38.
Wie der Schlaf ist auch der Prozess des Aufwachens ein kaum erforschtes medizinisches Rätsel. Um nicht von jedem Geräusch geweckt zu werden, drosselt das Gehirn die Intensität der äußeren Reize, wobei es sich nicht in einem permanent gedämpften Zustand befindet. Mehrmals pro Stunde wechselt es für winzige Augenblicke in einen wachnahen Modus. In dieser kurzen Phase streckt das Gehirn seine Fühler in die Welt außerhalb des Traums hinaus, wie ein U-Boot sein Periskop, um zu überprüfen, ob es ratsamer wäre, den Bewusstseinszustand zu wechseln, etwa, weil dem Schlafenden Gefahr droht.
Außerhalb des wachnahen Schlafstadiums vermögen in der Regel nur sehr starke Reize den Menschen aus dem Schlaf zu reißen. Das laute Klingeln eines Weckers etwa, ein Schwall kaltes Wasser oder heftige Schmerzen – wie die, die Leon Nader gerade in die Realität zurückholten.
Eine Zeitlang hatte er noch gegen die Schlinge angekämpft, die ihm um den Hals lag und an der er jetzt nach oben gezerrt wurde.
Noch mit geschlossenen Augen hatte er festgestellt, dass der Schmerz, der seine Wirbelsäule entlangschoss, nur dann erträglicher wurde, wenn er dem Zug an seinem Kopf nachgab. Außerdem bekam er umso weniger Luft, je heftiger er sich wehrte.
Leon hörte seine Nackenwirbel knirschen und schlug die Augen auf. Noch saß er vollkommen nackt auf dem Fußboden, die Beine ausgestreckt, mit dem Rücken ans Bett gelehnt, doch wenn er nicht wollte, dass ihm sein Eigengewicht das Genick brach, musste er so schnell als möglich aufstehen.
Seine Beine waren wie Gummi. Er schaffte es zunächst nur auf die Knie. Der Druck um den Hals wurde schwächer, aber der erkämpfte Spielraum war schnell aufgebraucht.
Leon sah nach oben zu dem Haken in der Decke, an dem bei ihrem Einzug noch der Kronleuchter der Vormieterin gehangen hatte und über den jetzt das Seil seines Galgenstricks geführt wurde.
Der Unbekannte, der durch den Geheimgang hinter dem Spiegel in sein Schlafzimmer eingedrungen war, stand mit unbewegter Miene vor dem Sekretär und zog an dem anderen Ende des Stricks wie an einem Flaschenzug.
Leon bezweifelte, genügend Kraft zum Aufstehen zu haben, aber er hatte keine Wahl. Wenn er nicht sofort ersticken wollte, musste er sich aufrichten.
»Aufhören«, krächzte er, während Natalies Mörder ihn auf die Füße zwang.
Großer Gott. Und jetzt?
Um das Gleichgewicht zu halten, ruderte er mit den Armen, die seltsamerweise nicht gefesselt waren. Seine Hände steckten in dicken Latexhandschuhen. Wann immer er versuchte, nach dem Strick über seinem Kopf zu greifen, zog der Psychopath am anderen Ende noch heftiger zu, und Leon glaubte, sein Kehlkopf würde zerplatzen.
»Nicht«, hustete Leon erstickt. »Bitte nicht.«
Er rollte panisch mit den Augen und bemerkte einen Stuhl in seiner Nähe. Vorhin hatte er ihn gegen den Spiegel gefeuert, jetzt stand er wieder aufrecht in Reichweite.
Als wollte der Killer ihn für seine Entdeckung belohnen, lockerte er für einen kurzen Moment den Zug, und Leon konnte den Stuhl mit einem Bein zu sich heranziehen. Kaum war das geschafft, riss der Mann ihn wieder unbarmherzig nach oben. Und er hörte erst damit auf, nachdem sein Opfer auf den Stuhl geklettert war.
»Na bitte, geht doch«, lachte der Killer und befestigte das Ende des Leinenstricks mit einem kompliziert aussehenden Knoten an der Rippenheizung unter dem Fenster.
Nicht nur seine Stimme, die gesamte Erscheinung kam Leon bekannt vor, abgesehen von der Tatsache, dass der schlanke Mann sich große Mühe gegeben hatte, Leons äußeres Erscheinungsbild zu kopieren.
»Wer sind Sie?«, krächzte er, den Nacken leicht überstreckt. Leon war überrascht, dass er überhaupt ein Wort hervorbrachte. Damit er nicht etwa durch einen Sprung das Seil vom Haken lösen konnte, hatte der Irre es so stramm gezogen, dass er auf Zehenspitzen stehen musste, wenn er sich nicht selbst erwürgen wollte.
Der Mann, der ihn aufknüpfen wollte, war in seinem Alter, vielleicht etwas jünger, und bis auf die etwas zu groß geratene Nase und das fehlende linke Ohrläppchen gab es nichts Bemerkenswertes an seinem Allerweltsgesicht.
»Ich bringe Ihnen die Post«, lachte er und wedelte mit einer CD-Hülle, die er aus der Brusttasche des Overalls gezogen hatte.
Dann verließ er kurz den Raum, um mit einem Küchenhocker in der Hand ins Schlafzimmer zurückzukehren. Seine Sohlen quietschten auf dem nassen Holzfußboden.
Er setzte sich vor den Laptop und legte die CD ein.
Bitte, lieber Gott, mach, dass es aufhört. Lass es nicht noch schlimmer werden.
Von seinem Standpunkt aus konnte Leon die rechte Hälfte des Monitors einsehen. Mit jeder Kopfbewegung lief er Gefahr, sich den Hals blutig zu scheuern, trotzdem zog er es vor, sich zur Seite zu drehen, als Natalies Gesicht sich auf dem Bildschirm aufbaute. Ihr rechtes Auge schimmerte violett, die Lider waren zugeschwollen, und beim Sprechen stieß ihre Zunge an einen abgesplitterten Schneidezahn.
Leon konnte und wollte die Bilder nicht sehen, die ihn an seine dunkelsten Alpträume und an die Tatsache erinnerten, dass er seine Frau niemals wiedersehen würde.
Aber auch ohne die visuellen Eindrücke hörte die seelische Folter nicht auf, denn leider war es Leon nicht möglich, die Ohren zu verschließen. Der Psychopath hatte den Ton des Videos auf volle Lautstärke gestellt, damit Leon kein einziges Wort von Natalies akustischem Abschiedsbrief verpasste, den sie mit bebender Stimme für ihn eingesprochen hatte:
»Leon, es tut mir so leid«, begann sie. »Ich bin feige, ich weiß. Ich müsste dir alles ins Gesicht sagen. Du hättest es verdient. Aber dazu fehlt mir die Kraft, deshalb wähle ich diesen ungewöhnlichen Weg. Damit du es, wenn schon nicht persönlich, wenigstens mit meinen eigenen Worten hörst.«
»Stoppen Sie das!«, hustete Leon in eine Pause.
»Allerdings bin ich mir noch nicht sicher, ob meine Kraft ausreichen wird, dieses Geständnis in unseren Briefkasten zu legen. Für den Fall, dass ich auch dazu zu feige bin, werde ich dir wenigstens eine Karte an der Küchentür hinterlassen.«
Leon schloss die Augen und musste sie sofort wieder öffnen, weil er das Gefühl hatte, das Gleichgewicht zu verlieren und sich selbst zu strangulieren.
»Im Moment, in dem ich das hier aufnehme, schläfst du noch«, hörte er Natalie sagen.
»Gleich werde ich meine Sachen packen und hoffen, dass du dabei nicht aufwachst. Du scheinst wieder Alpträume zu haben. Deine Schlafstörungen sind schlimmer geworden, vermutlich, weil du spürst, dass etwas nicht in Ordnung ist. Wie recht du hast, Liebling. Und ich, nur ich bin daran schuld.«
Leon drehte sich nun doch wieder zu dem Sekretär, vor dem der Killer aufgestanden war und für einen kurzen Moment das Band angehalten hatte. Das eingefrorene Porträt von Natalie sah aus, als hätte sie es mit einem Handy in ihrer Dunkelkammer aufgenommen. Leon konnte die Laborutensilien im Hintergrund erkennen.
»Es ist mir etwas unangenehm«, grinste Natalies Mörder unvermittelt. »Aber dürfte ich mal Ihre Toilette benutzen? Ich habe nämlich Durchfall.«
An seinem Kichern erkannte Leon endlich, wer ihm das antat. »Ich lass so lange das Entertainmentprogramm für Sie laufen«, sagte der Mann, der sich ihm schon einmal als Postbote ausgegeben hatte, und ging zur Schlafzimmertür, nachdem er das Band wieder gestartet hatte.
Ohnmächtig musste Leon mit ansehen, wie der Irre den Raum verließ, ohne dass ihm das einen Vorteil verschaffte.
Er versuchte, sich an dem Seil nach oben zu ziehen, aber er merkte, dass er zu wenig geschlafen und zu viele Strapazen ertragen hatte. Seine Arme waren zu schwer, er würde niemals bis an die Decke klettern können, sondern spätestens auf halber Strecke die Kraft verlieren. An die Lehne war auch nicht zu denken. Der Stuhl würde umkippen, sobald er auf sie trat. Ebenso gut könnte er gleich springen.
»Es gibt keine Worte, die das entschuldigen können, was ich dir alles angetan habe«, fuhr Natalie derweil fort. »Also sage ich es ganz direkt: Ich habe dich betrogen. Mit einem Mann, dem ich verfallen bin. Nein, verfallen war. Wir beide mussten nie über meine speziellen Wünsche reden, Leon. Wir wissen, dass es eine dunkle Seite in mir gibt, die dir fremd ist. Und die ich ausgelebt habe. Heimlich. Anfangs war es wild, aufregend und exotisch. Zuerst dachte ich, er befriedigt meine Bedürfnisse. Aber das war ein Irrtum. Und jetzt ist alles, wie du siehst, völlig aus dem Ruder gelaufen.«
Sie deutete auf ihre Verletzungen und verzog das Gesicht zu einem schmerzhaften Lächeln.
»Sein Name ist Siegfried von Boyten. Er ist der Eigentümer dieses Hauses, und er ist der Ursprung, der Kern und die Quelle all meiner Lügen. Wir haben uns nie um diese Wohnung beworben, Schatz. Er hat sie mir vermittelt, da war ich schon eine Weile mit ihm zusammen.«
Ihre Beichte schnitt ihm wie ein Messer durch die Eingeweide, und Leon fragte sich, wie viel er noch ertragen konnte.
»Siegfried hat mich im Wartezimmer von Dr. Volwarth angesprochen. Er war in psychiatrischer Behandlung. So wie ich.«
Natalie schluckte schwer.
»Ja, ich bin in Therapie, und das ist leider längst nicht das Einzige, was ich dir verschwiegen habe. Meine sexuellen Wünsche wurden immer extremer, bizarrer. Ich hatte Angst, mit dir darüber zu reden. Ich hatte Angst vor mir selbst.
Ich war erst bei einem anderen Arzt, aber der hat mich zu Dr. Volwarth überwiesen. Damals waren wir noch nicht verheiratet, weswegen er nicht wusste, dass ich dich kenne. Er hat mir übrigens sehr geholfen.«
Ihr Blick wurde zornig.
»Durch ihn weiß ich jetzt, was für ein Schwein mein Vater ist. Was er in meiner Kindheit zerstört hat und weshalb ich heute eine leichte Beute für Sadisten bin wie Siegfried. Der Mann, mit dem ich dich hintergangen habe.«
Sie machte eine Pause, dann fügte sie leise hinzu:
»Der Mann, der mich geschwängert hat.«
»Nein«, schrie Leon, so laut der Strick um seinen Hals es erlaubte.
Er fühlte einen eisigen Lufthauch durch das Innere seines Körpers wehen. Seine Beine wurden taub, er fühlte seine Zehen nicht mehr, konnte sich nicht länger auf ihnen halten. Sein Kehlkopf wurde gequetscht, als er einen halben Zentimeter nach unten sank, aber jetzt war es nicht länger der Strick, sondern Natalies Beichte, die ihn erstickte.
»Verstehst du jetzt, weshalb ich dir nicht unter die Augen treten kann? Ich habe dich nicht nur betrogen. Ich habe dich glauben lassen, wir hätten unser Kind verloren. Dabei war es sein Baby, das ich abtrieb. Und wie es aussieht, bekomme ich dafür jetzt meine gerechte Strafe. Von Boyten ist ein Psychopath, Leon. Er hat mich geschlagen, gefoltert und vergewaltigt.«
Sie hielt den Daumen in die Kamera.
»Das hier hat nichts mehr mit meinen Vorlieben zu tun. Boyten ist ein Sadist, der es liebt, schwache Menschen zu dominieren. Sie zu quälen. Und zu beobachten. Er ist ein perverser Voyeur, und er schlüpft in fremde Identitäten, um andere zu manipulieren. Einmal hat er sich als Postbote ausgegeben, um mir seine Macht zu demonstrieren. Er wollte mir nahe sein, während du neben mir stehst.«
Leon schüttelte den Kopf, ungläubig, fassungslos. Mit jeder Bewegung schnitt ihm der Strick tiefer in den Hals, doch das war ihm gleichgültig. Nichts hatte mehr eine Bedeutung. Nicht einmal die Tatsache, dass er doch kein perverser Mörder war. Natalie hatte ihn betrogen und war tot. Und er würde ihr Schicksal in wenigen Sekunden teilen.
»Ich glaube, Siegfried hat einen Zweitschlüssel zu unserer Wohnung, und er spioniert mir nach, wenn ich nicht da bin. Ich habe keine Ahnung, wie er es anstellt, aber er ist wie einer dieser Rauhgeister, von denen du mir erzählt hast, in seiner schlimmsten Ausprägung. Erst hat er meine Fische vergiftet. Dann mich. Und schließlich uns.«
Leon sah zu dem zerstörten Aquarium und fragte sich, ob der Wasserschaden von Ivana ein Stockwerk tiefer bereits bemerkt worden war und sie Hilfe holen würde.
»Er beobachtet mich. Er weiß Dinge, die ich ihm nie erzählt habe. Von meinem Vater. Und von deinen Schlafstörungen.«
Natalies Tonfall nach schien sie zum Ende kommen zu wollen.
»Ich liebe dich, Leon, ich habe so oft versucht, mit ihm Schluss zu machen, habe deinen Antrag völlig überhastet angenommen, weil ich dachte, dann würde er mich freigeben, doch wir hatten eine Grenze überschritten. Er hat mein Nein nicht mehr akzeptiert. Bis heute. Jetzt lasse ich ihm keine Wahl mehr. Ich werde zur Polizei gehen und ihn anzeigen. Keine Ahnung, was ich danach mache. Ich weiß nicht, wann ich mich wieder bei dir melden werde. Ich schäme mich so, habe solche Angst, aber die habe ich auch verdient.«
»Nein«, widersprach Leon, unfähig, sich noch sehr viel länger auf den Zehenspitzen zu halten.
Das hier hat niemand verdient.
Alles, was sie gesagt, alles, was sie getan hatte, änderte nichts an seinen Gefühlen für sie. Nicht einmal im Angesicht des Todes, der mit ihrem Verrat in ihr Leben getreten war.
Erst recht nicht im Angesicht des Todes.
Unter normalen Umständen hätte er ihr niemals vergeben können. Sie hätten sich getrennt, den Kontakt abgebrochen, wären in verschiedene Städte gezogen und hätten nur wieder voneinander gehört, wenn eine Laune des Schicksals es so gewollt hätte.
Aber, dessen war Leon sich sicher, sie hätten nie aufgehört, sich zu lieben.
»Warte nicht auf mich«, forderte Natalie. Hatte sie sich bis jetzt erstaunlich gefasst gezeigt, brachen zum Ende der Aufnahme alle Dämme. Sie zog die Nase hoch, schob die Unterlippe vor, machte ansonsten aber keine Anstalten, den Lauf ihrer Tränen aufzuhalten.
»Ich bin es nicht wert. Ich weiß, für uns gibt es keine Zukunft mehr. Ich habe alles zerstört. Doch wenn mein Betrug zu irgendetwas gut war, dann dazu, um mir zu zeigen, wie sehr ich dich liebe. Für immer lieben werde.«
»Wie niedlich.«
Von dem zynischen Kommentar des Psychopathen aufgeschreckt, drehte sich Leon zur Tür und kam ins Wanken. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn.
Leon wusste nicht, ob der Mann, dessen Namen er jetzt kannte, schon länger in der Tür gestanden hatte oder eben erst zurückgekommen war.
Natalies Lippen formten einen letzten Kuss. Dann verzog sie die Lippen, und Leon konnte unter der gequälten Grimasse den Ansatz jenes Lächelns erkennen, in das er sich vor Jahren verliebt hatte.
Es gab ein elektrostatisches Geräusch, und der Monitor wurde schwarz. Siegfried von Boyten setzte sich wieder vor den Computer.
»Wieso?«, würgte Leon. Keine Reaktion. Natalies Mörder ließ summend die Finger über die Tastatur gleiten.
Weshalb tun Sie das? Wieso zerstören Sie unser Leben?
Und weshalb haben Sie mir das eben gezeigt?
Leon beobachtete, wie von Boyten die DVD wieder aus dem Laptop nahm und ein Schnittbearbeitungsprogramm öffnete, und da begriff er, dass der Wahnsinnige das Band nicht seinetwegen abgespielt hatte.
Das Schwein wollte nur eine Kopie erstellen.
Offensichtlich hatte es der Sadist auf die Tonspur abgesehen, die er jetzt zu bearbeiten begann. Siegfried setzte einige wenige, aber gezielte Schnitte, mit denen er das gesamte Audiofile auf eine Länge von wenigen Sekunden kürzte, bis am Ende ein völlig sinnentstelltes Tondokument herauskam, dessen Funktion so grausam war wie alles Weitere, was der Psychopath zu verantworten hatte.