29.
Als Leon Stunden später die Augen öffnete, wusste er nicht, wo er war.
Er saß aufrecht im Bett, hochgeschreckt durch ein Geräusch, das wie ein quietschender Wasserhahn geklungen hatte, sah die Schminkutensilien auf dem Sekretär und die intakte Deckenlampe über seinem Kopf und fragte sich, weshalb er so unendlich erleichtert war.
Seine Hand strich über das zerknitterte Laken, fühlte die Wärme eines Körpers, der erst vor kurzem noch neben ihm gelegen haben musste. Und dann roch er es: das Parfum; den dezenten Sommerduft, den er in seinem Alptraum so sehr vermisst hatte.
»Natalie?«, rief er, die Stimme noch immer vom Schlaf belegt.
»Ja, Liebling«, hörte er ihre Antwort aus dem Nebenzimmer.
Ruhig, gelassen, heiter.
Gott sei Dank.
Das Alpdrücken, das der Traum hinterlassen hatte, verlor an Gewicht.
Alles nur in meinem Kopf!
»Du glaubst nicht, was ich für einen Unsinn geträumt habe«, rief er und begann zu lachen.
Er sah zum Schrank, der wie gewohnt an Ort und Stelle stand und bei Lichte betrachtet viel zu schwer wirkte, um ihn ohne fremde Hilfe zu verrücken.
Es gibt keine Tür. Keinen Schacht. Keine durchsichtigen Spiegel.
»Ich hab geträumt, ich hätte beim Schlafwandeln ein Labyrinth hinter unserer Zimmerwand entdeckt«, sagte er und schüttelte über sich selbst den Kopf. Er vergewisserte sich noch einmal, dass kein USB-Stick in dem Laptop auf dem Sekretär steckte, dann sprang er aus dem Bett. Ausgeschlafen und motiviert wie lange nicht mehr.
»Da unten gab es Gänge und Spiegel, durch die wir die Falconis beobachten konnten. Kannst du dir das vorstellen? Das war ein Traum, in dem ich Angst vor dem Einschlafen hatte.« Leon hörte, wie im Badezimmer die Toilettenspülung ging.
»Ich hab mich übrigens dabei gefilmt, so wie früher, hörst du mich, Natalie?«
»Klar und deutlich, Liebling.«
Das Rauschen eines aufgedrehten Wasserhahns untermalte die Worte seiner Frau.
»Es war wie in einem Computerspiel, völlig irre. Du warst verschwunden, und ich habe überall Hinweise gefunden, die mich auf eine andere Ebene oder vor eine neue Tür brachten, hinter der ich dich gesucht habe. Aber weißt du, was das Merkwürdigste ist?«
»Nein, was?«
Leon schlang fröstelnd die Arme um den Oberkörper. Er war nackt, und wie immer hatte Natalie die Heizung beim Zubettgehen herabgedreht.
»Ich kann mich an alles erinnern, an jedes Detail. Normalerweise ist mein Traumgedächtnis mit dem ersten Gähnen wie ausradiert, aber diesmal weiß ich sogar noch, woran ich gedacht habe, kurz bevor ich aufgewacht bin.«
Leon öffnete die Tür des Bauernschranks, um sich etwas zum Überziehen herauszunehmen.
Und mein letzter Gedanke da unten, bevor ich vor der Geheimtür mit dem ACHTUNG-Schild einschlief, war: »Du musst wach bleiben. Greif dir deinen Wohnungsschlüssel, kletter wieder nach oben, hol Hilfe. Aber schlaf um Himmels willen nicht wieder ein.«
»Ich hatte solche Angst vor dem, was ich beim Nachtwandeln anstellen könnte, dass ich unter allen Umständen bei Bewusstsein bleiben wollte. Dazu habe ich sogar deine Hallo-Wach-Pillen aus dem Medikamentenschrank geschluckt.«
»Ich weiß«, sagte Natalie mit einer Stimme, die auf einmal nicht mehr aus dem Badezimmer kam.
Leon hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund.
»Du wolltest nur deinen Schlüssel holen, der in der ACHTUNG-Tür steckt, aber da unten warst du plötzlich so müde, dass du mit deiner Kamera auf dem Kopf in der Sackgasse eingeschlafen bist, hab ich recht?«
Nein, bitte nicht. Lass es nicht von vorne losgehen.
Die Stimme seiner Frau klang so nah und deutlich, als stünde sie direkt vor ihm. Aber vor ihm war nichts anderes als …
… der Schrank!
»Natalie?«
Leon riss die Bügel zur Seite, als rechnete er ernsthaft damit, seine Frau habe sich wie ein kleines Kind zwischen den aufgehängten Kleidungsstücken versteckt.
»Liebling, wo bist du?«
»Hier, ich bin hier.«
»Wo ist HIER?«
»Ich weiß es nicht. Es ist so dunkel. Bitte hilf mir!«, sagte Natalie mit einer Stimme, die sich jetzt wieder etwas zu entfernen schien, aber an ihrem Ursprungsort hatte sich nichts geändert. Sie befand sich direkt hinter dem Kleiderschrank.
Aber das ist unmöglich.
Leon riss die gesamte Kleiderstange samt Bügeln und Kleidern heraus. Dann trat er mit seinem Fuß die Rückwand aus der Verleimung, bis sie nach hinten abfiel und wie von Geisterhand bewegt zur Seite kippte.
Statt der Tresortür, die Leon erwartete, glotzte er auf ein erst kürzlich zugemauertes Loch in der Wand. Der Mörtel, mit dem die Steine verfugt waren, war noch feucht, Leon konnte mit den Fingern Abdrücke in der grauen Masse hinterlassen.
»Hol mich hier raus«, forderte Natalie jetzt, auf einmal dem Weinen nahe.
Ihr Flehen war wie ein eisiger Regenguss. Leon trat einen Schritt zurück und stieß mit dem Fuß gegen das Brecheisen, mit dem er vorhin gegen seinen Spiegel geschlagen hatte.
Aber VORHIN war doch Traum. Und JETZT ist Realität, oder etwa nicht?
»Leon. Befrei mich, bevor es zu spät ist!«
Natalies Verzweiflung war wie das Brüllen eines Babys. Unmöglich, es zu ignorieren. Leon war von seinen Urinstinkten gesteuert, als er zum Brecheisen griff und es zwischen den Fugen ansetzte.
»Ich komme«, waren die letzten Worte, die er sagte, bevor es ihm gelang, einen Ansatzpunkt zwischen den Mauersteinen zu finden. Schnell, viel zu schnell, lösten sich erst Krümel, dann Splitter und schließlich der gesamte Stein aus der Wand.
»Beeil dich. Bevor du wieder einschläfst«, hörte er Natalie noch rufen, dann kam das Wasser.
Zuerst quoll nur ein dunkler Tropfen aus dem Gemäuer, dann sprudelte es heraus, als wäre ein Ventil geplatzt, und noch bevor Leon die Hand auf das Loch in der Wand hätte pressen können, schoss eine Fontäne hervor, mit einem solchen Druck, dass sich weitere Steine lösten, bis schließlich die gesamte Mauer über Leon zusammenbrach.
Er wollte schreien, atmete aber nur kaltes, nach Dreck schmeckendes Wasser ein, das er nicht aushusten konnte, weil der Druck auf seinem Oberkörper immer stärker wurde. Irgendetwas zog ihn hinab in die Tiefe, drohte ihn in einer feuchten Umarmung zu ersticken.
Leon schlug um sich, strampelte mit Armen und Beinen, fand unter sich einen Halt, stieß sich mit aller Kraft davon ab und schaffte es, mit dem Kopf eine zähflüssige Oberfläche zu durchbrechen. Er riss die Augen auf, sog die Luft ein und hustete. Und mit den Versuchen seines Körpers, die überschüssige Flüssigkeit aus der Luftröhre zu pressen, war der Traum vorbei.