19.

Na, wo steckst du denn, meine Süße?«

Ivana Helsing stand im Morgenmantel auf der Türschwelle und ließ, beide Hände in die knochigen Hüften gestemmt, ihren Blick suchend durchs Badezimmer wandern.

»Hast du dich hier verkrochen?«

Das Loch in ihrem Fußboden hatte sie nicht bemerkt (noch nicht), nachdem es Leon rechtzeitig gelungen war, die Falltür zu schließen und den Läufer darüberzudecken. Den Krach musste seine Nachbarin eigentlich gehört haben, auch wenn er zu einem großen Teil von dem Röhren der Waschmaschine verschluckt worden war. Leon rechnete jeden Moment damit, von ihr entdeckt zu werden, so ungenügend war das Versteck, das er sich ausgesucht hatte. Er war in die Badewanne gesprungen, fast genau in der Sekunde, in der Ivana das Badezimmer betreten hatte, und stand jetzt auf wackeligen Beinen zwischen Wand und Wäscheständer. Um nicht sofort gesehen zu werden, hatte er eilig den Duschvorhang vorgezogen, und auch diese Veränderung schien der alten Dame im Augenblick noch zu entgehen. Offenbar war sie ausschließlich am Verbleib ihrer Katze interessiert.

»Alba, wo versteckst du dich nur schon wieder?«

Leon konnte an der Kante des Duschvorhangs vorbei einen Blick auf den Spiegel über dem Waschbecken erhaschen und erkannte darin, wie Ivana eine kleine Metallschachtel aus der Tasche ihres Morgenmantels zog.

»Komm, meine Süße«, rief sie und schüttelte das Trockenfutter. »Hier ist lecker Fresschen für dich.«

Sie stellte sich neben die Waschmaschine.

»Alba? Hörst du mich?«

Sie rasselte erneut mit der Dose, aber das Tier ließ sich nicht blicken, weshalb sie die Schachtel wieder in den weiten Taschen ihres Mantels verschwinden ließ.

Leon sah, wie Ivana an den Spiegel trat und ihre Brille abnahm. Dann blinzelte sie, als wäre ihr ein Staubkorn ins Auge geraten. Tatsächlich schien sie mit den Tränen zu kämpfen.

»Sie ist so wie du, Richard«, flüsterte sie kaum hörbar. »Immer wieder lässt sie mich allein.«

Leons Sinne waren zum Zerreißen gespannt. Er stand in einer unbequemen Haltung, eine Hand gegen die Wand gepresst, die andere bewahrte den Wäscheständer vor dem Umkippen. Er atmete flach und bemühte sich, kein Geräusch zu machen, aber kaum war der Gedanke gedacht (Hoffentlich muss ich nicht niesen!) spürte er ein Kribbeln in der Nase.

Ivana studierte unterdessen ihr Gesicht im Spiegel. Sie massierte sich die münzgroßen Tränensäcke, schüttelte den Kopf und zog die faltige Haut über den Kieferknochen in die Länge. Dann überprüfte sie ihren Haaransatz, der zwar grau, aber immer noch dicht war, doch auch damit schien sie nicht zufrieden.

»Alle verlassen mich«, flüsterte sie und drehte den Wasserhahn auf. »Immer tun sie das.«

Leon spürte, wie sich seine Rückenmuskeln verhärteten. Lange würde er sich nicht mehr in dieser Position halten können, aber wie sollte er sich erklären, wenn eine unachtsame Bewegung ihn entlarvte?

Er konnte nur hoffen, dass Ivana sich beeilte. Diesen Gefallen jedoch schien sie ihm nicht tun zu wollen, denn plötzlich begann sie sich zu entkleiden, wobei es nicht sehr viel gab, was sie noch ausziehen konnte.

Zuerst streifte sie den Morgenmantel über ihre herabhängenden, leicht nach vorne gewölbten Schultern. Da sie weder Oberteil noch BH trug, konnte Leon im Spiegel ihre Brüste sehen. Sie waren mit Leberflecken überzogen und hingen wie halbleere Luftballons über den Rippen.

Leon schämte sich für diesen intimen Einblick, den seine Nachbarin ihm ahnungslos gewährte. Dennoch konnte er sich nicht abwenden; auch nicht, als Ivana Helsing mühsam ihre von Krampfadern durchzogenen Beine anhob, eins nach dem anderen, um sich ihres fleischfarbenen Slips zu entledigen.

Leon hatte noch nie zuvor eine nackte Frau dieses Alters gesehen (er schätzte Ivana auf Ende siebzig), doch es war nicht ihre Nacktheit, die seine Aufmerksamkeit forderte, sondern das Tattoo auf ihrem Rücken: Zwei blaue Schlangen wanden sich wie eine DNA-Helix um die Wirbelsäule, die Köpfe ruhten einander zugewandt auf den knochigen Schulterblättern, die spitzen Zungen im Nacken zu einem Kuss verknotet.

Ivana hatte begonnen, sich mit einem Waschlappen erst das Gesicht, dann den Halsansatz und zuletzt die Brüste zu waschen, während es in Leons Nase immer heftiger juckte.

Der Geruch frisch gewaschener Wäsche ließ ihn für einen Moment an die Legende von den Unternächten denken, was die bizarre Situation für ihn noch unwirklicher machte.

Da begann Ivana unvermittelt, laut zu schluchzen, und als Nächstes warf sie den nassen Waschlappen wütend gegen den Spiegel.

»Du Scheißkerl«, sagte sie laut. Dann griff sie sich wieder ihren Morgenmantel und schlurfte aus dem Bad, ohne das Licht zu löschen.

Mit Ivana war auch Leons Niesreiz verschwunden. Er wartete eine Weile, und als er hörte, wie im Wohnzimmer der Fernseher angeschaltet wurde, wagte er es, sein Versteck zu verlassen.

Die Wohnung war exakt wie seine geschnitten: Der Flur hinter dem Bad erstreckte sich nach links zum Salon. Rechter Hand lag die Diele mit der Tür zum Treppenhaus, nur wenige Schritte entfernt. Allerdings gab es ein Problem, denn anders als bei ihm, ein Stockwerk höher, war diese Wohnung seit Jahren nicht mehr renoviert worden. Davon zeugten nicht nur die gelbstichigen Tapeten und die teilweise losen Scheuerleisten, sondern auch die bei jeder Bewegung laut knarzenden Dielen.

Leon hoffte, dass der Fernseher für eine ebenso gute akustische Ablenkung sorgte wie vorhin die Waschmaschine, als er zur Haustür schlich, und am Ende wäre er womöglich unbemerkt aus Ivanas Wohnung gelangt, wenn nicht das Telefon geklingelt hätte.

Der grüne Apparat mit der altertümlichen Wählscheibe stand direkt neben ihm auf einem gehäkelten Untersatz am Rand einer Teakholzkommode.

Leon sah sich hilfesuchend um und zögerte einen Tick zu lange, sich rasch in das letzte Zimmer vor dem Ausgang zu flüchten, in den Raum, der dem Arbeitszimmer seiner Wohnung entsprach. Aber hier unten war die Tür ausgehängt, und außerdem schien das Zimmer bis auf einen kleinen Umzugskarton völlig leer zu stehen.

Nichts, wo ich mich verstecken könnte, dachte er noch, als das Telefonklingeln wieder erstarb. Und er hinter sich die erstaunte Stimme Ivana Helsings hörte.

Der Nachtwandler
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