8.

Die Frage, wie sie einander kennengelernt hatten, beantworteten Leon und Natalie meist mit einem lächelnden Schweigen. Manchmal sagten sie die Wahrheit und fielen dann in das Lachen des Fragenden ein, um seine Annahme, sie hätten sich wohl einen Scherz erlaubt, scheinbar zu bestätigen. Aber es war tatsächlich ein Bordell gewesen, in dem sie sich zum ersten Mal getroffen hatten; noch dazu das La Fola, eines der berüchtigtsten der Stadt.

Beide hatten einander die Erklärung, weshalb es sie dorthin verschlagen hatte, anfangs nicht abgekauft. Er war der Mitläufer eines Junggesellenabschieds gewesen, sie auf Motivsuche für die Abschlussarbeit an der Kunsthochschule mit dem Thema »Die nackte Gesellschaft«.

Die Musik war laut wie in einer Diskothek gewesen, so dass Leon an der Bar ganz nah an Natalie hatte heranrücken müssen, um die Worte von ihren Lippen lesen zu können. Sie waren von den sanften Abdrücken ihrer Schneidezähne gezeichnet und im Mundwinkel etwas eingerissen, was sie jedoch nicht davon abgehalten hatte, über viele seiner Bemerkungen breit zu grinsen. Auch über die, die eigentlich gar nicht komisch waren.

»Ich hasse Fotos«, gestand er ihr Stunden später, nachdem er sich von seinen Freunden abgesondert hatte. Sie gingen ziellos spazieren, ohne die Schaufenster der überteuerten Boutiquen auf dem Prachtboulevard eines Blickes zu würdigen. »Am meisten die von mir selbst. Ich bin nicht fotogen.«

Zum Beweis präsentierte er ihr seinen Personalausweis.

»Der Fotograf konnte dich nicht leiden«, sagte sie, und obwohl er über ihre Bemerkung lachte, wusste Leon, dass sie nicht als Witz gemeint gewesen war.

Natalie öffnete ihre Handtasche und kramte eine Sofortbildkamera hervor.

Bevor er protestieren konnte, hatte sie schon abgedrückt. Während sie mit dem Abzug wie mit einem Fächer wedelte, erklärte sie ihm ihre Theorie: »Fotos sind Gradmesser.« Sie reichte ihm das Polaroid. »Je größer die Liebe des Fotografen für sein Objekt, desto besser das Bild.«

Leon starrte sprachlos auf das Foto in seinen Händen.

»Und, gefällst du dir?«

»Besser als in der Realität«, gestand er leicht benommen.

Wenig später küssten sie sich.


Wie kann etwas, das so perfekt begann, so schrecklich enden?, dachte Leon, während er nun, wenige Wochen vor ihrem dritten Jahrestag, in seinem Arbeitszimmer das Paket öffnete, das er an der Haustür entgegengenommen hatte.

Auf den ersten Blick war die Bestellung vollständig: ein elastisches Stirnband, zwei Bewegungsmelder, Klettverschlussband, Kabel, Batterien, USB-Stick.

Und natürlich die funkgesteuerte Kamera!

Sie entsprach zwar nicht hundertprozentig dem Modell, das er aus dem Online-Katalog ausgewählt hatte, aber es war nicht das erste Mal, dass sich der Shop bei der Auslieferung der Ware vertat. Und in diesem Fall war es nicht zu Leons Nachteil, da die Kamera eine höhere Auflösung besaß als die, die er bestellt hatte.

Er trug die einzelnen Gegenstände ins Schlafzimmer, wo er bereits den Laptop auf dem Sekretär hochgefahren hatte. Ein Hypnophobieforum im Internet hatte sich als wahre Fundgrube erwiesen. Leon war offensichtlich nicht der Einzige, der sich im Schlaf filmen wollte.

Er fühlte, wie er schläfriger wurde, als er das Kameraauge mit dem Klettverschlussband an dem Stirnband befestigte.

Verdammt, ich hab doch eine Ewigkeit gepennt. Was ist nur los mit mir?

Sein Schlafbedürfnis wuchs mit der Geschwindigkeit des Ladebalkens auf dem Bildschirm, während sich die Software der Kamera auf dem Computer installierte.

Im Anschluss machte er einen Funktionstest, indem er sich reglos auf das Bett legte, was ihm trotz seiner Müdigkeit erstaunlich schwerfiel. Zu groß war die innere Unruhe. Schon nach einer Minute richtete er sich wieder auf, um zu überprüfen, ob der Bewegungsmelder einen Funkimpuls zu seinem Gegenstück im USB-Slot des Laptops geschickt und die Aufnahmefunktion aktiviert hatte.

Bingo!

Die grüne LED-Lampe des USB-Sticks blinkte im Takt seines Herzschlags und zeigte Leon den Aufnahmestatus an. Als er das Stirnband wieder abnahm und neben sich aufs Kopfkissen legte, veränderte sich die Farbe von Grün zu Rot. Die Aufzeichnung endete, sobald die Kamera in Ruheposition verharrte.

Leon stand auf und ging zum Sekretär.

Mit einer nervösen Mausbewegung ließ er den Bildschirmschoner verschwinden und öffnete das Wiedergabefenster des Videoplayers. Die kurze Aufnahme hatte gerade einmal das Volumen von einem Megabyte und startete sofort nach dem Mausklick.

Leon starrte auf die wenigen Bilder, die seine Kopfbewegungen eingefangen hatten, und ihn überkam ein irritierendes Gefühl, vergleichbar dem, das sich einstellt, wenn man zum ersten Mal die eigene Stimme über Kopfhörer hört. Er sah seine Bettwäsche, verfolgte den Kameraschwenk über den Bauernschrank zu dem Monitor, der auf der Aufnahme fiebrig flackerte, und fühlte sich fremd in seiner gewohnten Umgebung.

Um später nicht von der aufgehenden Sonne geweckt zu werden, ließ er das Rollo vor dem Fenster herunter und zog die Vorhänge zu. Die Kamera hatte eine Infrarotaufnahmefunktion und verfügte über einen Restlichtverstärker, der um einiges sensibler war als das klobige Monstrum, das ihm Dr. Volwarth vor vielen Jahren aufgesetzt hatte.

Trotz Jeans und dickem Sweatshirt war ihm kalt vor Übermüdung, und er überlegte, ein Bad zu nehmen, um die nötige Ruhe zu finden, die er zum Einschlafen brauchte. Allerdings befürchtete er, dass auch das Schaumbad das Gedankenfeuerwerk in seinem Kopf nicht abstellen würde. Schließlich trank er ein Glas Rotwein und zog sich ein dickes, mit einer gummierten Noppensohle ausgestattetes Paar Socken über. Dann setzte er sich das Stirnband mit der Kamera auf, legte sich ins Bett und wartete darauf, dass ihm endlich die Augen zufielen.

Der Nachtwandler
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