35.
Aufwachen.
Ein einziges Wort mit der Wirkung einer Explosion.
Die ersten Sprengsätze der sich anbahnenden Selbsterkenntnis detonierten mit schmerzhafter Wucht unter Leons Schädeldecke.
Ich darf nicht aufwachen?
»Das glaube ich nicht«, protestierte er matt, und ihm fiel selbst auf, wie merkwürdig er auf einmal redete. Oder hatte er die ganze Zeit über schon gelallt und wie unter Drogeneinfluss geklungen?
Leon stand auf und wollte einen Schritt vom Bett zurücktreten, aber seine Beine versagten ihm den Dienst. Am liebsten hätte er gelacht, doch auch seine Lippen waren wie gelähmt. Sein Gesicht war zur Maske erstarrt.
»Willst du etwa sagen, ich träume?«
Ich bilde mir alles nur ein? Dich? Das Labyrinth? Unser Gespräch?
»Nein«, weinte Natalie verzweifelt.
»Was nein?« Leon brüllte. »Was geschieht hier mit mir?«
Ich schlafe nicht. Ich bin nicht wach. Was bin ich dann?
Natalie versuchte, ihm eine Antwort zu geben, aber ihre Lippen bewegten sich lautlos.
»Was bin ich?« Leon hielt ihren Kopf fest, der wieder nach unten sacken wollte.
Sie braucht Wasser. Einen Arzt.
Er musste an Volwarth denken und wie er ihm erklärt hatte, weshalb er nicht glaubte, dass Leon während des Schlafs zur Gewalt fähig wäre, und auf einmal verstand er, was Natalie ihm die ganze Zeit zu erklären versucht hatte.
Natürlich. Volwarth.
Nicht schlafend. Nicht wach. Was bin ich?
Der Psychiater hatte ihm schon vor Tagen die Antwort auf diese Frage gegeben.
»… genau genommen schläft der sogenannte Schlafwandler gar nicht. Er befindet sich in einer anderen, kaum erforschten Bewusstseinslage zwischen Schlaf und Wachsein. Ich nenne sie das dritte Stadium.«
In dem Leon, wie er mit einem Mal begriff, gefangen war.
Genau in diesem Augenblick. Der Psychiater hatte es perfekt diagnostiziert: »Ganz gleich, was Sie sagen, ich glaube nicht, dass Sie Ihrer Frau im Schlaf etwas angetan haben.«
Nicht im Schlaf.
Nein.
Sondern im vollbewussten, schuldfähigen Zustand.
Leon griff sich mit beiden Händen an den Kopf und starrte Natalie an, die wieder in eine andere, hoffentlich schmerzfreie Welt abgetaucht war, und versuchte, gegen die schreckliche Wahrheit anzukämpfen: dass er nicht gewalttätig war, wenn er schlafwandelte.
Sondern, wenn er aufwachte!
Dann plante er die Architektur seiner Folterkammer, baute Türen in die Wände und erschuf sich eine Zwischenwelt hinter ihrer Wohnung.
Die Tür hinter dem Schrank, der Venezianische Spiegel, das Blut in der Badewanne …
Alles, woran er sich in diesem Augenblick erinnern konnte, hatte er nicht im wachen Zustand, sondern als Nachtwandler erlebt.
»Aber das kann nicht sein«, hörte er sich selbst sagen, wie aus weiter Entfernung, doch tief in seinem Innersten wusste er, dass es sehr wohl möglich war. Volwarth hatte ihm von ähnlichen Fällen berichtet.
»In den Jahrzehnten, in denen ich jetzt Parasomnien erforsche und behandle, ist mir beinahe alles untergekommen. Menschen, die in der Tiefschlafphase ihre Wohnung putzen …«
Oder durch Tunnel kriechen, Schächte hinabsteigen, Leitern hochklettern.
»Nachtwandler, die mit ihrem Partner sinnvolle Dialoge führen und sogar Fragen beantworten.«
Zum Beispiel am Telefon, mit Natalies bester Freundin Anouka, Sven, der Polizei oder beim Tee mit Ivana.
»Ich hatte Patienten, die in der Nacht Wäsche gewaschen und sogar komplizierte Geräte bedient haben.«
Komplizierte Geräte wie eine Kamera auf dem Kopf. Wie einen Laptop, vor dem Leon gesessen und sich Videos angesehen hatte, in der irrigen Annahme, wach zu sein. Aber geschlafen hatte er auch nicht. Alles war wirklich geschehen, nur auf einer neuen, dritten Bewusstseinsebene, im dritten Stadium, in der Schlaf und Wachsein verschmolzen.
Ich habe Tareski befreit, habe die Geheimtür geöffnet. Und in diesem Moment stehe ich vor meiner gequälten Frau. Streiche ihr die Haare von der Stirn, küsse sie auf die trockenen Lippen und rede mit ihr. Ich reflektiere während des Schlafwandelns über meinen Zustand. Ein Stadium, das ich nicht verlassen darf. Noch nicht. Denn nicht, wenn ich schlafwandle, sondern wenn ich wach bin, werde ich zur Gefahr.
Leon starrte auf Natalie, die nun gänzlich das Bewusstsein zu verlieren schien, während er offenbar im Begriff war aufzuwachen.
Die ganze Zeit über hatte er gedacht, er könne sich nicht an seine Träume erinnern, dabei war es genau umgekehrt. Als Schlafwandler hatte er kein Gedächtnis daran, was er im wachen Zustand getan hatte.
Deshalb konnte er sich nicht an die Türcodes erinnern, nicht an die Postkarte am Kühlschrank oder daran, wie Sven das Modell abgeholt hatte. Und deswegen hatte ihn der Polizist gefragt, weshalb er ihm nicht in die Augen blickte. Aus diesem Grund war Sven so verstört geflüchtet. Wenigstens diese beiden hatten seinen Zustand bemerkt.
Großer Gott. Nein.
Leon blickte zu der geöffneten Pillendose, die er auf dem Nachttisch abgestellt hatte.
Je mehr Koffein ich genommen, je mehr Pillen ich geschluckt habe, … desto eher würde er aufwachen.
Und was geschieht dann?
Leon begann zu zittern.
»Es ist alles genau umgekehrt.«
Die ganze Zeit über hatte er sich gefragt, ob er im Schlaf ein Doppelleben führte. Jetzt wusste er nicht, wer er im realen Leben war. Was würde er tun, sobald er das Bewusstsein wiedererlangte?
War er ein Täter? Oder ein Opfer?
War Natalie durch seine Gegenwart in Gefahr? Oder in Sicherheit?
Er spürte, dass es nicht mehr lange dauern und er das dritte Stadium verlassen würde, vermutlich, indem er in einen kurzen Zwischenschlaf fiel, bevor er endgültig erwachte.
Als Mörder? Oder als Retter?
Leon wusste, er durfte diese Antworten nicht dem Schicksal überlassen. Er musste für den schlimmsten aller Fälle Vorsorge tragen und die wenigen Sekunden, die ihm noch blieben, nutzen.
Er griff nach den Handschellen, die er von dem Tisch genommen hatte, und schnallte eine Schlaufe um sein linkes Handgelenk. Dann schleppte er sich mit letzter Kraft zu einem Heizungsrohr an der Wand, etwa fünf Schritte vom Bett entfernt. Als er sich hingekniet hatte, konnte er Natalie nicht mehr sehen, nur noch ihr vegetatives Stöhnen hören.
»Alles wird gut«, rief er ihr zu und gähnte, länger und tiefer als je zuvor. Dann kettete er sich mit dem freien Ende der Handschellen an das Rohr.
»Ich werde dir nichts mehr tun.«
Er tastete seine Brusttasche ab und war erleichtert, dass sich der Füller noch darin befand, den er damals, nur einen Gang weiter, in dem Verschlag gefunden hatte. Leon notierte sich ein einziges Wort auf der Innenseite der rechten Handfläche und vier Ziffern auf der linken.
Schließlich zog er sich das Stirnband mit der Kamera wieder auf den Kopf, öffnete den Mund, legte den Handschellenschlüssel auf die Zunge und würgte ihn herunter.
Nur wenig später wechselte er den Bewusstseinszustand.