arzt nickte, und ein Telefon erschien in seiner rechten Hand. Anscheinend war er mit den Beamten verbunden, denn er fragte, ob sie Leons letzten Satz mitgehört hätten.
»Nein, er kann jetzt nicht vernommen werden, er hat eine Batterie verschluckt, und ihm muss gleich der Magen ausgepumpt werden«, versuchte Dr. Meller das Gespräch zu beenden. Der Mann am anderen Ende sagte etwas, und der Arzt blickte erschrocken zu Leon hinab, dem das Herz stehenblieb.
Haben sie sie gefunden?
»Der Einsatzleiter will wissen, was mit den anderen Mietern geschehen ist«, fragte Meller.
Leons Augen weiteten sich. »Großer Gott, hat der Psychopath denen etwa auch etwas angetan?«
Er musste an die alte Frau Helsing denken, die dem Irren bestimmt nichts entgegenzusetzen gehabt hatte.
»Nein, ähm …« Der Arzt wanderte aus seinem Blickfeld, um an der anderen Seite der Liege wieder aufzutauchen. »Wenn ich das eben richtig verstanden habe, ist wohl niemand mehr da.«
»Keiner da? Das kann nicht sein. Ivana verlässt abends nie ihre Wohnung.«
»Ich fürchte, Sie verstehen nicht.« Leon wurde durch die geöffnete Tür in ein schlauchartiges Behandlungszimmer geschoben. »Laut Polizei sind Ihre Nachbarn nicht ausgegangen. Sie sind ausgezogen. Mit all ihren Wertgegenständen, Bargeld und Papieren. Sämtliche Haustüren standen offen, die Schlüssel steckten von außen.«
»Was? Aber wieso?«
Dr. Meller zuckte ratlos mit den Achseln. »Ich verstehe es auch nicht, Herr Nader. Aber die Polizei sagt, das gesamte Mietshaus wirke, als wäre es Hals über Kopf evakuiert worden.«