Als die Sonne über den Coastal Ranges aufging, war Hearst Castle umgeben von einem Gemisch aus Frühnebel und Rauchschwaden. Die verletzten Einsatzkräfte, Linda Howard und die übrigen Geiseln waren noch in der Nacht abtransportiert worden. Blaue Plastikplanen waren über den Leichen ausgebreitet, die ganz oder zumindest weitgehend vollständig waren.
Inmitten der Trümmer der nach dem Raketeneinschlag weggesprengten Turmspitze verteilte ein Forensiker überall dort rote Fähnchen, wo er Überreste menschlichen Gewebes gefunden hatte. Ein Zweiter erledigte dieselbe Arbeit vor dem Gästehaus, wo sich einer der Terroristen in die Luft gesprengt hatte.
Vorrangige Aufgabe war nun die Suche nach den drei Vermissten. Von Timmy Holford und Martin Frazer fehlte jede Spur. Einer der vier Geiselnehmer war immer noch auf freiem Fuß. Gleich zu Beginn des Einsatzes war das Gelände umstellt worden. Also musste er noch hier sein.
Zwei ferngesteuerte Raupenfahrzeuge, ausgestattet mit Sensoren und Videokameras, waren vor dem Haupteingang in Position gebracht worden, um zumindest das Erdgeschoss des Schlosses zu erkunden. Das kunstvoll gearbeitete Tor war weggesprengt worden, die inneren Türen würden die Roboter mit Greifarmen öffnen – oder, falls dies nicht gelänge, einfach wegsprengen. Major Arano und Commander Leaper standen hinter den beiden Soldaten, die die Fernsteuerung bedienten und starrten gebannt auf die Monitore. Die Scheinwerfer leuchteten die Eingangshalle so perfekt aus, dass sich ihnen ein gestochen scharfes Bild in High Definition bot. Entlang der rechten Seitenwand waren noch die Säcke mit den Kleidungsstücken, die die Geiseln ablegen mussten, fein säuberlich gestapelt. Eine der Kameras schwenkte nach oben gegen die Decke. Nein, zumindest in diesem Raum hatten die Terroristen keine Sprengfallen ausgelegt.
Die nächste Tür führte zum großen Speisesaal. Sie stand halb offen, sodass ein einfacher Befehl an den Greifarm genügte, um sie vollständig zu öffnen. Nur einer der Roboter fuhr in den Speisesaal und bahnte sich einen Weg zwischen den quergestellten Stühlen. Hier hatten die Terroristen gehaust wie die Vandalen. Bilder waren von der Wand gerissen, arabische Schriftzeichen mit Messern in die Holztäfelungen geritzt und auf dem Teppich hatten einige ihre Notdurft verrichtet.
»Diese verfluchten Schweine!«, entfuhr es Commander Leaper.
Jetzt fuhr auch das zweite Kamerafahrzeug in den Speisesaal und inspizierte die andere Seite des riesigen, mittig aufgestellten Tisches. Hier lagen kreuz und quer Bücher, allesamt wertvolle Kunstdrucke und antiquarische Raritäten, über dem Boden verteilt. Einige waren zerrissen worden.
»Weiter geradeaus in den Salon, oder links in den Servierraum?«, fragte einer der Operateure, während er die Monitore nicht aus den Augen verlor und die beiden Joysticks zwischen den Fingern hielt.
»Salon«, antwortete Major Arano knapp und einsilbig.
Für die Kettenraupen des Roboterfahrzeuges waren die auf dem Boden verstreuten Gegenstände kein Problem. Die Tür zum Salon war verschlossen. Der Greifarm bediente die Klinke vergeblich. Eine Zange bestehend aus zwei dünnen aber gehärteten Metallplatten bahnte sich einen Weg durch die Lücke zwischen Tür und Rahmen. Eine Hydraulik baute den nötigen Druck auf, bis das Türschloss mit einem lauten Knall nachgab.
Im Salon waren drei Sitzgruppen im Halbkreis um den offenen Kamin angeordnet – so war es jedenfalls vor der Geiselnahme gewesen. Schon die ersten Bilder, die die Kameras aus dem Raum übertrugen, deuteten darauf hin, dass hier nichts mehr war wie vorher. Die Polster der Sessel waren zerfetzt, das Füllmaterial verteilte sich gleichmäßig über den Teppich. Die Trümmer des Mobiliars stapelten sich neben dem Kamin. Nur ein Tisch war noch intakt und stand exakt in der Mitte des Raumes. Als die Kamera auf diesen Tisch fokussierte, erstarrten die Männer vor den Monitoren. Entlang der Tischkante waren der Reihe nach die Köpfe aller enthaupteten Opfer der letzten zwei Tage aufgereiht, beginnend mit dem verkohlten Haupt von Symone Sorana, der CBS-Reporterin, deren Hubschrauber gleich zu Anfang der Geiselnahme von den Terroristen abgeschossen worden war und deren Kopf Abdul abgetrennt hatte. Rechts daneben der von Steinschlägen geschundene Kopf von Moira Marnell und schließlich die schmerzverzerrte Fratze des Busfahrers JJ Berson.
»Da ist was hinter den Köpfen!«, rief Commander Leaper und deutete auf dem Bildschirm auf eine Rundung zwischen den Köpfen der beiden Frauen.
Als die Linse langsam auf diesen Bereich scharfstellte, tauchte im Dämmerlicht ein Gesicht auf – Timmy Holford!
»Mein Gott, wie sieht der denn aus!« Selbst an einem hartgesottenen Einsatzleiter wie Major Arano ging das Gesehene nicht spurlos vorüber.
Vollkommen regungslos und mit weit aufgerissenen, geröteten Augen saß der Junge hinter dem Tisch und starrte apathisch auf die vor ihm drapierten Köpfe.
»Sprengfallen hin oder her«, mischte sich Leaper ein, »wir müssen das Kind da herausholen – und zwar sofort!«
»Hat mich gefreut, mit Dir zusammenzuarbeiten«, verabschiedete sich Ethan höflich und förmlich von seiner Kollegin aus San Francisco.
»Ganz meinerseits«, entgegnete Georgina. »Ich hoffe nur, dass unsere nächste Zusammenarbeit unter weniger dramatischen Umständen stattfindet.«
»Meine Handynummer brauche ich Dir ja nicht zu geben. Du findest ja eh alles heraus«, scherzte Ethan.
Dazu sagte Georgina jetzt mal lieber nichts. Sie lächelte etwas gekünstelt, gab Einstein einen flüchtigen Kuss auf die Wange und stieg in den bereitgestellten Hubschrauber.
»Gute Heimreise, Einstein!«, meinte Stephen, bevor auch er einstieg.
»Guten Heimflug, Stephen!« Auch die beiden Männer umarmten sich kurz.
»Ich glaube, Einstein hat sich in Dich verguckt«, meinte Stephen etwas schnippisch, nachdem die Luke geschlossen worden war.
Georgina ging auf diese Bemerkung nicht ein. Schweigend blickte sie aus dem Seitenfenster des Hubschraubers auf die immer kleiner werdenden Gebäude unter ihr. Hearst Castle in der Morgensonne – wie friedlich es da lag! Man musste schon genauer hinsehen, um die Einsatzfahrzeuge zu erkennen, die den Zufahrtsweg zum Schloss blockierten. Im nächsten Moment drehte die Maschine ab und überflog die bewaldeten Hügel, die den Big Sur, die grandiose Küstenlandschaft südlich von Monterey, säumten. Aber Georgina hatte nun absolut keinen Nerv für die Schönheiten der Landschaft.
»Die Sache ist noch nicht vorbei.«
Stephen Morris blickte sich zu ihr um. Führte seine Kollegin da gerade ein Selbstgespräch?
»Wer von den vier Terroristen auch immer noch frei herumläuft, kommt nicht weit«, meinte Stephen zuversichtlich.
»Ich habe letzte Nacht im Zellentruck mit Fernando Llorente gesprochen«, begann Georgina ihren verdutzten Kollegen aufzuklären. »Martin Frazer hat sich in der Geiselhaft auffällig verhalten. Er hat die Bücherregale durchsucht.«
»In Geiselhaft verhält sich ja wohl niemand normal«, versuchte Stephen abzuwiegeln. Seine Kollegin sah wohl Gespenster.
»Kann sein. Aber keine Geisel verschwindet einfach, wenn die Geiselnahme beendet ist. Dazu kommt, dass Fernando in seiner Aussage gegenüber Harvey Frazers Verhalten angesprochen hat. Diese Passagen wurden aus den Videoprotokollen herausgeschnitten. Vor dem Abflug habe ich mit Director Crain darüber gesprochen. Der hat mir unmissverständlich zu Verstehen gegeben, dass ich mich da heraushalten sollte und mich gefälligst auf die Auswertung von Daten zu beschränken hätte.«
Stephen Morris nickte. Er kannte seine ehrgeizige Datenanalystin nur zu gut. Sie fühlte sich zu Höherem berufen, als ständig nur hinter dem Bildschirm zu hocken. Sie würde nicht locker lassen.
»Lass uns das morgen in Ruhe besprechen«, schlug Morris vor. »Was mich betrifft, ich bin total übernächtigt und werde mich zuhause ins Bett legen – nachdem ich beim Computer meiner Tochter die Lautsprecher abgestöpselt habe.«
Georgina grinste. »Ja, ich glaube, ich werde auch ins Koma fallen, sobald ich ein Bett sehe. Mike müsste um diese Zeit schon bei der Arbeit sein. Da kann ich wenigstens in Ruhe schlafen.«
»Wie hat Dir eigentlich Einstein gefallen?«, wechselte Stephen das Thema.
»Ethan? Der mag ja eine Koryphäe auf seinem Gebiet sein, aber Frauen gegenüber benimmt er sich wie ein Schuljunge. Er hat mir bei jeder Gelegenheit in den Ausschnitt gestarrt.«
Jetzt musste Stephen grinsen.
***
'01:17 p.m. Shyboy123: morgen mittag in san miguel indian valley road 100 m nördlich abzweigung cross canyons road wenn du infos zu linda willst.'
'01:17 p.m. Lindypat: was für infos?'
'01:18 p.m. Shyboy123: du wirst sehen. komm alleine oder bleib weg.'
Paula las nochmals die Nachrichten, die sie aus Lindas Chat auf ihr Smartphone weitergeleitet hatte. Es war zwar erst kurz nach zehn Uhr, aber sie wollte auf keinen Fall zu spät kommen. Die von Shyboy123 benannte Stelle entpuppte sich als Einfahrt zu einem unbebauten Gelände. Der kurze Seitenweg war von einer Mauer gesäumt. Ein schmiedeeisernes Tor versperrte die Zufahrt. Entlang der Indian Valley Road verlief ein Stacheldraht, dahinter sorgte eine Reihe von Bäumen und Büschen halbwegs für einen Sichtschutz.
Paula schaute sich um. Niemand war zu sehen. So ganz alleine hatte sie sich nicht ins Nirgendwo getraut. Noch in der Nacht hatte sie Alec und Terry angerufen und für den nächsten Vormittag nach San Miguel bestellt. Sie warteten im Wagen an der Einmündung der Cross Canyons Road. Die knapp einen Meter hohe Ziermauer neben dem Tor stellte für Paula kein wirkliches Hindernis dar. Sie musste wissen, was sich hinter dem Tor befand. Als sie etwa zehn Schritte weiter ging, stellte sie fest, dass das Grundstück nicht so unbebaut war, wie es vor dem Tor den Anschein gehabt hatte. Weiter nördlich stand eine heruntergekommene Wellblechbaracke. Daneben verlief ein schnurgerader, unbefestigter Weg. Die Grundstücksgrenze im Norden war für Paula nicht zu erkennen. Im Westen säumte lockeres Buschwerk das staubtrockene, vegetationslose Gelände.
Für einen kurzen Moment spielte Paula mit dem Gedanken, die Baracke näher zu untersuchen, dann jedoch übermannte sie der Durst. Sie erinnerte sich an die Wasserflasche im Wagen und trat den Rückweg an. Ferner begann sie, unter den Achseln zu transpirieren. So wollte sie Shyboy123 nicht begegnen. Erneut überwand sie die Mauer und lief die einhundert Meter zum Wagen.
»Na, schwitzt Ihr auch schon so wie ich? Dabei ist noch gar nicht Mittag!« Ihren beiden Kollegen schien die Hitze weniger auszumachen. Bei halbgeöffneten Seitenfenstern saßen sie immer noch im blauen Pontiac, der mit einer dünnen Staubschicht bedeckt war. Sie stellte sich neben den Wagen und schaute sich erneut um. »Hoffentlich kommt dieser Shyboy123 bald! Ich verdurste gleich! Terry reich mir mal die Wasserflasche! Hinter dem Tor ist nichts außer einer verfallenen Wellblechhütte. Was für eine Scheißgegend! Terry! Die Wasserflasche! Terry?«
Erst jetzt bückte sich Paula, um durch das Seitenfenster auf der Fahrerseite zu schauen. Es dauerte eine Weile, bis das Miststück die Situation begriff. Terry und Alec saßen aufrecht und angeschnallt in ihren Sitzen und blickten starr gerade aus.
»He, seid Ihr eingeschlafen?«
Paula rüttelte an Terry, dessen Kopf zur Seite kippte. In seiner Schläfe klaffte ein kreisrundes Loch. Die Schmeißfliege stieß einen unterdrückten Schrei aus, als sie rückwärts taumelte. Sie stieß gegen ein Hindernis. Jemand packte sie an der Schulter und riss sie herum.
»Was habe ich Dir geschrieben? Du solltest alleine kommen! Sieh, was Du angerichtet hast!«
»Shyboy?«, entfuhr es Paula. Sie versuchte, dem Mann in die Augen zu schauen, als dessen flache Hand ihr Gesicht zur Seite schlug. Noch zwei, drei weitere Schläge verspürte Paula, bevor sie das Bewusstsein verlor.
***
Georgina war froh, dass Stephen seiner eigenen Übermüdung zum Trotz einen Umweg fuhr und sie vor ihrer Haustür absetzte. Jetzt noch kurz unter die Dusche und dann ab ins Bett! Etwas fahrig hantierte sie mit dem Schlüssel, bis sie merkte, dass die Tür gar nicht abgeschlossen war. Kaum hatte sie geöffnet, erblickte sie vor sich einen verdutzten Mike, der nackt und unschlüssig in der Mitte der Wohnküche stand.
»Gina?«
»Hi Mike!«, lächelte die Übermüdete, die bei diesem Anblick die Hoffnung auf eine ungestörte Bettruhe schwinden sah. »Bist Du nicht bei der Arbeit?«
»Gina, mein Schatz, ich habe Dich nicht erwartet!«
»Mike, ich bin todmüde.« Georgina beließ es bei einem flüchtigen Kuss. »Ich geh' mich nur kurz duschen.«
»Gina!«, hörte sie Mike hinter sich rufen, als sie die Badtür öffnete.
Im ersten Moment glaubte Georgina in einen Spiegel zu schauen, als sie die Frau im Bad erblickte. Sie war schwarz so wie sie, hatte in etwa ihre Figur und ebenfalls geglättete, schulterlange Haare. Auch die Körbchengröße kam hin. Sie konnte das beurteilen, denn die Frau hatte lediglich ein Badehandtuch um ihre Hüften geschlungen – ihr Handtuch!
»Upps!«, entfuhr es der Fremden gefolgt von einem verlegenen Lächeln.
»Gina, es ist nicht so, wie Du denkst!« Mike war hinter ihr hergelaufen.
»Nenn' mich nicht Gina!«, herrschte Georgina ihn an. Vorher hatte sie diese Kurzform ihres Namens nie gestört. »Zwei Nächte bin ich weg und Du kannst Deinen Schwanz nicht in der Hose lassen! Soll ich mich geschmeichelt fühlen, dass Du Dir eine ausgesucht hast, die so ähnlich aussieht wie ich?«
Georginas Müdigkeit war wie weggeblasen. Wutentbrannt riss sie einen Koffer vom Schrank herunter und stopfte wahllos irgendwelche Klamotten hinein. Inzwischen hatte sich Mikes neue Flamme hastig etwas übergezogen und lehnte teilnahmslos an der Wand. Georgina griff sich noch ein paar Fläschchen und Utensilien aus dem Bad, bevor sie zum Rundumschlag ausholte.
»Den Rest hole ich in ein paar Tagen ab. Die Wohnung gehört ab heute Dir.«
»Georgina, Du weißt, dass ich sie alleine nicht bezahlen kann«, jammerte Mike.
»Das hättest Du Dir vorher überlegen müssen!«, zischte Georgina. »Vielleicht kann sich Deine Neue unten an der Straßenecke etwas dazuverdienen.«
»Ich war gestern bei Shoney's frühstücken. Sie sah Dir so ähnlich. Im ersten Moment dachte ich, Du wärst es. Ich habe sie angestarrt und da hat Olivia mich angesprochen.«
»Habt Ihr es noch bis hierher geschafft, oder seid Ihr gleich bei Shoney's übereinander hergefallen?«
Mit diesen Worten zerschellte eine Flasche des teuren Parfüms, das ihr Mike zu Weihnachten geschenkt hatte, am Küchenschrank.
»Viel Spaß noch beim Aufräumen!«
Georgina schnappte ihre Autoschlüssel und knallte die Tür hinter sich zu.
»Scheiße! Scheiße! Scheiße!« Mit ihren Fäusten malträtierte sie das Lenkrad, ehe sie tief durchatmete, eine Träne aus dem Gesicht wischte und den Zündschlüssel umdrehte.
***
Auch nach zwei Stunden intensiver Suche fehlte von dem vierten Terroristen und Martin Frazer jede Spur. FBI-Director Anthony Crain und Austin Harvey, der leitende Ermittler der Homeland Security, inspizierten das Schloss, dass durch den nächtlichen Einsatz arg in Mitleidenschaft gezogen war.
»Wir können behaupten, die Islamisten hätten den Turm gesprengt«, schlug Crain vor, während er nach oben auf die weggesprengte Turmspitze schaute.
»So wie diese Barbaren im Mittleren Osten wüten, nimmt uns das bestimmt jeder ab«, pflichtete ihm Harvey bei. »Ich möchte jedenfalls nicht in die Geschichte der Homeland Security als der Director eingehen, unter dessen Befehl amerikanisches Kulturgut zerstört wurde.«
»Solange noch einer der Täter frei herumläuft, kann uns diese Lüge irgendwann um die Ohren fliegen«, gab Crain zu bedenken.
»Der wird bei seiner Verhaftung Gegenwehr leisten und wir werden ihn erschießen. Das spart uns jede Menge Scherereien und dem Steuerzahler eine Stange Geld.«
»Und was machen wir mit dem Gärtner?«
»Llorente? Den haben wir laufen lassen.«
Harvey bemerkte die Irritation in Crains Gesichtsausdruck und beeilte sich, diese Aktion zu rechtfertigen: »Es besteht keine Fluchtgefahr. Die anderen Geiseln sind auch frei. Sie sind in medizinischer Behandlung. Wir müssen in den nächsten Tagen jeden Einzelnen ganz genau verhören. Je länger wir warten, umso verschwommener werden ihre Erinnerungen sein. Es gibt nur eine Person, die mir Sorgen bereitet.«
»Sie meinen diesen Martin Frazer?« Abrupt blieb Crain stehen.
»Nein«, entgegnete Harvey. »Frazer wird früher oder später wieder auftauchen. Aber das eigentliche Problem ist Georgina May, unsere afrikanische Perle aus San Francisco. Sie hat in der vergangenen Nacht Llorentes Zelle geöffnet.«
»Hatte sie nach zwei enthaltsamen Nächten Lust auf einen One-Night-Stand?«, witzelte Crain. »Da hätte sie auch zu mir kommen können!«
»Weiß der Teufel. Jedenfalls hat sie mit ihm geredet.«
»Ja, vorhin vor ihrem Abflug ist sie mir damit in den Ohren gelegen. Wir müssen sicherstellen, dass sie nicht auf eigene Faust weiter ermittelt. Diese Frau gilt als Koryphäe auf dem Gebiet der Datenanalyse.«
»Keine Sorge, Anthony«, beschwichtigte Harvey, »an unsere Daten kommt sie nicht heran. So gut kann sie gar nicht sein. Und sollte sie sich doch in unsere Systeme hacken, merken das meine Leute sofort. Dann ist sie fällig wegen Spionage und Landesverrat.«
Die Männer unterbrachen ihre Konversation, als sie Commander Leaper auf sich zukommen sahen.
»Meine Herren, das sollten Sie sich ansehen!«
»Was?«
»Östlich des Schlosses befinden sich alte Pferdestallungen. Dort liegt frisches Stroh und einige der Pferdeäpfel sind noch feucht und warm. Hier hat bis vor Kurzem mindestens ein Pferd gestanden. «
»Heißt das, dass einer der Terroristen auf einem Pferd entkommen ist?«, fragte Harvey.
»Das kann gut sein. Östlich des Schlosses schließt sich nichts als unwegsames Gelände an. Wir haben uns bei der Sicherung der Umgebung auf den westlichen Teil konzentriert – auf Ihre Veranlassung!«, versuchte sich Crain zu rechtfertigen.
In diesem Moment klingelte Harveys Mobiltelefon.
»Ihre Frau oder der Präsident?«, fragte Crain, während Harvey es eilig hatte, das Gerät aus der Tasche zu bekommen und das Gespräch anzunehmen.
»Weder noch«, antwortete Harvey einsilbig, »Meine Herren, ich muss Sie bitten, sich etwas zu entfernen – im Namen der nationalen Sicherheit.«
***
Nachdem Georgina in der FBI-Zentrale angekommen war, ging sie nicht wie sonst schnurstracks in ihr Büro, sondern versuchte, sich im Untergeschoss zu orientieren. In den sieben Dienstjahren in San Francisco war sie hier unten nur zwei oder dreimal gewesen. Hier gab es Aufenthaltsräume für die im Außendienst tätigen Mannschaften und hier musste es auch eine Dusche geben.
In einem Seitentrakt wurde sie fündig. Der gekachelte Raum erinnerte Georgina an die Gemeinschaftsdusche in der Sporthalle ihrer früheren High School. Es gab keine getrennten Duschkabinen, sondern lediglich halbkreisförmige, gekachelte Buchten, die keinerlei Privatsphäre boten.
Georgina war alles andere als prüde, aber in ihrer Situation war sie froh, allein zu sein. Aus ihrem Koffer hatte sie eine frische Garnitur entnommen und achtete sorgfältig darauf, ihre miefenden und verschwitzten Kleidungsstücke getrennt davon auf die Holzbank vor den Spinden zu legen, während sie sich auszog. Minutenlang ließ sie das warme Wasser über ihre Haut rinnen.
»Na, Ärger zu Hause? Ich frag' ja nur, weil ich Dich hier noch nie gesehen habe. Die meisten Schwestern aus den oberen Etagen verirren sich nur hier runter, wenn sie mit ihrem Macker oder ihrem Lover Stress haben.«
Etwas verärgert blickte Georgina zur Seite. Von allen freien Duschen hatte sich eine rothaarige Quasselstrippe genau die Dusche neben ihr ausgesucht. Ihre roten Haare waren nicht gefärbt, der gekräuselte Wildwuchs zwischen ihren Beinen war einen Tick blonder. Was Georgina am meisten irritierte waren diese Unmengen an Sommersprossen. Auf der Haut dieser Frau gab es praktisch keinen Quadratzentimeter mit nicht mindestens einem Fleck. 'Oh Gott, danke, dass ich schwarz bin!', dachte sie.
»Hearst Castle, Spezialeinsatz«, antwortete Georgina kurz, nachdem sie ihre Duschnachbarin lange genug betrachtet hatte.
Diese Antwort bereute sie, kaum dass sie es ausgesprochen hatte, denn nun setzte ein neuer Redeschwall ein: »Hearst Castle? Du warst auf Hearst Castle? Das muss ja krass gewesen sein! Wir waren hier ebenfalls in Alarmbereitschaft und sollten auch dort hin, sind dann aber nur zur Unterstützung der örtlichen Polizei abberufen worden. Der Befehl kam von ganz oben. Es gab Unruhen, weißt Du! Wären wir auch dort gewesen, wäre dieses Schwein sicher nicht entkommen. Der ist sicher nach Osten über die Berge entkommen. Diesen Bereich hätten wir absichern sollen. Das war klar, dass das die Kollegen aus L.A. alleine nicht hinkriegen. Aber mich fragt ja keiner.«
»Kann ich etwas von Deiner Duschcreme haben?«, unterbrach Georgina die nervige Tratschbase. Sie hatte bemerkt, dass sie aus Versehen Mikes Duschgel eingepackt hatte. Und nach Mike wollte sie auf keinen Fall riechen, wenn sie hier fertig war.
»Ja klar!« Bereitwillig drückte die Rothaarige etwas von einer penetrant nach Lavendel riechenden Flüssigseife aus ihrer Flasche auf Georginas dargebotene Handfläche.
»Danke, das reicht!«
»Ich kann es Dir auf dem Rücken verteilen, wenn Du willst.«
»Nein Danke! Nicht nötig!« Instinktiv wich Georgina einen Schritt zurück.
»Warst Du bei der Geiselbefreiung dabei? Wir haben vorhin die Bilder im Fernsehen gesehen. Die Islamisten haben ja einen der Türme weggesprengt. Schade! Das schöne Schloss! Was für eine Schande! Und den kleinen Jungen haben sie auch gefunden. Der saß völlig verstört in einem Raum im Schloss zusammen mit den abgetrennten Köpfen. Stell Dir das mal vor!«
»Sorry, aber ich muss los.« Georgina hatte es eilig, sich abzutrocknen und anzuziehen.
***
»Ich glaube, sie kommt zu sich.«
Paulas Schädel dröhnte. Sie öffnete die Augen, aber um sie herum war es stockdunkel. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass ihre Augen verbunden waren. Der Versuch, die Binde zu entfernen, scheiterte daran, dass ihre Arme schwer waren – bleischwer. Ihre Handgelenke schmerzten. Jetzt wurde ihr bewusst, dass sie an irgendeinem Gegenstand festgebunden war. Sie konnte sich kaum bewegen. Es war heiß wie in einem Backofen. Sie lag auf einem weichen Untergrund.
»He! Aufwachen!«
Eine Hand umfasste ihren Unterkiefer und schüttelte ihren Kopf energisch hin und her. Jetzt wurden die Kopfschmerzen unerträglich. Paula stöhnte.
»Ich schneide jetzt die Fesseln durch. Versprichst Du, vernünftig zu sein?«
Paula versuchte zu nicken. Diese Stimme kam ihr irgendwie bekannt vor. Das also war Shyboy123! Während sie spürte, wie sich jemand an den Fesseln zu schaffen machte, fiel ihr wieder ein, was mit ihren Kollegen Terry und Alec passiert war. Panik ergriff sie. Shyboy123 war ein Mörder!
»Du bist Paula Webber, die Reporterin?«, fragte die Stimme, nachdem die Fesseln durchschnitten und sie gepackt und aufrecht hingesetzt wurde.
Paula nickte. Jetzt spürte sie, dass sie auf einem Bett saß. Die Federn der Matratze schmerzten. Im Raum waberte ein muffiger Geruch. Ihre Augen waren immer noch verbunden.
»Warum hast Du Dich als Lindypat ausgegeben?«
»Ich wollte wissen, wer Shyboy123 ist«, antwortete das Miststück kleinlaut, verängstigt und verunsichert zugleich.
»Wieso hattest Du Zugriff auf Lindas Chat?«
»Ich habe über Linda Howard recherchiert. Sie war eine der Hearst-Castle-Geiseln. Ihre Freundin hat mir ihr Notebook gegeben.«
Einen Moment herrschte Stille. Immer stärker hämmerten die Kopfschmerzen in Paulas Kopf. Dann hörte sie ein Geräusch aus einer anderen Richtung. Außer ihr mussten mindestens zwei Personen im Raum sein. Aber nur einer redete mit ihr. Wenn ihr nur einfallen würde, woher sie diese Stimme kannte!
»Du bist also diese elende, sensationsgierige Reporterin, die sich am Leid anderer Leute aufgeilt.«
»Ich mache doch nur meine Arbeit!« Die Schmeißfliege winselte um Gnade. Einen weiteren Schlag ins Gesicht würde sie nicht überleben.
»Arbeit nennst Du das? Was versprichst Du Dir von einem Treffen mit Shyboy123?«
Paula wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Aber sie spürte, dass jetzt die richtigen Worte über Leben und Tod entschieden.
»Wenn man alles über das Opfer einer Entführung weiß, kann das sein Leben retten.« Das war eine abgedroschene Phrase, die sie mal irgendwo gelesen hatte. Sie konnte nur hoffen, dass der Mann ihrer Argumentation folgte.
Der Mann lachte nur. Es war ein spöttisches, überlegenes Lachen. »Jetzt pass gut auf, Du elendes kleines Dreckstück. Ich stelle Dir jetzt eine Frage. Deine Antwort entscheidet darüber, ob ich Dich am Leben lasse, oder ob Du so endest wie Deine beiden Freunde.«
Paula spürte, wie der Angstschweiß aus all ihren Poren austrat. Sie zitterte. Als sie spürte, wie eine Hand ihre linke Brust berührte, wagte sie es nicht, sich zu bewegen. Wann kam endlich diese alles entscheidende Frage?
»Wie weit würdest Du für eine gute Reportage gehen? Klaust Du nur einem kleinen Mädchen das Notebook, oder würdest Du mit einem Gesetzesbrecher gemeinsame Sache machen?«
Unwillkürlich musste Paula an ihre Kindheit denken – die Katze, der Autounfall, ihre Nebenbuhlerin. Dann nahm sie allen Mut zusammen und sagte: »Für eine gute Reportage würde ich weit gehen – sehr weit.«
»Na gut«, antwortete die Stimme, »wenn Du nicht weit genug gehst, bringe ich Dich eigenhändig um. Gehst Du zu weit, landest Du in der Todeszelle. Es liegt an Dir.«
In diesem Moment wurde ihr die Binde heruntergerissen. Es dauerte eine Weile, bis sich Paulas Augen an das Dämmerlicht gewöhnten. Vor ihr stand ein Mann.
»Sie?«, fragte Paula ungläubig. »Sie sind Shyboy123?«
***
Georgina lehnte ihr Smartphone gegen einen ihrer Monitore und stellte den Countdown auf dreißig Minuten. So machte sie es immer, wenn sie konzentriert an einem Problem arbeiten wollte. Sie stellte sich eine präzise Aufgabe und arbeitete gegen die Zeit. In dieser halben Stunde würde sie alle Störfaktoren ausblenden, die mit Mike, Müdigkeit und sonstigen Widrigkeiten zu tun hatten. Auf diese Weise vermied sie es, nach fünf Minuten wie geistesabwesend auf einen der Bildschirme zu starren, während sich ihre Finger auf der Tastatur ausruhten. Ihre Kollegen kannten das. Lief der Countdown, war Georgina nicht ansprechbar.
Ihre Aufgabe: finde alles über Martin Frazer heraus. Er war die einzige Geisel gewesen, die sie während ihres Aufenthalts in der mobilen Einsatzzentrale nicht überprüft hatte. Und ausgerechnet er war wie vom Erdboden verschluckt.
In den polizeilichen Datenbanken tauchte der Fremdenführer jedenfalls nicht auf. Er war strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten. Der Countdown stand jetzt auf 28 Minuten 19 Sekunden.
Die Daten der Sozialversicherung wiesen Frazer als ledig und kinderlos aus. Er lebte in San Simeon in dem Haus, das er von seiner vor drei Jahren verstorbenen Mutter Patricia geerbt hatte. Martin hatte an der Universität in Berkeley amerikanische Geschichte studiert und eine Abschlussarbeit mit dem Titel 'Die Gäste auf Hearst Castle – Ihr Einfluss auf die Diplomatie und Kultur zwischen den beiden Weltkriegen'. Georgina zog die Augenbrauen hoch – wie immer, wenn es interessant wurde. Hearst Castle schien ein Teil von Martin Frazers Leben zu sein. Und so jemand soll bei der Planung eines Anschlages auf das Schloss behilflich gewesen sein? Jetzt erinnerte sich Georgina wieder an Fernandos Schilderung, wie Martin in der Geiselhaft die Bücherregale leergeräumt hatte. Der Countdown zeigte 21 Minuten 39 Sekunden.
Da Hearst Castle als State Park unter kalifornischer Verwaltung stand, fiel es ihr nicht schwer, auf Frazers eingescannte Personalakte zuzugreifen. Bereits vor dem Abschluss seines Studiums hatte er sich um eine Stelle als Touristenführer beworben. 'Überqualifiziert' hatte jemand handschriftlich neben dem Lebenslauf vermerkt. Warum wollte Frazer unbedingt zum Hearst Castle? Hatte er sich auch anderswo beworben? Ungeachtet seiner Qualifikation erfüllte sich Martins Berufswunsch. Seit sieben Jahren führte er tagaus tagein Besucher durch das Schloss – und das offensichtlich zur vollsten Zufriedenheit seines Arbeitgebers. Jetzt verblieben Georgina noch 9 Minuten und 23 Sekunden.
Doch dann las sie weiter und entdeckte einen Akteneintrag vom 5. März 2012. Martin war in die Zentralverwaltung der California State Parks zitiert und zu einem Vorfall befragt worden, der eine Woche zurücklag. Die damals neu eingestellte und sehr diensteifrige Sicherheitsbeauftragte Gina Hines hatte gemeldet, dass sich Frazer nach Dienstschluss in der Bibliothek aufgehalten und damit gegen die Sicherheitsbestimmungen verstoßen hatte. Martin hatte erklärt, dass er seine Forschungen zur Geschichte des Hearst Castle gerne fortsetzen wollte. Dies wurde ihm von nun an untersagt. Die wertvollen Kunstdrucke dürften auf keinen Fall beschädigt werden. Hatte Martin Frazer das Chaos der Geiselnahme ausgenutzt, um seine Studien fortzusetzen? Und das unter Todesangst? Wohl kaum! Fernando hatte geschildert, dass Martin die Bücher eher hektisch und wahllos gestapelt hatte.
Nervös schaute Georgina auf den Countdown. Noch 4 Minuten 08 Sekunden bis zur Zielerreichung. Eine entscheidende Erkenntnis, die den Verdacht gegen Frazer erhärten könnte, hatte sie immer noch nicht gefunden. Erneut scrollte sie durch Frazers Personalakte. Schließlich fand sie einen Hinweis, den sie vorerst nicht einordnen konnte. Frazers Mutter Patricia war eine geborene Boyle. Bereits Frazers Großvater mütterlicherseits war auf Hearst Castle angestellt gewesen – sein Name: Warren Boyle.
***
Paula traute ihren Augen nicht. Aber es gab keinen Zweifel. Vor ihr stand America's Most Wanted, Abdul Sahir. Sie erkannte ihn sofort, obwohl er seinen Bart abrasiert hatte. Mehr als genug Bilder von ihm flimmerten in diesen Tagen über die Bildschirme oder waren in Zeitungen abgedruckt. Abdul schaute sie an und grinste.
»Ja, ich bin Shyboy123. Wen hast Du erwartet? Einen alten, sabbernden Pädophilen oder einen schüchternen Nerd mit Hornbrille, der sich nicht traut, ein Mädchen wie Linda auf dem Schulhof anzusprechen?«
Abdul lachte und Paula rutschte auf der Matratze nach hinten. Vor ihrem geistigen Auge erschienen die Gräueltaten der vergangenen Tage und sie fragte sich, ob sie nun lebend enthauptet oder vorher noch gesteinigt würde. Dann fiel ihr fragender Blick auf den zweiten Mann, der völlig unbeteiligt in der Ecke des Raumes stand. Sein Gesicht wies Schürfwunden und blaue Flecke auf. Das linke Auge war zugeschwollen.
»Wo ist Linda Howard?« Paula musste allen Mut zusammennehmen, um diese Frage über ihre Lippen zu bringen.
»Tot oder befreit«, antwortete Abdul. »Ich weiß es nicht. Ich habe heute noch keine Nachrichten gehört und es ist mir auch egal. Sie hat ihren Zweck erfüllt.«
»Ihren Zweck?«
»Lamin, Muhamed und Sanel waren überzeugte Islamisten. Ich rede von ihnen in der Vergangenheitsform, da ich mir sicher bin, dass sie tot sind. Aber sie waren auch typische Amerikaner. Die versprochenen Jungfrauen im Paradies waren ihnen nicht genug. Sie wollten vorher eine kleine Kostprobe.«
Abduls Grinsen war diesmal eher spöttisch, als er an Paulas Gesichtszügen sah, dass sie langsam begann, die Zusammenhänge zu kapieren.
»Ja, ich habe das kleine dumme Ding benutzt. Einzelheiten erzähle ich Dir später. Aber vorher musst Du etwas für mich tun. Betrachte es als eine Art Aufnahmeprüfung. Wenn Du diese bestehst, gehörst Du zu uns und bekommst die Story Deines Lebens geliefert. Damit kannst Du ganz groß raus kommen – und das willst Du doch, oder?«
Paula war verblüfft, wie gut dieser Abdul sie durchschaute. »Und was ist, wenn ich nicht bestehe?«
»Dann schneide ich Dir den Kopf ab.« Abduls Miene wirkte nun auf Paula besonders bedrohlich.
»Was muss ich tun?«, fragte sie mit zugeschnürter Kehle.
»Draußen steht der Wagen mit Deinen toten Kollegen. Fahre hinaus in die Berge und verbrenne sie!«
Paula musste schlucken. Mit Terry und Alec hatte sie schon so lange zusammengearbeitet. Alec war erst vor zwei Monaten Vater geworden. Und jetzt sollte sie die beiden wie Abfall entsorgen? Unwillkürlich musste sie an die Sache mit der Katze im Einkaufswagen denken.
»Gut, ich mache es!«, sagte sie nach kurzem Zögern.
Abdul schaute zu dem anderen Mann und nickte. Beide grinsten überlegen. Jetzt öffnete Abdul die Tür und gleißendes Sonnenlicht blendete Paula.
»Nach Dir!«
Paula erhob sich und wankte durch die Tür. Erst jetzt begriff sie, dass sie vor der heruntergekommenen Wellblechhütte stand, die sie bei der kurzen Besichtigung des verlassenen Geländes gesehen hatte. Hinter der Hütte stand der blaue Pontiac mit den beiden Leichen sowie ein Motorrad. Mit Motorrädern kannte sich Paula nicht aus, aber dieses Gefährt sah aus wie eine Geländemaschine. Waren Abdul und der zweite Mann damit vom Hearst Castle entkommen?
Paula spürte ihre weichen Knie, als sie zögerlich auf das Auto zuging. Terrys Leiche saß nicht mehr auf dem Fahrersitz, sondern lag auf der Rückbank. Die Männer öffneten den Kofferraum, um einen Benzinkanister darin zu verstauen. Dabei erblickten sie eine Reisetasche.
»Deine?«, fragte Abdul kurz und knapp.
»Ja.«
»Du fährst!«, befahl Abdul, nachdem er die Tasche genommen und neben dem Wagen in den Staub geworfen hatte.
Paula schauderte es bei dem Gedanken, auf einem Sitz Platz zu nehmen, auf dem gerade noch eine Leiche gesessen hatte. Dennoch stieg sie ein. Direkt neben ihr auf dem Beifahrersitz wurde Alec's toter Körper durch den Sicherheitsgurt in aufrechter Position gehalten. Nur sein Kopf war nach vorne gekippt.
»Denk an Deine Aufnahmeprüfung«, mahnte Abdul, dem Paulas Zögern nicht entgangen war. »Du fährst die Cross Canyon Road bis zu deren Ende. Ich folge Dir auf dem Motorrad. Versuchst Du zu fliehen, werde ich Dich töten.«
Ein leicht süßlicher Geruch stieg ihr in die Nase. Bei der Hitze hatte bereits die Verwesung eingesetzt. Sie unterdrückte den aufkommenden Würgreiz. Abdul stieg auf das Motorrad und ließ den Motor aufheulen. Der andere Mann blieb bei der Hütte zurück, nachdem er das Tor kurz geöffnet und hinter den Fahrzeugen wieder geschlossen hatte.
Die Cross Canyon Road war nur auf den ersten paar hundert Metern befestigt. Danach wirbelte der Pontiac eine Staubwolke auf. Paula schaute in den Rückspiegel. War Abdul noch hinter ihr? Die Piste führte in immer enger werdenden Kurven in eine hügelige Ödnis. Der Ort war gut gewählt, um einen Wagen mit zwei Leichen verschwinden zu lassen.
Je schmaler die Straße wurde, umso hysterischer wurde Paula. Salziger Schweiß rann über ihr Gesicht und brannte in den Augen. Hektisch wischte sie sich über die Augen, bis sie eine Bodenwelle übersah und den Pontiac aufsetzte.
»Das reicht«, sagte Abdul, als er neben der Fahrertür auftauchte.
Paula war froh, endlich aussteigen zu können.
»Alle Fenster herunterkurbeln!«
»Und jetzt nimm den Kanister!«, kam als nächster Befehl.
»Worauf wartest Du?«, fragte Abdul verärgert, als er sah, wie Paula etwas unschlüssig neben dem Wagen stand.
»Ich möchte ein paar Fotos machen.« Die eben noch so verängstigte Paula hatte sich wieder in das alte Miststück verwandelt.
»Nur zu!«, meinte Abdul tonlos, obwohl sogar er über dieses Maß an Abgebrühtheit überrascht war.
Die Schmeißfliege zückte ihre Digitalkamera, die sie immer und überall dabei hatte, und begann mit einigen Detailaufnahmen der Leichen. Erst jetzt entdeckte sie das Notebook neben Terrys Leiche auf dem Rücksitz – Lindas Notebook! Abdul hatte es ihr abgenommen, nachdem er sie bewusstlos geschlagen hatte. Jetzt hatte er vor, auch dieses Beweismittel zu beseitigen.
Kaum hatte sie den Inhalt des Kanisters mehr oder weniger gleichmäßig im Wageninneren verteilt und unter Abduls Anleitung ein brennendes Stück Holz aus sicherer Entfernung durch eines der Seitenfenster geworfen, hatte sie es eilig, eine weitere Bilderserie zu schießen. Paula atmete tief durch. Der Gestank von verbranntem Fleisch vermischte sich mit dem stechenden Geruch von verschmortem Plastik. Die Bilder würde sie niemals öffentlich zeigen können, ohne erklären zu müssen, unter welchen Umständen diese Aufnahmen zustande gekommen waren. Aber sie freute sich schon darauf, sich alleine beim Betrachten dieser Fotos aufzugeilen.
»Okay, das reicht. Wir müssen weg«, drängte Abdul, der bereits wieder auf seiner Maschine saß und Paula mit einer Kopfbewegung andeutete, auf dem Sozius Platz zu nehmen.
Anfangs versuchte sie sich an einem Riemen festzuhalten, der quer über die Sitzfläche verlief. Der holprige Untergrund erforderte es jedoch, dass sie ihre Arme um den Oberkörper des Terroristen schlingen musste, wollte sie nicht herunterfallen. Was machte sie da eigentlich? Aufkommende Zweifel erstickte sie im Keim, als sie an die Bilder denken musste, die sie soeben geschossen hatte. Um an exklusives Material zu kommen, musste man unkonventionelle Wege gehen. So war das eben!
Nach fünf Minuten hielt Abdul unvermittelt an, stieg vom Motorrad und drehte sich um. Zufrieden stellte er fest, dass die Rauchsäule des brennenden Fahrzeuges hinter den Hügeln nicht zu erkennen war.
»Abdul!« Paula fasste sich ein Herz.
Dieser tat so, als hätte er sie überhört.
»Darf ich Dich etwas fragen?«
»Fragen darfst Du, aber nenn' mich nicht Abdul!«
Paula stutzte.
»Daniel. Ich heiße Daniel.«
»Ich dachte, Du bist konvertiert!«
»Ja, das denken viele«, lachte Daniel Slatkin, »für unsere Aktion auf dem Schloss brauchte ich Helfer. Und Leute wie Muhamed, Jamin und Sanel gehorchen lieber einem Abdul Sahir als einem Daniel Slatkin.«
Jetzt blieb der Schmeißfliege die Spucke weg. So langsam wurde ihr klar, warum Daniel alias Abdul seinen wilden Bart abrasiert hatte. »Der Dschihad, die Forderungen nach Schließung von Guantanamo, die schwarze Flagge des islamischen Staates - alles nur Show?«
»Bingo! Du hast es begriffen!«
»Und wofür die ganzen Toten? Die Enthauptungen?« Paulas Fragen waren Ausdruck von Unverständnis gemischt mit Faszination.
»Collateral Damage. Es musste echt aussehen. Mir war von vornherein klar, dass die amerikanische Regierung nicht auf unsere Forderungen eingehen würde.«
»Und warum dann das Ganze?«
»Das erfährst Du noch rechtzeitig.«
»Ich will es aber jetzt wissen«, antwortete Paula trotzig und zunehmend selbstbewusster. Aber so wie sich Daniel bedrohlich vor ihr aufbaute, bereute sie ihre Spontanität schon wieder.
»Du bist genauso ungeduldig wie die kleine Linda«, höhnte er.
Er stand jetzt so dicht vor ihr, dass sie seinen fauligen Atem spüren und sein verschwitztes T-Shirt riechen konnte. Am liebsten wäre sie zurückgewichen, aber hinter ihr stand das Motorrad. Angeekelt drehte sie den Kopf zur Seite, aber Daniel umfasste mit beiden Händen ihr Gesicht und zwang sie, ihm in die Augen zu schauen.
Schließlich presste er seine Lippen gegen ihren halb geöffneten Mund und ließ seine Zunge hinter Paulas vorstehende Zähne kriechen. Diese überwand ihren anfänglichen Ekel und erwiderte die unerwartete Annäherung, indem ihre Hände unter sein nasses T-Shirt wanderten.
»Gehört das noch zur Aufnahmeprüfung?«, fragte sie keuchend, als er seine Zunge wieder zurückgezogen hatte und nur ein dünner Speichelfaden ihre Lippen verband.
»Dreh Dich um!«, befahl Daniel, ohne auf ihre Frage einzugehen.
Kaum hatte sie ihm den Rücken zugewandt, packte er sie an den Haaren, drückte ihren Oberkörper auf den Sattel des Motorrades und zog ihre Hose herunter. Auf dem Rücksitz eines Wagens hatte es das Miststück schon mehrmals in ihrem Leben getrieben. Aber gebeugt über ein Motorrad in der Mittagshitze von hinten genommen zu werden, war eine Premiere! Und das von America's Most Wanted!
Besonders rücksichtsvoll war Daniel nicht, als er sein hartes Teil in Paula einführte. Es schmerzte, aber sie biss die Zähne zusammen. Für eine gute Exklusivstory hatte sie sich ein fremdes Notebook angeeignet und es zusammen mit den Leichen zweier Kollegen verbrannt. Da kam es auf das hier auch nicht mehr an und bei jedem Beckenstoß gelangte das Miststück immer mehr zu der Überzeugung, dass dieser Gewaltverbrecher gar kein so schlechter Liebhaber war. Schließlich stieß er einen animalischen Schrei neben ihrem Ohr aus, als er sich in sie ergoss. Dabei hatte sie gerade begonnen, es zu genießen.
»Zieh die Hose hoch, wir müssen weiter«, drängte Daniel, der schon wieder fertig angezogen war.
»Eine Frage noch«, unterbrach die soeben begattete Schmeißfliege, »wer ist der andere Mann?«
»Er hat die ganze Aktion im Hearst Castle erst möglich gemacht. Sein Name ist Martin Frazer. Er führt die Besucher durch das Schloss – und hat unsere Ausrüstung an der Sicherheit vorbeigeschmuggelt. Er musste ein paar Schläge einstecken, damit der Verdacht nicht sofort auf ihn fiel. Daher ist sein Gesicht etwas ramponiert.« Daniel grinste.
***
»Und was ist die Geheimoperation Pandora?«, wollte Martin wissen, der seinem Großvater aufmerksam zugehört hatte. So lange er denken konnte, hatte Warren Boyle seinem einzigen Enkel Geschichten von zwei Weltkriegen und seinem toten Bruder Leonard erzählt.
»Das habe ich bis heute nicht herausgefunden«, antwortete sein Großvater. »Ich hielt die Kopie eines Geheimdokumentes in den Händen, dass Präsident Wilson persönlich versiegelt hatte. Aber ich konnte nichts damit anfangen.«
»Und? Hast Du dieses Dokument noch?« Der junge Martin war von Natur aus sehr wissbegierig.
»Was würdest Du machen, wenn Du in der Schule ein Buch gestohlen hättest?«
»Das habe ich aber nicht!«, empörte sich Martin.
»Nehmen wir das einfach mal an«, wiegelte der Großvater ab, »und stell Dir vor, die Schule bemerkt den Diebstahl sofort, verriegelt das Schulhaus und durchsucht jeden.«
»Dann würde ich das Buch zurückgeben?«
Warren Boyle lächelte. »Auch wenn Du dafür der Schule verwiesen würdest? Du willst das Buch unbedingt haben, darfst aber auf keinen Fall erwischt werden.«
»Ich würde es irgendwo verstecken und später holen, wenn die Luft rein ist.«
»Genau!« Sein Enkel war nicht auf den Kopf gefallen. »So habe ich es auch gemacht. Ich musste damit rechnen, dass Churchill Alarm schlägt. Ich hätte meinen Job verloren und wäre womöglich wegen Spionage angeklagt geworden. Also habe ich das Dokument in einem der Bücher versteckt. Im zweiten Schrank, dritte Reihe, viertes Buch von links zwischen Seite 100 und 101. Ich weiß es heute noch genau.«
»Liegt es da immer noch?«
»Ja, es muss immer noch in diesem Buch liegen. Dabei hätte ich das Dokument ruhig an mich nehmen können. Der alte Churchill hatte keinen Alarm geschlagen. Weiß der Teufel warum. Wahrscheinlich befürchtete er einen Skandal.«
»Und warum hast Du es später nicht geholt?«
»Das hatte ich vor«, seufzte Warren, »aber dann wurde Deine Großmutter krank. Ich musste mich um sie kümmern und war einige Tage nicht auf dem Schloss. Während meiner Abwesenheit hatte William Hearst angeordnet, seine gesamte Bibliothek neu zu sortieren. Stapelweise wurden Bücher von einem Raum in den anderen befördert. Ich Narr hatte mir nur den Standort des Buches gemerkt aber nicht den Titel. Aber ich hatte erfahren, was ich wissen wollte: Churchill war für den Tod meines Bruders verantwortlich. Und ich wollte ihn nicht damit davonkommen lassen.«
Warren musste eine Pause machen. Seine Stimme zitterte. Martin traute sich nicht, seinen Großvater zu unterbrechen.
»Ich bedauere nur eines«, fuhr dieser nach einer Pause fort, »in dem Dokument waren die Koordinaten angegeben, wo der Agent – also Leonard – begraben worden ist. Zu gerne wäre ich nach Irland gereist, um mich an seinem Grab von ihm zu verabschieden.«
In der Folgezeit erzählte der Großvater dem heranwachsenden Martin, wie er besessen von Rachegelüsten Churchill hinterher gereist war und in den Straßenschluchten von Manhattan seine Chance für gekommen sah, als dieser das Taxi neben dem Mittelstreifen der Fifth Avenue verließ. Er erzählte, was er mit dem Messer vorhatte und dass Churchill wie ein Angsthase panisch vor einen Wagen lief.
»Ich erinnere mich an das Glücksgefühl und den Moment des Triumphs, als ich den ehemaligen Minister leblos vor dem Wagen liegen sah, die Enttäuschung, als ich in der Zeitung las, dass das Schwein überlebt hatte, und an die Angst in den Wochen und Monaten danach, dass die Polizei bei mir anklopfen und mich verhaften würde. Aber so, wie Churchill den Diebstahl des Dokuments nicht gemeldet hatte, so blieb er steif und fest bei der Behauptung, er sei versehentlich in den Wagen gelaufen. Kein Wort darüber, dass er vorher von einem Unbekannten mit einem Messer bedroht worden war! Was für ein schlechtes Gewissen musste dieser Mann gehabt haben?«
»Dad, erzähl dem Jungen nicht immer diese Gruselgeschichten!«, versuchte Warrens Tochter Patricia zu insistieren. So sehr war sie um das Seelenheil ihres Sohnes Martin besorgt.
Auch wenn im Laufe der Jahre die Erzählungen des Großvaters immer abenteuerlicher wurden, sich die verschiedenen Versionen zum Teil widersprachen und schließlich Dichtung und Wahrheit zu einer ziemlich grotesken Story verschmolzen, war der Funke der Besessenheit auf den jungen Martin Frazer übergesprungen.
***
Während einer kurzen Verschnaufpause, die Georgina dazu nutzte, Mikes eingegangene Anrufe unbeantwortet von der Liste zu löschen, fiel ihr siedend-heiß die leere Spritze und die flüssige Probe, die sie aus Gina Hines Leiche entnommen hatte, wieder ein. Diese wichtigen Beweisstücke lagen noch in einem Plastikbeutel in ihrer Tasche. Wie nachlässig! Beides hätte sie gleich heute Morgen als erstes ins Labor im zweiten Obergeschoss bringen sollen! Nun war wertvolle Zeit verstrichen. Sie wusste nicht, wo ihr der Kopf stand. Das kannte sie nicht von sich.
Nachdem sie dies nachgeholt und die Dringlichkeit der Untersuchung gegenüber dem Laborpersonal hervorgehoben hatte, stellte sie den Countdown des Smartphones erneut auf dreißig Minuten. In der Zwischenzeit waren unter Hochdruck die forensischen Spuren an den Leichen am Hearst Castle ausgewertet worden. Nun stand fest, dass Daniel Slatkin, der Anführer der Terroristen, nicht unter den Toten war. Ausgerechnet der Anführer der Bande war immernoch auf der Flucht! Ihre neue Aufgabe: Suche nach Verbindungen zwischen Martin Frazer und Daniel Slatkin.
Der Datenbestand, der sich in den vergangenen Tagen und Stunden über Slatkin angehäuft hatte, war gigantisch. Ausgehend von den spärlichen Angaben, die ihr zu Martin Frazer zur Verfügung standen, versuchte Georgina von Frazer aus Querverweise zu Slatkin herzustellen. Diese Vorgehensweise versprach, effektiver zu sein, und der Countdown stand gerade mal bei vierundzwanzig Minuten, als die erfahrene Datenanalystin den Volltreffer landete.
»Mmh, Du duftest nach Lavendel!«
Hinter ihr stand Stephen Morris, der den laufenden Countdown auf Georginas Smartphone ignorierte und sie im alles entscheidenden Moment von der Arbeit ablenkte.
»Ich dachte, Du wolltest ausschlafen«, tat Georgina überrascht, obwohl sie sich gut vorstellen konnte, dass ihr Kollege es nicht lange zu Hause aushalten konnte.
»Und was ist mit Dir?«
»Frag' lieber nicht, Stephen«, antwortete Georgina mit leicht gereiztem Unterton und kam gleich zur Sache: »Wusstest Du, dass der Großvater von Martin Frazer, ein gewisser Warren Boyle, ebenfalls auf dem Hearst Castle gearbeitet hat?«
»Warum nicht? Mein Großvater war ebenfalls Polizist.«
»Du bist aber nicht mit Amerikas meist gesuchtem Verbrecher auf der Flucht«, konterte Georgina.
»Wissen wir das bestimmt?«, fragte Stephen herausfordernd.
»Genauso wie Slatkin ist Frazer vom Erdboden verschwunden. Wenn wir Llorente, Berson und Gina Hines ausschließen, ist er der einzige Angestellte, der die Waffen der Terroristen in das Schloss schmuggeln konnte.«
»Sorry, Georgina«, meinte Stephen schon fast mitleidig, »aber die Faktenlage ist mehr als dünn.«
»Habe ich gesagt, dass das schon alles ist?«, brauste Georgina auf.
Morris erkannte dieses Funkeln in ihren Augen, das immer dann aufblitzte, wenn sie aus den Tiefen des digitalen Dschungels etwas ganz Besonders zu Tage befördert hatte.
»Frazer und Slatkin«, fuhr Georgina fort, »waren beide in Berkeley im gleichen Jahrgang und wohnten im gleichen Studentenheim. Frazer studierte Geschichte, Slatkin hat einen Abschluss in Mikrobiologie. Der Titel seiner Doktorarbeit lautet: 'Mechanismen der Resistenzbildung gegen Antibiotika am Beispiel von At6333'. Auf dem Campus spielten sie in der gleichen Baseball-Mannschaft. Reicht das?«
Während sie auf das Mannschaftsfoto auf ihrem Bildschirm deutete, glänzten Georginas Augen wie die eines schwarzen Panthers, der seine Beute in die Enge getrieben hatte und bereit war, seine Krallen auszufahren.
»Und was zum Teufel ist At6333?«, hakte Stephen nach.
»Ich habe das bereits recherchieren lassen, als wir noch am Hearst Castle waren. Die FBI-Zentrale in Washington hat dazu keine Informationen. Bemerkenswert ist auch, dass Slatkins Doktorarbeit nicht frei in Online-Bibliotheken verfügbar ist. Slatkin stammt aus einfachen Verhältnissen. Aber er hatte ein Stipendium der US-Army und die Ergebnisse seiner Arbeit wurden als 'strictly confidential' eingestuft. Mit anderen Worten, er hat an etwas geforscht, was von militärischem Nutzen war.«
»Gut gemacht!«, lobte Stephen. »Ich werde Director Crain anrufen und ihm berichten, was Du herausgefunden hast.«
»Damit würde ich noch warten.«
»Wieso?« Stephen war schon auf dem Sprung in sein Büro gewesen.
»Crain war es, der mich gestern Abend davon abgehalten hatte, über Frazer zu recherchieren. Ohne ihn hätte ich vor dem Zugriff gewusst, was ich jetzt weiß. Ferner hatte ich ihm gegenüber den Verdacht geäußert, dass Gina Hines von der Psychofrau, dieser Barbara Watts, getötet wurde. Er hat mich abgewimmelt. Eine Obduktion würde er veranlassen. Nichts ist geschehen!« Georgina redete sich in Rage.
»Eine Obduktion dauert seine Zeit. Das Protokoll ist noch nicht im System verfügbar«, versuchte Stephen sie zu beruhigen.
Aber Georgina legte nach: »Unsere Mannschaften aus San Francisco sollten ebenfalls im Hearst Castle eingesetzt werden. Wurden sie aber nicht. Stattdessen haben sie hier in der Stadt versucht, Aufruhr zu verhindern. Das ist Aufgabe des SFPD oder der Nationalgarde, aber sich keine Angelegenheit für das FBI. Der Befehl dazu kam von ganz oben. Wären unsere Leute dort gewesen, hätte das Schloss vollständig umstellt werden können und Slatkin und Frazer wären uns nicht entwischt.«
»FBI-Mannschaften gegen Aufständische? Woher weißt Du denn das schon wieder?«, wunderte sich Stephen.
»Habe ich von einer Kollegin aus dem Außendienst unten in der Dusche erfahren.«
»Du duschst hier im Haus in der Mannschaftsdusche?«
»Ja, solltest Du auch mal. Da erfährt man interessante Dinge«, entgegnete Georgina etwas schnippisch. Sie hatte absolut keine Lust, Stephen zu erklären, warum sie dies nicht zuhause erledigt hatte.
»Und wie heißt diese Kollegin?«
»Weiß ich nicht. Ich konnte ihr Namensschild nicht sehen. Sie war nackt.«
Reflexartig zog Stephen die Augenbrauen nach oben.
***
»Mist!«, dachte die Schmeißfliege, »verfluchter Mist!«
Nachdem Daniel und sie wieder zur Wellblechhütte zurückgekehrt waren, kramte sie in ihrer Reisetasche, die zum Glück kein Raub der Flammen geworden war. Hastig kontrollierte sie den Blister mit ihrem Verhütungsmittel. Die Pillen für gestern und heute kullerten noch unter ihren kleinen Plastikkuppeln.
Sie spürte, wie ein paar Tropfen des Lendensaftes, den Daniel in sie hineingepumpt hatte, gerade dabei waren, ihren Slip zu versauen. Und keine Dusche weit und breit! Na und wenn schon! Sie hatte sich schon einmal eines dieser kleinen Aliens ausschaben lassen. Jetzt bloß keine Panik!
Entscheidend war nur eines: Paula Webber, die Starreporterin stand vor ihrem großen Durchbruch. Es war die Story ihres Lebens. Sie war hautnah – im wahrsten Sinne des Wortes – an einem Topterroristen dran, der von jedem Polizisten des Landes gesucht wurde. Und nur sie wusste, wo er sich aufhielt und wer ihm bei der Vorbereitung des Anschlages geholfen hatte. Wie geil war das denn?
Als sie weiter in ihrer Tasche kramte, entdeckte sie ihr Smartphone. Sie versuchte, es einzuschalten. Es war leichter als sonst!
»Den Akku habe ich.« Daniel, der gerade in die Hütte gekommen war, hielt einen flachen, rechteckigen Gegensatz in seiner Hand. »Wir wollen doch nicht, dass Dein Freund sich Sorgen macht und Dein Handy orten lässt.«
»Ich bin Single – momentan jedenfalls noch«, entgegnete Paula.
»Deine raue Stimme ist sehr sexy. Weißt Du das?«
Das Miststück entgegnete nichts und legte wortlos ihre Arme um seinen Hals.
»Du wolltest mir noch erzählen, wie Ihr hierher gekommen seid«, hauchte sie.
»Abseits von Hearst Castle befindet sich ein alter Pferdestall«, begann Daniel bereitwillig zu erzählen. »Niemand hatte bemerkt, dass dort seit zwei Tagen zwei Pferde einquartiert waren. Wir ritten in östlicher Richtung durch unwegsame Wälder bis wir im Morgengrauen Lake Nacimiento erreichten. Am Ufer hatten wir ein Motorboot, mit dem wir den langgestreckten Stausee durchquerten. Neben der Staumauer stand unser Motorrad. Damit waren wir hier, bevor die Idioten im Schloss überhaupt gemerkt hatten, dass zwei Männer fehlten.«
Daniel grinste und Paulas diabolisches, heiseres Lachen erfüllte die Hütte. Sie wollte ihn küssen, aber er wehrte ab.
»Wir sind hier nicht sicher. Wir müssen schleunigst hier weg.«
»Und wie wollen wir das anstellen? Wir haben nur das Motorrad!«
»Komm' mit, ich zeig Dir was!«
Daniel führte sie zu einem Gestrüpp hinter der Hütte. Man musste schon genau hinsehen, um zu erkennen, dass dahinter etwas Weißes in der Sonne glänzte. Daneben stand Martin Frazer. Er hatte bisher kein Wort mit ihr gewechselt. Lag es daran, dass sein Gesicht durch die Schläge, die er einstecken musste, so geschwollen war?
»Ein Flugzeug!«, rief Paula überrascht. Jetzt wurde ihr klar, dass der geradlinige Weg vor der Wellblechhütte nichts anderes war als eine Start- und Landepiste.
»Kannst Du so ein Ding fliegen?«
»Ja, kann ich.«
»Wo ist meine Digitalkamera? Ich muss unbedingt ein paar Fotos davon machen.« Erregt lief Paula um die kleine Maschine herum und schaute durch das Seitenfenster der Kanzel in das Innere.
»Wie viel Personen haben darin Platz?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort schon kannte.
»Zwei«, antwortete Daniel.
»Zwei? Nur zwei? Wir sind aber zu Dritt!« Paula war außer sich. Hatten die beiden vor, ohne sie abzuhauen?
»Richtig!« Daniel schmunzelte angesichts der Rechenkünste der blonden Reporterin. »Du kannst nicht mit.«
»Aber….«
»Nichts aber«, erstickte Daniel jeden Widerspruch im Keim, »Du bleibst hier, aber wir kommen wieder.«
»Ihr kommt wieder?« Paula machte ein Gesichtsausdruck, als wollte sie sagen: »Verarschen kann ich mich selber.«
»Dich reizt doch die Sensation, das Unglück, das Unvorhersehbare ….« Daniel ging einen Schritt auf sie zu. Seine Hand strich über die Seite ihres Halses.
»Denk an das Kennedy-Attentat oder den Anschlag auf das World Trade Center. Hast Du Dir nicht immer gewünscht, schon vorher vor Ort zu sein? Stell Dir vor, Du hättest am 22. November 1963 in Dallas Deine Kamera nicht auf den Präsidenten sondern auf das Lagerhaus gerichtet und das offene Fenster mit dem Gewehrlauf aufgenommen. Oder Du wärst am 11. September 2001 in Manhattan gewesen. Den Einschlag des zweiten Flugzeuges in den Südturm hat jeder aufgenommen. Vom Einschlag der ersten Maschine in den Nordturm existiert nur eine zwei Sekunden lange, verwackelte Videosequenz. Was wäre gewesen, wenn eine gewisse Paula Webber ganz zufällig um 8 Uhr 46 ihre Kamera auf den Nordturm des World Trade Centers hätte?«
Paulas Nerven rebellierten. Was wusste dieser Daniel über sie? Oder besaß er einfach nur eine gehörige Portion an Menschenkenntnis? Jedenfalls hatte er sie mit seinen Worten genau dahin gebracht, wo er sie haben wollte. Er sprach den sehnlichsten Wunsch an, den eine Schmeißfliege wie sie nur haben konnte: mit gezückter Kamera zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein.
»Und Ihr kommt wirklich wieder?«
»Das ist sicher – todsicher«, bekräftigte Daniel. »Die Hearst-Castle-Show war nur ein kleines Ablenkungsmanöver. Der eigentliche Schlag kommt noch.«
»Wie kann ich mit Euch in Kontakt bleiben? Wie finde ich Euch?« Paula benahm sich wie ein kleines, aufgeregtes Schulmädchen, das nach dem ersten Date unbedingt eine feste Verabredung für das nächste Treffen ausmachen wollte.
»Gar nicht. Wir finden Dich.« Mit diesen Worten überreichte Daniel ihr den Akku ihres Mobiltelefons. »Und kein Wort! Zu niemandem! Verstanden?«
Paula nickte.
»Und da ist noch etwas!«
Das Miststück blickte auf. Was kam jetzt?
»Nimm nicht so viel von dem Zeug! Es vernebelt Dein Hirn.«
In seinen Händen hielt Slatkin ein Tütchen mit einem weißen Pulver. Das war die letzte verbliebene Ration aus ihrer Reisetasche!
Nun schickten sich die beiden Männer an, das Kleinflugzeug aus dem Versteck auf die Piste zu schieben. Paulas Gedanken fuhren Karussell. Einer wie Daniel Slatkin überließ nichts dem Zufall. Nur so hatte er Hearst Castle eingenommen und hatte sich rechtzeitig dem Zugriff der Einsatzkräfte entzogen. Linda Howard war ein fester Bestandteil dieses Plans gewesen – die Jungfrau als Köder für die Islamisten. Dass eine über alle Maßen talentierte Reporterin – und dafür hielt sich die Dreckschleuder – das Notebook des Mädchens an sich nehmen und ihm eine Chatnachricht schreiben würde, konnte er unmöglich vorhergesehen haben. Blitzschnell hatte er auf diese neue Situation reagiert und nun sie in seine Pläne eingebunden.
Paula war von diesem Mann fasziniert aber gleichzeitig schauderte sie bei dem Gedanken, dass sie um ein Haar zusammen mit Alec und Terry aus dem Weg geräumt worden wäre. Aber er hatte sie verschont und nicht nur das. Sie war ein Teil von ihm geworden – jedenfalls bildete sie sich das ein.
Von einem noch spektakuläreren Anschlag hatte er gesprochen. Terroristen agierten öffentlichkeitswirksam. So war es nur logisch und konsequent, dass er eine Reporterin mit ins Team nahm. Er improvisierte geradezu meisterhaft. Paula war einfach nur beeindruckt. Dass sie sich der Beihilfe schuldig machte, kam ihrem kranken Hirn nicht in den Sinn.
Mittlerweile hatten die Männer die Maschine in Position gebracht, waren eingestiegen und Daniel startete den Motor. Hastig eilte Paula in die Hütte und holte ihre Digitalkamera. Als sie wieder ins Freie trat, hatte der Propeller eine gewaltige Staubwolke aufgewirbelt. Dennoch gelangen Paula einige passable Bilder, die zeigten, wie eine weiße, einmotorige Maschine in den strahlen blauen Himmel abhob, eine scharfe Rechtskurve vollzog und nach wenigen Minuten hinter der nächsten Hügelkette der Coastal Ranges verschwand.
Während Slatkin die kleine Maschine knapp über dem Boden hielt, um dem Radar der Flugsicherung zu entgehen, kreuzte knapp achttausend Meter über ihnen ein Learjet ihre Flugbahn. Aus Santa Barbara kommend beförderte der Jet nur zwei Passagiere: Austin Harvey und Barbara Watts. Die beiden Angehörigen der Homeland Security waren auf dem Rückflug zum ihrem Hauptquartier in der Nähe von Washington.
»ER hat vorhin angerufen«, begann Harvey die Konversation.
»Hat Crain das mitbekommen?«, Barbaras Miene drückte Besorgnis aus.
»Nein, ich hab ihn weggeschickt.«
»Gut!« Barbara entspannte sich.
»ER hat gefragt, ob der Tod der Frau von der Security, dieser Gina Hines, ein Unfall war. Es kommt nicht gut, wenn jemand in unserer Obhut stirbt.«
»Sie hat Selbstmord begangen!«
»Barbara, diese Kabine ist absolut abhörsicher. Ich muss wissen, was genau passiert ist.«
»Sie hat es mit ihrer Verantwortung für die Sicherheit etwas übertrieben.« Barbara schaute wie geistesabwesend aus dem Kabinenfenster, während sie sprach. »Sie war bei den Kollegen unbeliebt, hat überall herumgeschnüffelt – und dabei die beiden Pferde entdeckt.«
»Verstehe«, meinte Harvey in der für ihn typischen einsilbigen Art.
»Ja, das mit Gina Hines hätte nicht passieren dürfen«, räumte Barbara ein, »aber ansonsten läuft doch alles wie am Schnürchen.« Sie lächelte.
»Dann hoffen wir mal, dass das so bleibt.« Harvey runzelte die Stirn.
Barbara rutschte zu ihm rüber und strich durch sein etwas schütteres Haar. Sie setzte zu einem Kuss an, aber er fuhr fort:
»Sorgen macht mir nur diese schwarze Datenanalystin, die dieser FBI-Agent aus San Francisco mit angeschleppt hat.«
»Georgina May?«
»Ja, ich glaube, so heißt sie. Ich glaube, sie hat etwas mitbekommen, als Du Gina verhört hast. Sie hat gegenüber Crain so eine Andeutung gemacht.«
»Und das sagst Du mir erst jetzt!«, empörte sich Barbara und wich zurück.
»ER weiß bereits davon«, beruhigte sie Harvey, »ER hat mir zugesichert, sich darum zu kümmern.«
Barbara atmete hörbar aus. »Das ist gut – das ist sehr gut!«, hauchte sie und schmiegte sich wieder an ihn.
***
Georgina klickte auf die Play-Taste:
»Die amerikanische Regierung hat bisher keine einzige unserer Forderungen erfüllt. Unsere Märtyrer sind immer noch in Guantanamo gefangen, die Folterknechte aus Abu Greib und Guantanamo sind nicht an uns ausgeliefert worden. Five-O-Seven wird sich in das Gedächtnis der Amerikaner einbrennen wie Nine-Eleven! Wie angekündigt wird hier und jetzt eine weitere Geisel sterben!«
»Five-O-Seven«, murmelte sie vor sich hin.
»Siebter Mai, das Datum des Überfalls auf Hearst Castle«, meinte Stephen.
»So wie Nine-Eleven, der elfte September«, ergänzte Georgina. »Es hält sich immer noch hartnäckig das Gerücht, dass die Attentäter absichtlich dieses Datum gewählt haben, weil es identisch mit der Notrufnummer neun eins eins ist.«
»Aber Five-O-Seven?«
»Es gibt ein Fashion-Label, das so heißt.« Das brauchte Georgina nicht zu googlen.
»Oder ein BMW Five-O-Seven«, ergänzte Stephen.
Georgina suchte auf dem Wikipedia-Portal nach Ereignissen an diesem Tag. »Der siebte Mai ist auch als Datum bemerkenswert. Im Jahr 1763 revoltierten mehrere Indianerstämme gegen die britische Kolonialherrschaft. 1901 wurde am 7. Mai Gary Cooper geboren. 1915, also genau vor hundert Jahren, wurde ein Passagierschiff namens 'Lusitania' vor der irischen Küste versenkt. 1945 wurde am 7. Mai mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands der Zweite Weltkrieg beendet – jedenfalls in Europa.«
»Hearst Castle als Rache für den verlorenen Zweiten Weltkrieg? Na ich weiß nicht!«, meinte Stephen mit leicht ironischem Unterton.
»War den Versuch wert«, seufzte Georgina leicht resigniert.
In diesem Moment öffnete sich auf einem ihrer Bildschirme ein kleines Fenster mit einer Meldung. Sie hatte ihr Informationssystem so eingestellt, dass sie automatisch benachrichtigt wurde, wenn irgendwo in den Vereinigten Staaten ein Polizeibeamter eine neue Information zu Hearst Castle in das System einstellte.
»Zwei Pferde am Lake Nacimiento gefunden«, las Georgina laut vor.
»Pferde? Was hat das mit Hearst Castle zu tun.«
In diesem Punkt musste Georgina ihren Kollegen auf den neusten Stand bringen: »Bevor du kamst, erhielt ich die Meldung, dass die ehemaligen Pferdestallungen auf Hearst Castle erst vor kurzem wieder benutzt worden sind. Dort lagen Heu und frischer Stallmist. Das würde erklären, wie Daniel Slatkin und Martin Frazer fliehen konnten. Der Lake Nacimiento ist ein Stausee etwa zwölf Meilen östlich von Hearst Castle.«
»Pferde? Genau das Richtige für unwegsames Gelände!«
»Und unsere Leute haben nur die Gegend westlich des Castles kontrolliert, weil es nur dort überhaupt Straßen und Wege gibt.«
»Genial ausgedacht!«, musste Stephen zugeben.
»Das heißt aber auch, dass die beiden von vornherein geplant hatten zu fliehen. Es ging ihnen nicht um die Erfüllung ihrer maßlosen Forderungen, auf die die Regierung sowieso nicht eingegangen wäre. Und sie wollten auch keine Märtyrer werden.«
»Und ich dachte immer, die Ziegenficker sind ganz scharf darauf, zu ihren Jungfrauen ins Paradies zu kommen.«
»Stephen, ich bin mir sicher, die drei toten Islamisten haben schon ihren Spaß im Paradies. Und dann war da noch die vierzehnjährige Linda. Sie war genauso wie der Junge von den erwachsenen Geiseln abgesondert worden.«
»So als kleines Appetithäppchen?«
»Stephen! Bitte! Das Kind liegt mit einem Kopfschuss im Koma!«, entrüstete sich Georgina über die Taktlosigkeit ihres Kollegen. »Dazu habe ich übrigens auch eine Meldung bekommen. Sie wurde mit dem Hubschrauber aus Santa Barbara hier ins Medical Center in San Francisco geflogen. Es gab wohl Komplikationen.«
»Gut, dann sind nicht mehr die Kollegen in Los Angeles für sie zuständig und wir können sie verhören, sobald sie aufwacht.«
»Stephen, das ist jetzt nicht Dein Ernst!«
»Soweit wir wissen, konnte sie sich zwischen den Geiselnehmern frei bewegen. Wenn sie etwas mitbekommen hat, ist sie unsere einzige Zeugin. Sentimentalitäten können wir uns in dieser Situation nicht leisten.«
Georgina gab es auf. Irgendwo hatte ihr Kollege ja Recht.
»Lass uns lieber mal überlegen, was Slatkin und Frazer machten, nachdem sie die Pferde am See zurückgelassen haben«, schlug sie vor.
»Gehen wir einmal davon aus, dass die Flucht von langer Hand geplant war. Also ich hätte am Westufer des Sees ein Motorboot versteckt und wäre damit den ganzen langen See weiter nach Osten bis zur Staumauer gefahren. Das geht schneller als über die kurvigen Wege am Ufer entlang. Von der Staumauer aus führt eine Straße zum nächsten Ort.« Stephen deutete auf das Satellitenbild auf dem Bildschirm. »San Miguel – und gleich daneben der Highway 101.«
»Dann sind sie über alle Berge«, seufzte Georgina.
***
An ihrem vierzehnten Geburtstag gab Paula die Hoffnung auf, jemals von Matthew in die Arme genommen zu werden. Zwei Wochen nach Victorias Ableben hatte der Angehimmelte schon wieder eine Neue – und die hieß nicht Paula. Dabei hatte sie sich solche Mühe gegeben. Einmal, als Matthew bei ihrem Bruder zu Besuch war, war ihr eingefallen, mitten am Tag zu duschen. Nur mit dem Badetuch bekleidet ging sie am Zimmer der Jungs vorbei. So ganz aus Versehen hatte sie ihre gebrauchte Unterwäsche im Bad liegen lassen. Nachdem Matthew aufs Klo gegangen war, lag ihr Höschen immer noch genau so da, wie sie es hingelegt hatte. Er hatte es nicht einmal angefasst, daran geschnuppert oder etwas Unanständiges damit angestellt!
Ihre schmachtende Zuneigung schlug schnell in glühenden Hass um und sie sann auf Rache. Wenn sie Matthew nicht haben konnte, dann sollte niemand ihn haben! Die Familie Diggins wohnte etwas außerhalb der Stadt und Matthew legte die Strecke zur Schule bei Wind und Wetter immer mit dem Motorrad zurück. Der einzige Weg führte auf einer schmalen Holzbrücke über einen Creek. Hier herrschte wenig Verkehr. Morgens war eigentlich nur Matthew hier unterwegs.
Quer über die Brücke spannte das Miststück einen Draht, den es aus Vaters Werkstatt entwendet hatte. Im Gebüsch neben der Kurve hinter der Brücke legte sie sich auf die Lauer. Es dauerte nicht lange, bis sie das Knattern des Motorrads hörte. Da war es wieder – dieses Kribbeln im Bauch.
Wie weit war das Motorrad noch entfernt? Der Frühnebel verschluckte alle Geräusche. Sie blickte durch den Sucher ihrer Kamera, um auf den Draht scharf zu stellen, und erschrak. Am Draht hingen perlschnurartig Tautropfen, die in der Sonne glitzerten, die mühsam den Nebel durchdrang.
Jetzt legte sich Matthew mit seiner Maschine in die Kurve vor der Brücke und gab wieder Gas. Noch zehn Meter! Der Motor heulte auf, während er beschleunigte. Die Videokamera lief. Drei Meter vor der Todesfalle riss der Fahrer den Lenker herum, das Motorrad kam in Schlingern und die Funken sprühten, als die Metallteile der Maschine kreischend über den Asphalt schlitterten.
Paula verfolgte die Szene durch den Sucher ihrer Kamera. Als sie wieder aufblickte, stand Matthew, der gegen das Brückengeländer geschleudert worden war, benommen und konsterniert vor dem Draht. Jetzt duckte er sich unter dem Draht hindurch und wankte direkt auf ihr Versteck zu. Scheiße! Er hatte sie bemerkt! Das Miststück war schon drauf und dran, die Kamera ins Gras zu werfen und in Panik davonzurennen, als sie bemerkte, dass Blut unter Matthews Helm hervorquoll.
Der Helm trug kein Visier und er war nun so nah, dass sie seine Augen sehen konnte – oder das, was davon noch übrig war. Ein Holzsplitter aus dem Brückengeländer steckte im rechten Auge. Matthew öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen. Stattdessen ergoss sich ein Schwall Blut über seine Motorradjacke. Dabei wurden drei ausgeschlagene Zähne aus der Mundhöhle geschwemmt, die direkt vor seine Füße fielen.
Das Miststück war so fasziniert von diesem Anblick, dass es vergaß, die Videokamera auf den Verletzten zu richten. Erst als Matthew schließlich zusammenbrach und direkt vor ihr am Straßenrand zu liegen kam, umkreiste sie den Sterbenden mit der Videokamera und hoffte, sein gurgelndes Röcheln würde auf der Aufnahme gut zu hören sein. Anschließend schoss sie noch ein paar Fotos von der Leiche und hob schließlich die drei Zähne auf.
Die drei Zähne waren noch immer in ihrem Besitz – sorgfältig eingetütet in ihrer Trophäensammlung. Jetzt hielt sie ein neues Sammlerstück in den Händen, das ihre Sammlung ungemein bereichern würde. Sie hielt sich ihren Slip vor die Nase und atmete tief ein. Er roch betörend nach gutem, schmutzigem Sex. Sie hoffte, diesen Geruch in einer Tüte konservieren zu können. Ein Ehrenplatz in der Sammlung war diesem Unikat jedenfalls sicher.
Fast eine Stunde hatte die Schmeißfliege gebraucht, um zu Fuß mit ihrer geschulterten Reisetasche von dem Unterschlupf der Terroristen wieder nach San Miguel zu gelangen. Sie hatte wieder in dem Motel eingecheckt, in dem sie schon die letzte Nacht verbracht hatte. Unter der Dusche spülte sie den Schweiß und den Staub von ihrem Körper. Danach schnupfte sie die letzte Ration ihres weißen Goldstaubs.
Als sie in ihrer Reisetasche nach einem Satz frischer Kleidung suchte, stieß sie auf ein zweites, ihr unbekanntes Mobiltelefon. Daran klebte ein Zettel mit dem PIN -code und der Anweisung: 'Jeden Tag kurz vor zwölf Uhr einschalten. Wenn keine Nachricht, sofort wieder ausschalten. D.' Daniel musste ihr das Gerät in einem unbeobachteten Moment zugesteckt haben. So also würde er wieder Kontakt mit ihr aufnehmen! Zufrieden zerknüllte sie den Zettel, nachdem sie sich die PIN eingeprägt hatte.
Zeit zum Ausruhen gönnte sie sich keine, denn die Arbeit rief. Sie bestückte ihr altes Smartphone wieder mit dem Akku, den Daniel ihr zurückgegeben hatte, und rief ihren Boss an.
»Hi Jon, hier ist Paula.«
»Paula! Mein Gott, wo seid Ihr? Wir haben uns schon Sorgen um Euch gemacht!«
»Alles in Ordnung«, log das Miststück, »ich bin hier in San Miguel, einem kleinen Kaff am Highway 101. Kannst Du mir Terry und Alec raus schicken? Es ist dringend.«
»Terry und Alec? Sind die nicht bei Dir?«
»Nein! Ich hatte sie heute morgen angefordert, aber sie sind nicht am Treffpunkt erschienen.« Dieses scheinheilige Miststück log wie gedruckt, während sie ihrem Boss gegenüber Besorgnis heuchelte.
»Merkwürdig«, meinte Jon. »Was gibt es denn so Wichtiges?«
»Ich weiß jetzt, wie Daniel Slatkin – äh ich meine Abdul Sahir – geflohen ist.«
»Mit Pferden sind er und eine der Geiseln geflohen. Paula, das kam schon in den Nachrichten«, antwortete Jon etwas gelangweilt.
»Ja, aber die Pferde haben sie am Lake Nacimiento zurückgelassen und haben die Flucht mit einem Motorboot fortgesetzt. Dies liegt jetzt beim Staudamm und von dort will ich berichten. Und zwar wenn es geht, bevor die Polizei alles absperrt.«
»Paula, ich wusste es!« Jons Stimme überschlug sich. »Du bist die Größte! Das Aufnahmeteam ist schon unterwegs.«
»Sag ihnen, sie sollen mich beim Motel in San Miguel abholen! Ist leicht zu finden, es gibt nur eines.«
»Na klar! Für Dich tue ich doch alles!«
»Ich weiß, Jon«, hauchte das verlogene Biest ins Telefon, bevor es das Gespräch beendete und erneut an ihrem Slip roch.
***
'10:23 p.m. Shyboy123: Hi, ich habe gehofft, dass du heute Abend online bist'
'10:23 p.m. Lindypat: yep, meine mutter ist endlich ins bett gegangen :o)'
'10:24 p.m. Shyboy123: das ist gut'
'10:24 p.m. Lindypat: ich konnte es kaum erwarten. Hab dich vermisst.'
'10:24 p.m. Shyboy123: ich dich auch'
»Kranker Perverser!«, dachte Georgina, »Blutrünstiger Terrorist reicht wohl noch nicht. Der hat sich auch noch an kleine Mädchen rangemacht.«
Daniel Slatkin war gut darin, seine digitalen Spuren in der Netzwelt zu verwischen, aber für eine wie Georgina May war er nicht gut genug gewesen. Ohne richterlichen Beschluss hatte sie sich in den Server des Chatproviders eingeloggt und sich alles über diesen 'shyboy123' heruntergeladen.
Im Gegensatz zur Schmeißfliege, die nur das Protokoll der letzten Tage auf Linda Howards Notebook vorgefunden hatte, las Georgina nun die ganze Geschichte. Allein schon der Name! Shyboy! Georgina hätte kotzen können! Gezielt hatte er nach jungen Mädchen im Netz gesucht. Lindypat? War das etwa Linda Howard? Georgina wollte und konnte das kaum glauben. Erst der Abgleich der IP-Adressen gab ihr Gewissheit. Die naive Linda war auf Daniel Slatkin hereingefallen. Das gab ihren Ermittlungen eine ganz neue Wendung.
'10:25 p.m. Lindypat: du bist so anders als die jungs in meiner klasse'
'10:25 p.m. Shyboy123: wie anders?'
'10:25 p.m. Lindypat: anders halt'
'10:28 p.m. Lindypat: ????'
Hier war Linda wohl ungeduldig geworden, weil drei Minuten Funkstille herrschte.
'10:28 p.m. Shyboy123: ja ich bin anders. Dafür gibt es einen grund.'
'10:28 p.m. Lindypat: welchen?'
'10:29 p.m. Shyboy123: ich bin schon etwas älter als 16'
'10:29 p.m. Lindypat: cool! Lass mich raten: 18?'
'10:29 p.m. Shyboy123: älter!'
'10:30 p.m. Lindypat: 21?'
'10:29 p.m. Shyboy123: älter!'
'10:30 p.m. Lindypat: 25?'
'10:30 p.m. Shyboy123: älter!'
'10:31 p.m. Lindypat: wow! Aber hoffentlich keine 40?'
'10:31 p.m. Shyboy123: LOL nein'
'10:31 p.m. Lindypat: 30?'
'10:32 p.m. Shyboy123: nah dran... 32'
'10:32 p.m. Lindypat: omg'
'10:32 p.m. Shyboy123: bist du jetzt sauer auf mich?'
'10:33 p.m. Lindypat: nein, ich find es toll. Meine freundin Angeline hat auch einen älteren freund. Der ist 28'
'10:33 p.m. Shyboy123: na und du hast jetzt einen, der ist schon 32 LOL'
'10:33 p.m. Lindypat: alle mädchen in meiner klasse hatten schon ältere typen.'
'10:34 p.m. Shyboy123: alle?'
'10:34 p.m. Lindypat: na ja so die in meiner clique'
'10:34 p.m. Shyboy123: ich bin mir sicher, dass mindestens die hälfte davon noch nie einen mann hatte.'
'10:35 p.m. Lindypat: meinst du?'
'10:35 p.m. Shyboy123: ja meine ich. Wie viele männer hattest du schon?'
'10:36 p.m. Lindypat: einen jungen aus meiner klasse über mir'
'10:36 p.m. Shyboy123: oh!'
'10:36 p.m. Lindypat: nicht richtig. Nur so ein bisschen rumgemacht.'
'10:37 p.m. Shyboy123: rumgemacht?'
'10:37 p.m. Lindypat: geküsst und so'
'10:38 p.m. Shyboy123: … und so?'
'10:38 p.m. Lindypat: er hat mir unters t-shirt gefasst.'
'10:38 p.m. Shyboy123: wie fandest du das?'
'10:38 p.m. Lindypat: nicht so gut'
'10:39 p.m. Shyboy123: ging dir zu schnell?'
'10:39 p.m. Lindypat: ja. Er wollte ein selfie von uns machen. Ich sollte mein shirt anheben.'
'10:40 p.m. Shyboy123: hast du es gemacht?'
'10:40 p.m. Lindypat: nein.'
'10:41 p.m. Shyboy123: richtig so. er hätte das bild nur überall rumgezeigt oder im internet gepostet.'
'10:41 p.m. Lindypat: das hat Angeline auch gesagt.'
'10:42 p.m. Shyboy123: weiß Angeline von uns beiden?'
'10:42 p.m. Lindypat: nein'
'10:29 p.m. Shyboy123: das soll auch so bleiben'
»Klar doch, du Arschloch!«, dachte Georgina. Es lief doch immer nach dem gleichen Schema ab, wenn ein alter Perversling ein junges, naives Mädchen im Netz köderte. Dabei hatte er sich noch drei Jahre jünger gemacht, als er eigentlich war. Angewidert scrollte sie im Text weiter nach unten. Sie stellte jede Menge Fragen und er spielte den lieben, erfahrenen Onkel, der ihr alles beantworten konnte. Dann kam der erste Bildertausch. Immerhin schickte Slatkin ihr tatsächlich ein Bild von ihm, das ihn allerdings gut rasiert zeigte. Linda schickte ihm ein Standbild von ihrer Webcam, wie sie mit knappem, schulterfreiem Top vor ihrem Rechner saß.
Georgina erwartete nun, dass er mehr von ihr sehen wollte, aber da irrte sie sich. Im weiteren Dialog riet Onkel Shyboy der naiven Linda sogar dringend davon ab, jemals freizügige Bilder von sich im Internet zu posten oder zu verschicken.
Ferner sollte sie damit aufhören, sich die Haare schwarz zu färben. Am nächsten Tag hatte Linda ihm ein Bild geschickt, das sie mit kurzen Haaren zeigte. Sie würde sie in ihrer natürlichen Farbe nachwachsen lassen. Shyboy123 gefiel das.
Dann entdeckte Georgina eine Passage in der Korrespondenz ein paar Tage später, in der es um Lindas Stiefvater Ron ging:
'0:12 p.m. Lindypat: ich mag meinen Stiefvater nicht'
'0:12 p.m. Shyboy123: warum nicht?'
'0:12 p.m. Lindypat: er hat mom geheiratet, obwohl er schwul ist.'
'0:12 p.m. Shyboy123: er ist schwul? Bist du sicher?'
'0:12 p.m. Lindypat: ja. Angeline und ich haben ihn mit einem typen im park gesehen.'
'0:12 p.m. Shyboy123: weiß deine mom davon?'
'0:12 p.m. Lindypat: nein'
'0:13 p.m. Shyboy123: wirst du es ihr sagen?'
'0:13 p.m. Lindypat: sie glaubt mir eh nichts. Sie soll es selber rausfinden.'
Bis jetzt waren die Ermittler davon ausgegangen, dass die Reportage dieser aufdringlichen Paula Webber dafür verantwortlich war, dass Ron Patterson als schwul geoutet und von den Islamisten getötet worden war. Doch was Georgina etwas weiter unten las, verursachte bei ihr eine Gänsehaut.
'1:22 p.m. Shyboy123: kennst du hearst castle?'
'1:22 p.m. Lindypat: klar doch.'
'1:23 p.m. Shyboy123: ich plane mit ein paar freunden eine politische aktion auf dem schloss. Und zwar am 7. mai.'
'1:23 p.m. Lindypat: was für eine aktion?'
'1:24 p.m. Shyboy123: jedenfalls eine, wo wir deinem stiefvater einen denkzettel verpassen können.'
'1:24 p.m. Lindypat: wie soll das gehen?'
'1:25 p.m. Shyboy123: wirst schon sehen. Du musst nur mit deinen eltern dort sein. Gleich früh am morgen, wenn das schloss geöffnet wird.'
'1:25 p.m. Lindypat: an dem tag ist keine schule. Ich könnte sagen, dass ich eine hausarbeit über das castle schreiben muss.'
'1:26 p.m. Shyboy123: gute idee! Du wirst ein teil dieser aktion sein'
'1:26 p.m. Lindypat: cool! Freu mich riesig!'
Georgina war fassungslos! Innerhalb weniger Wochen hatte es dieser Verbrecher geschafft, ein Schulmädchen dermaßen einzulullen, dass er sie mühelos in seinen teuflischen Plan einspannen konnte. Linda und ihre Eltern waren also am siebten Mai nicht zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. In der Sensationspresse war Linda als jungfräuliche Belohnung für die islamistischen Terroristen dargestellt worden. Hatte Abdul Sahir genau das beabsichtigt? Sollte sie zwangsverheiratet werden?
Bisher hatten alle Ermittler diese Theorie für absurd gehalten. Aber hier stand es schwarz auf weiß und jetzt ergab alles einen Sinn. War die Gehirnwäsche an Linda in der Geiselhaft fortgesetzt worden? Sie hatte die traditionelle Kleidung muslimischer Frauen angezogen, die die Terroristen vorher passend in ihrer Größe besorgt hatten. Das Wissen um Ron Pattersons homophile Neigungen hatten die Geiselnehmer demnach nicht von dieser skrupellosen Reporterin, sondern von seiner eigenen Stieftochter erfahren. Sie hatte die Ermordung ihres Stiefvaters aus nächster Nähe angesehen. Was war ihr dabei durch den Kopf gegangen? Hatten die Terroristen vorgehabt, sie auf der Flucht mitzunehmen? Wohl kaum, denn es standen nur zwei Pferde zur Verfügung. Nun jedenfalls lag sie mit einem Kopfschuss im Medical Center und rang mit dem Tod.
Georginas Gedankengänge wurden unterbrochen von einer Live-Reportage, die 'Santa Barbara Channel Six' ausstrahlte. Auf dem Bildschirm erschien die Dreckschleuder, die in den letzten Tagen eine fragwürdige Popularität erlangt hatte.
»Stephen!«, rief sie in Richtung von Morris' Büro, »Deine Lieblingsreporterin ist gerade im Fernsehen!«
Sekunden später stand Stephen hinter Georgina und sah mit hochrotem Kopf auf dem Bildschirm die Frau, die ihn gestern Abend so fies gelinkt hatte. In Stephens Laufbahn als Cop war es nicht sehr oft vorgekommen, dass ihm ein Verdächtiger entkommen konnte. Und jetzt war diese vermaledeite Stück Scheiße live im Fernsehen zu sehen!
»Liebe Zuschauer! Hier ist Paula Webber live vom Lake Nacimiento Staudamm. Mit diesem Motorboot … « Nun drehte sich die Schmeißfliege zur Seite und zeigte auf ein Boot am Seeufer. Dabei offenbarte sie den Zuschauern ihre vorstehende Nase, ihr Pferdegebiss und ihr fliehendes Kinn, anstatt nur frontal in die Kamera zu schauen. »... hat Daniel Slatkin es geschafft, zu entkommen. In seiner Begleitung befindet sich Martin Frazer, eine der Geiseln. Ob er freiwillig bei Slatkin ist, ist nicht bekannt. Die beiden sind zu Pferd vom Hearst Castle aus in Richtung Osten entkommen und am Westende des Sees auf dieses Motorboot umgestiegen. Danach haben die beiden ihre Flucht auf einem Motorrad fortgesetzt. Die Polizei ist gerade dabei, die Umgebung abzusperren. Für eine Stellungnahme stand der leitende Ermittler vor Ort leider nicht zur Verfügung.«
Nun wurden die Zuschauer Zeugen, wie das Aufnahmeteam von den Einsatzkräften abgedrängt wurde. Der Sender brach den kurzen Beitrag ab.
»Wie konnte dieses Miststück praktisch zeitgleich mit der Polizei bei dem Motorboot sein?«, ereiferte sich Stephen.
»Bestimmt hat sie den Polizeifunk abgehört. Dieser wird zu Zeiten des Notstandes zwar verschlüsselt, aber nicht sehr gut«, erklärte Georgina.
»Dass es sich bei dem zweiten Flüchtigen um Martin Frazer handelt, ist ebenfalls noch nicht veröffentlicht. Ferner frage ich mich, wie sie darauf kommt, dass die beiden die Flucht auf einem Motorrad fortgesetzt haben.«
»Ferner ist mir aufgefallen, dass sie nicht wie bei ihren vorigen Reportagen und wie alle anderen Kollegen von Abdul Sahir sondern von Daniel Slatkin spricht«, wunderte sich Georgina.
»Gründe genug, um dieses Miststück zu verhaften«, polterte Morris, »ich will wissen, wo sie seit gestern Abend war und was sie gemacht hat.«
»Es war eine Live-Schaltung. Das Team muss ja noch am Fundort des Motorbootes sein«, schlussfolgerte Georgina. »Ich werde die Beamten vor Ort anweisen, sie in Gewahrsam zu nehmen.«
»Genau, mach das! In zwei Stunden will ich diesen Kotzbrocken hier im Verhörraum haben!«
Aus den zwei Stunden wurden vier Stunden, denn ohne Anwalt sagte die Schmeißfliege nichts. 'Santa Barbara Channel Six' stellte seiner Angestellten San Franciscos teuersten Staranwalt zur Seite – John Edwards.
»Was genau werfen Sie meiner Mandantin vor?«, fragte der redegewandte Mittfünfziger nun schon zum wiederholten Male.
»Ms. Webber hat sich gestern Abend einem Zugriff entzogen und verbirgt ein Notebook, das der Zeugin Linda Howard gehört hat und ein wichtiges Beweismittel darstellt«, wiederholte Morris ebenso häufig und zunehmend gereizter. »In ihrer Reisetasche haben wir dieses Notebook nicht gefunden.«
»Weil es dieses Notebook überhaupt nicht gibt. Meine Mandantin bestreitet die Existenz dieses Notebooks. Sie haben keinen Beweis, dass sich das besagte Gerät jemals im Besitz meiner Mandantin befunden haben soll.«
»Die Ortung von Ms. Webbers Mobiltelefon hat ergeben, dass sie sich in der vergangenen Nacht in San Miguel aufgehalten hat«, mischte sich Georgina ein. »In diesem Ort muss Daniel Slatkin vorbeigekommen sein, nachdem er mit dem Motorboot den Damm des Lake Nacimiento erreicht hatte. Wir fragen uns also: woher wusste sie das?«
Paula versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Sie warf der schwarzen FBI-Beamtin, die der Wahrheit gefährlich nah gekommen war, einen überheblichen Blick zu. Auch wenn es ihr schwer fiel – sie überließ ihrem Anwalt das Wort.
»Ms. Webber ist eine freie Bürgerin der Vereinigten Staaten und kann übernachten wo sie will. Jedenfalls hat sie im Motel in San Miguel ordnungsgemäß einen Meldeschein ausgefüllt. In besagtem Motel haben in der vergangenen Nacht noch vierzehn weitere Gäste übernachtet. Haben Sie die auch alle festgenommen?«
Edwards machte eine theatralische Pause, bevor er fortfuhr: »Ferner regelt der 'Freedom Of Information Act' eindeutig, dass ein Journalist seine Informationsquellen nicht preisgeben muss. Es wäre ratsam, dass Sie sich über die bestehende Gesetzeslage informieren, bevor Sie eine engagierte Journalistin in Gewahrsam nehmen und von ihrer Arbeit abhalten.«
»Engagierte Journalistin? Das ich nicht lache! Klatschreporterin trifft es wohl eher!« Morris verlor die Contenance. Georgina May verdrehte nur die Augen.
»Ms. Webber, es ist bald sechs Uhr. Ich würde sagen, wir machen Feierabend und gehen. Ich kenne gute Restaurants hier in San Francisco. Dort können wir alles Weitere in Ruhe besprechen«, schlug Edwards vor und an die Ermittler gerichtet: »Und Sie händigen jetzt sofort meiner Mandantin ihre Reisetasche aus!«
Stephen Morris kannte sich gut genug, um zu wissen, dass es jetzt an der Zeit war, den Vernehmungsraum zu verlassen. Er war drauf und dran, außer Kontrolle zu geraten. Und das war in Gegenwart eines Rechtsverdrehers vom Kaliber eines John Edwards nicht ratsam.
»Irgendwo muss sich dieses verdammte Notebook doch befinden!« Morris war jetzt wieder in seinem Büro und traktierte mit dem Fuß seinen Papierkorb.
»In ihrem Haus ist es nicht, auf der Flucht vor Dir weggeworfen hat sie es wohl kaum«, resümierte Georgina. »Da sie es jetzt nicht dabei hatte, muss sie das Gerät unterwegs irgendwo versteckt haben.«
»Genau! Schmeißfliegen wie die sind doch gierig auf alles, was auf der Festplatte eines Entführungsopfers drauf ist. So etwas schmeißen die nicht einfach weg.«
»Wir müssen herausbekommen, wie sie in den Besitz des Notebooks gelangen konnte«, schlug Georgina vor. »Wenn wir beweisen können, dass sie den Computer gestohlen hat, kann sie sich den Freedom Of Information Act in ihren kleinen weißen Arsch stecken!«
»Wow, Georgina! Man merkt, dass Du schon lange in meinem Team bist!«, scherzte Morris in Anspielung auf Georginas vulgäres Vokabular. »Trotzdem, was mich angeht. Ich muss jetzt endlich mal mein Schlafdefizit abbauen. Ich würde vorschlagen, wir machen morgen weiter. Lass uns nach Hause gehen.«
»Stephen, ich kann nicht nach Hause!«
»Wieso nicht?« Erst jetzt bemerkte Morris, dass Georginas Augen feucht glänzten.
John Edwards hatte die Schmeißfliege zum Dinner in eines der teuersten Restaurants San Franciscos eingeladen. Diese genoss es, sich an der Seite dieses Mannes in der Öffentlichkeit zu zeigen. Schließlich war John Edwards kein Unbekannter. Sein Ruf als Staranwalt ging weiter über die Stadtgrenzen hinaus. Aus ihren Augenwinkeln nahm sie wahr, wie die Leute vom Nachbartisch zu ihnen hinübersahen.
»Führen Sie jede Klientin hier her aus?«
»Kommt darauf an«, wich der Anwalt aus.
»Worauf?«
»Ist dies ein Interview oder ein Verhör?«
»Kommt darauf an, was Ihnen lieber ist.« Paula nippte an dem trockenen Shiraz.
»Ich muss schließlich wissen, für wen ich mich vor Gericht einsetze. Und wie kann man das besser erfahren, als bei einem Glas guten Weines.«
»Sind Sie verheiratet?«, fragte Paula.
»Geschieden!«
»Kinder?«
»Um Himmelswillen! Und was haben Sie Ihrem Freund erzählt, wo Sie heute Abend sind?«
»Wie kommen Sie darauf, dass ich einen Freund habe?«
»Weil ich Realist bin. Ich gehe davon aus, dass eine attraktive junge Frau wie Sie in festen Händen ist – und lasse mich dann gerne vom Gegenteil überzeugen.« Edwards lächelte charmant.
»Ich bin frei und ungebunden«, hauchte Paula in seine Richtung. »Frei wie ein Vögel … upps … ich meinte Vogel.« Sie kicherte dümmlich.
John lächelte. Sein Blick schweifte durch den Raum auf der Suche nach dem Kellner.
»Ich wurde direkt nach meiner Live-Reportage verhaftet«, fuhr sie fort, »ich habe sozusagen noch meine Arbeitskleidung an. Können Sie mir ein Hotel in der Nähe empfehlen?«
»Ein Hotel? Ich besitze eine Penthouse Wohnung zwei Seitenstraßen weiter!« John Edwards unterstrich diese protzige Aussage, indem er lässig seine goldene Kreditkarte dem Kellner überreichte.
»Wow«, dachte das Miststück, »der lässt aber auch nichts anbrennen!«
Ein separater Fahrstuhl führte zum Penthouse, dessen Größe und elegante Einrichtung Paula einfach umhauten. Das Wasserbett hatte eine Ausdehnung, die annähernd der Fläche von ihrem Schlafgemach entsprach. Das gesamte Schlafzimmer war verglast. Keinerlei Vorhänge versperrten die Aussicht auf die San Francisco Bay.
»Die komplette Glasfront ist verspiegelt«, kam John ihrer Frage zuvor.
»Schleppen Sie alle ihre Klientinnen hierher?«
»Das fällt leider unter die anwaltliche Schweigepflicht!« John grinste süffisant.
In Paulas unterem Stockwerk klingelte jede Nervenfaser. Vor nicht einmal zwölf Stunden war sie von einem Topterroristen begattet worden und jetzt war sie dabei, mit dem bekanntesten Staranwalt San Franciscos eine Liebesnacht zu verbringen. Ach, das Leben als Journalistin konnte so schön sein!
»Zieh Dich aus!«, befahl John unvermittelt und, wie Paula meinte, in einem recht rüden Ton.
Paula lächelte aufreizend. Mit dieser Aufforderung hatte sie kein Problem. Sie trug noch den grellgelben Hosenanzug, den sie bei der Live-Reportage angehabt hatte. Jackett und Hose legte sie sorgfältig über eine Stuhllehne. John schien sie kaum zu beachten. Aus dem Kühlschrank der Bar entnahm er eine Whiskyflasche.
»Auch einen?«
»Aber gerne doch!«, antwortete Paula, während sie ihre weiße Bluse aufknöpfte.
Während John die Eiswürfel in die Gläser fallen ließ, streifte Paula ihre Schuhe ab und stand nur mit ihrer Unterwäsche bekleidet vor der glitzernden Skyline San Franciscos.
John machte es sich mit seinem Drink auf einem der Sessel gemütlich und stellte Paulas Glas auf dem niedrigen Couchtisch vor ihm ab. »Weiter!«
Verführerisch wiegte sie mit den Hüften, während sie sich der restlichen Kleidungsstücke entledigte.
»Setz' Dich!«
Jetzt war die Schmeißfliege doch etwas verunsichert, da ihr Gegenüber keinerlei Anstalten machte, sich ebenfalls zu entkleiden. Stattdessen prostete er ihr zu: »Cheers!«
»Cheers!« Paula tat es ihm gleich.
»Wo ist das Notebook?«, kam nun als überraschende Frage.
»Musste ich mich erst ausziehen, damit Sie mir diese Frage stellen?« Paula war jetzt doch etwas verärgert. Sie fühlte sich von dem alten Anwalt verarscht.
»Wenn ich Sie verteidigen soll, muss ich die Wahrheit wissen – die nackte Wahrheit. Im Zeugenstand zu sitzen kann weit unangenehmer sein als dies hier. Und glauben Sie mir: ich kenne diesen Morris nur zu gut. Er wird keine Ruhe geben. Nur weil ich Sie heute Nacht vor dem Knast bewahrt habe, heißt das nicht, dass die Angelegenheit für Sie erledigt ist.«
»Nach der Geiselnahme habe ich im Umfeld der Pattersons recherchiert«, begann Paula zögerlich. »Linda hatte ihr Notebook einer Freundin anvertraut, da sie Angst hatte, ihre Mutter würde ihre Postings lesen. Diese Freundin habe ich überredet, mir das Notebook zu überlassen.«
»Heißt das, sie hat es Ihnen freiwillig gegeben?«
»Ja!«
»Und wo ist das Notebook jetzt?«
»Alec hat es«, sagte Paula nach einem kurzen Zögern, worauf sich Johns Miene verfinsterte. »Alec ist mein Kameramann«, schob Paula als Erklärung hinterher.
»Haben Sie die Daten auf dem Computer gesichtet und haben Sie diese Informationen in Form von Reportagen der Öffentlichkeit Preis gegeben?«, fragte John nun in der gestochen scharfen Formulierung eines Juristen.
»Da waren nur belanglose Bilder und Chatnachrichten drauf. Nichts Brauchbares.« Paula presste ihre Knie aneinander, kreuzte ihre Arme vor ihren Brüsten und kauerte in gebeugter Haltung auf dem Sessel. Man musste kein Spezialist in der Interpretation von Körpersprache sein, um zu erkennen, dass diese Frau nicht die Wahrheit sagte.
»Wenn Sie wollen, dass ich Sie weiterhin vertrete, werden Sie morgen diesen Alec anrufen und das Notebook der Freundin zurückgeben.«
»In Ordnung«, sagte Paula so selbstbewusst wie möglich, obwohl ihr klar war, dass das Gerät zusammen mit Alec und Terry in dessen Wagen verbrannt war.
»Gut, dann haben wir das geklärt«, grinste John selbstzufrieden.
Wortlos angelte er mit Zeige- und Mittelfinger einen Eiswürfel aus seinem Drink, erhob sich und kniete vor dem Sessel nieder, in dem Paula Platz genommen hatte. Den Eiswürfel ließ er um Paulas Brustwarzen kreisen, bis diese sich steif und knubbelig anfühlten. Sie spreizte die Beine, stützte sich mit den Füßen auf dem Couchtisch ab und schloss die Augen. Ihre Erregung explodierte, als sie spürte, wie ihre Klitoris zwischen seinen Lippen behutsam angesaugt wurde.
Im Gegensatz zu Daniel, der sie kurz und schmerzhaft auf dem Motorrad genommen hatte, schien John großen Wert auf ein ausgiebiges Vorspiel zu legen. Er wusste, wo und wie man eine Frau stimulierte und es machte ihm offensichtlich Spaß, den eigentlichen Geschlechtsakt herauszuzögern und ihre Geduld bis ins Endlose zu strapazieren.
Paula war dabei, jegliches Zeitgefühl zu verlieren. Auch der Alkohol schien seine Wirkung nicht zu verfehlen. Sie glaubte, bereits die Sonne über der Bay aufgehen zu sehen, als John in ihr förmlich explodierte.
***
Wie die Duschen waren auch die Ruheräume im Untergeschoss der FBI-Zentrale in erster Linie dem Bereitschaftsdienst vorbehalten. Als Georgina in dieser Nacht erneut von der Müdigkeit übermannt wurde, übernahm sie kurzerhand die Administration der Datenbank, mit der die Reservierung dieser Räume organisiert wurde. Raum minus 153 gehörte ab sofort ihr! Als sie die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ, war sie froh, nicht wieder dieser geschwätzigen Rothaarigen zu begegnet zu sein. Von einem geruhsamen Schlaf jedoch war sie meilenweit entfernt. Georgina hatte schon immer das Problem, schlecht abschalten zu können. Sie wälzte sich auf der Liege hin und her und in ihren Gehirnwindungen fuhren die offenen Fragen zum Hearst-Castle-Fall zusammen mit ihrem privaten Desaster auf einer Achterbahn. Nicht im Traum hatte sie sich vorstellen können, dass Mike sie derartig dreist hintergehen würde.
Nach geschlagenen drei Stunden erklärte sie ihre Ruhezeit für beendet und begab sich wieder vor ihre Bildschirme. Zuerst überprüfte sie den Eingang der aktuellen Meldungen. Von Daniel Slatkin und Martin Frazer fehlte noch immer jede Spur. Die beiden waren wie vom Erdboden verschluckt. Danach checkte sie den Status der Aufträge forensischer Analysen, die Morris und sie in Auftrag gegeben hatten – zwei Fingerabdrücke und drei DNA-Analysen. Nichts! Seit 'Five-O-Seven', wie die Geiselnahme am Hearst Castle in Anlehnung an 'Nine-Eleven' mittlerweile in den Medien genannt wurde, waren alle Labore völlig überlastet.
Also galt es, die vorhandenen Informationen zu sichten, Puzzlestücke zu erkennen und an der richtigen Stelle in das Gesamtbild einzusetzen. Was Martin Frazer betraf, gab es zwei Möglichkeiten. Entweder war er gezwungen worden, Slatkin zu begleiten, oder er war sein Komplize. Georgina ging von letzterem aus. Ein Mann alleine hätte eine Geisel auf der Flucht kaum in Schach halten können. Oder hatte sich Slatkin der Geisel entledigt und Frazer umgebracht? Dafür gab es zumindest momentan keine Hinweise. So wie die Ermittlungsbehörden jeden Quadratzentimeter in und um Hearst Castle umgekrempelt hatten, hätten sie ihn finden müssen.
Georgina war davon ausgegangen, dass Martin Frazers Haus bereits durchsucht worden war. Merkwürdigerweise war dies noch nicht geschehen – Arbeitsüberlastung der Behörden – oder verschwörerische Absicht? Sein Computer war noch ans Netz angeschlossen. Georgina erweckte ihn aus dem Schlafmodus. In den sozialen Netzwerken war Frazer nicht unterwegs gewesen. Verdächtig war, dass Frazer ein Programm benutzte, das seine IP-Adresse verschleierte. Was hatte er zu verbergen? War ihm seine Privatsphäre so wichtig, dass er dafür ein Internet im Schneckentempo in Kauf nahm?
Martin Frazer interessierte sich für Geschichte. Georgina hatte erwartet, massenweise eingescannte historische Dokumente und wissenschaftliche Abhandlungen zu finden. Aber die Festplatte war sauber aufgeräumt. Papierkorb und temporäre Dateien waren nicht nur gelöscht worden, eine spezielle Reinigungssoftware hatte die letzten Datenrückstände entfernt. Ein Wiederherstellen von gelöschten Dateien war zumindest auf die Schnelle nicht möglich.
Jetzt tat Georgina etwas, was offiziell streng verboten war, aber mittlerweile zum Standardrepertoire der Ermittlungsmethoden des FBI gehörte. Sie aktivierte Frazers Webcam. Im Raum war es dunkel, aber die Kamera verfügte über eine LED-Leuchte, die sich automatisch anschaltete. Das Bild, das sich vor Georgina aufbaute, war das eines leeren Arbeitsplatzes. Über die Tischkante ragte die Lehne eines Bürostuhls, im Halbdunkel dahinter befand sich ein Bücherregal. An der Wand neben dem Regal hingen drei Bilder. Zwei zeigten die Portraits jeweils einer männlichen Person, auf dem dritten Bild war ein Schiff älterer Bauart abgebildet. Georgina speicherte einen Screenshot. Anschließend versuchte sie, die Webcam ferngesteuert zu drehen. Fehlanzeige! In der Hoffnung, dass Frazer die Vorhänge nicht zugezogen hatte, nahm sie sich vor, nach Sonnenaufgang erneut auf die Webcam zuzugreifen, um ein besser ausgeleuchtetes Bild zu erhalten.
Georgina verspürte einen Krampf in ihren Beinen. Sie hatte das Bedürfnis, sich die Beine zu vertreten und ging zur Fensterreihe des verwaisten Großraumbüros. Über der Bay zeichnete sich am Horizont das erste Licht des neuen Tages ab. Ihre Arbeitspausen wurden immer häufiger und länger. So konnte es nicht weitergehen!
Ihr fiel die Decke auf den Kopf. Sie wollte einfach nur noch raus hier! Kurzentschlossen schnappte sie ihre Autoschlüssel. Sie wollte Mike abpassen, bevor er zur Arbeit ging. So einfach wollte sie sich nicht von einem billigen Flittchen abdrängen lassen. Noch war es schließlich zur Hälfte ihre Wohnung.
***
Paula schreckte hoch! Die Morgensonne strahlte fast waagrecht in das Penthouse. Geblendet rieb sie sich die Augen. Sie griff neben sich. Das Bett war zerwühlt und leer. Es dauerte eine Weile, bis ihr Blick auf eine Haftnotiz fiel, die am Spiegel neben dem Bett klebte.
'Guten Morgen! Ich musste heute früh los. Wollte Dich nicht stören. Frühstück ist im Kühlschrank. Nach unten funktioniert der Fahrstuhl ohne Code. Ich melde mich. John.'
Paula las den in krakeliger Schrift verfassten Text zweimal. Na ja, also mit Romantik hatte es der gute John wohl nicht so. Auf jeden Fall aber schien er ein unermessliches Vertrauen in seine Mitmenschen zu haben – jedenfalls in die, die er im Zuge eines One-Night-Stand gevögelt hatte. Jetzt, wo sie bei Tageslicht Gelegenheit hatte, sich genauer umzusehen, war sie beeindruckt von der teuren und geschmackvollen Einrichtung dieser Luxuswohnung.
Im Bad fand sie eine Duschkabine vor, in deren Wände mehrere Düsen in unterschiedlicher Höhe eingelassen waren. Genüsslich ließ sie ihren Körper von den warmen Wasserstrahlen massieren. Als sie anschließend durch die Glasschiebetür auf die Terrasse ging, hatte sie sich nur ein Badetuch um ihre Hüften geschlungen. Tatsächlich, die verspiegelten Scheiben versperrten jeglichen Einblick in das Innere des Penthouses. Aber hier draußen, war sie den Blicken aus den benachbarten Hochhäusern ausgesetzt. Das hinderte sie nicht, das Badetuch abzulegen, sich an das Geländer zu stellen und die noch recht frische Morgenbrise über ihre Haut streichen zu lassen.
Das Klingeln ihres Smartphones unterbrach diese morgendliche Idylle. Etwas genervt ging Paula zurück ins Schlafzimmer und blickte auf das Display. Jon, ihr Boss!
»Hi Jon!«
»Paula, gut, dass ich Dich erreiche. Ich habe es schon zweimal versucht!«
»Da war ich wohl gerade unter der Dusche!«
»Nette Vorstellung«, flachste Jon, »offensichtlich keine Gefängnisdusche!«
»In diesem Fall wäre ich jetzt wohl kaum in der Lage, mit Dir zu telefonieren.«
»Ja, ich weiß. Edwards hat mir bereits mitgeteilt, dass er erfolgreich war.«
»Erfolgreich mit was?«, fragte Paula etwas irritiert.
»Na, Dir die Untersuchungshaft zu ersparen. Was denn sonst?«
Paula musste grinsen. Einen Moment hatte sie sich vorgestellt, wie John und Jon ihre Erfahrungen darüber ausgetauscht hatten, wie gut sie im Bett war.
»Bist Du noch in San Francisco?«
»Ja. Das Verhör gestern Abend ging bis spät in die Nacht.« Hier übertrieb das Miststück ein wenig.
»Das ist gut, Paula. Das ist sehr gut! Dann kannst Du gleich vor Ort eine Reportage machen. Meinst Du, dass Du um neun Uhr live auf Sendung sein kannst?«
»Um neun?« Paula blickte auf die Uhr. Es war kurz vor halb neun. »Wo soll ich hin? Und wo ist mein Kamerateam?«
»Die GPS-Koordinaten habe ich Dir als e-Mail geschickt. Terry und Alec sind übrigens immer noch verschwunden. Aber zum Glück helfen uns die Kollegen von Channel Six San Francisco mit einem Team aus.«
»Und worum geht es?«
»Doppelmord. Ein Mann und eine Frau.«
»Sehr schön, Jon!« So etwas brauchte die Schmeißfliege am frühen Morgen! »Aber was ist an einem Doppelmord in Frisco so besonders, dass wir in Santa Barbara darüber berichten?«
»Die tote Frau ist eine Ermittlerin, die auch beim Einsatz am Hearst Castle beteiligt war. Ihr Name ist Georgina May.«
***
Mit quietschenden Reifen stoppte Stephen Morris direkt vor der Polizeiabsperrung.
»Hier können Sie nicht parken!«, bellte sofort einer der uniformierten Beamten, die die Schaulustigen zurückdrängten.
Wortlos zeigte Stephen seine Marke und rannte in Richtung Hauseingang. Er hatte gerade gefrühstückt, als er die schreckliche Nachricht erhielt. Direkt vor dem Haus stand ein Wagen mit der Aufschrift 'Coroner'. Die Kollegen von der Gerichtsmedizin waren also bereits vor Ort. Tatort war die Wohnung im zweiten Stock. In der Wohnungstür klaffte ein riesiges Loch, Holzsplitter lagen verstreut auf dem Boden. Stephen streifte sich einen Einwegoverall über, um keine Spuren zu verschleppen.
»Hi Stephen!« Die Begrüßung war der Situation entsprechend bedrückend.
Unter den drei ebenfalls in Overalls arbeitenden Gestalten erkannte Stephen seine Kollegin Dr. Joan Cohen, die an diesem Morgen Bereitschaftsdienst hatte.
»Meine Herren, unterbrechen Sie bitte Ihre Arbeit und verlassen Sie kurz die Wohnung! Ich muss mit Special Agent Morris unter vier Augen sprechen.«
Stephen war über Joans Anordnung mehr als verwundert, sagte aber nichts. Die beiden Kollegen verließen wortlos den Tatort. Joan war eine schlanke Frau mit schwarzen, schulterlangen Haaren, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte, die chinesischer Herkunft war. Ihr Vater hatte irische Vorfahren. Ihre natürliche, eurasische Schönheit kam unter der weißen Kapuze des Overalls nur unzureichend zur Geltung.
»Joan?« Mehr bekam Morris nicht über seine Lippen. Vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden hatte er Georgina zum letzten Mal vor genau diesem Haus abgesetzt. In ihrer Wohnung war er noch nie gewesen. Es hatte sich nie ergeben. Er hatte eine Familie, sie war liiert. Jetzt war die Wohnung ein Tatort. Großkalibrige Einschusslöcher in den Wänden und Türrahmen des Korridors zeugten von der grenzenlosen Brutalität, mit der der oder die Täter in die Wohnung eingedrungen sein mussten.
»Komm mit!«
Stephen folgte Joan durch die zweite Tür links, wo sich das Schlafzimmer befand. Sein erster Blick fiel auf den blutüberströmten Körper eines Schwarzen, der nackt auf dem Bett lag. Das musste Mike sein. Viel hatte Georgina nie über ihn erzählt. Gestern jedoch hatte sie eine Bemerkung fallen lassen, woraus er schloss, dass es in der Beziehung kriselte. Stephen hatte nicht weiter nachgefragt.
Als er zwei Schritte weiter um das Bett herum ging, sah er sie. Ihr nackter, von mehreren Geschossen zerfetzter Körper lag auf einem von ihrem Blut durchtränkten Teppich. Georgina hatte mit ihren Reizen nie gegeizt und Stephen war auch nur ein Mann. Es war nur natürlich, dass er sich schon etliche Male vorgestellt hatte, wie seine attraktive Kollegin nackt aussehen würde und wie gut sie im Bett wäre. Aber doch nicht so!
»Joan, lass es bitte!«, sagte er mit belegter Stimme, als diese sich anschickte, die Haare aus Georginas Gesicht zu streichen.
Aber Joan ließ sich davon nicht abbringen. Ihre blauen Einweghandschuhe glitten durch das blutgetränkte Haar, bis das Gesicht frei lag. Keiner der beiden sagte ein Wort. Joan und Stephen sahen sich an. Sie waren sich einig. Das war nicht Georgina!
»Verstehst Du jetzt, warum ich Dich hier alleine sprechen wollte?«
»Weißt Du, wer das ist?«, fragte Stephen nach einer kurzen Pause, in der er erleichtert und deutlich hörbar ausatmete.
»Nein, aber sie hat eine auffallende Ähnlichkeit mit Georgina.«
»Joan, das bleibt vorerst unter uns. Wenn diese Frau mit Georgina verwechselt und an ihrer Stelle umgebracht wurde, dann ist sie in großer Gefahr.«
»Na gut, Stephen«, seufzte Joan, »aber lange kann ich diese Information nicht zurückhalten. Spätestens in vierundzwanzig Stunden muss der Obduktionsbericht fertig sein. Das ist Vorschrift!«
Georgina May! Das Miststück frohlockte. An diesen Namen erinnerte sie sich noch genau! Das war diese arrogante Schwarze, die sie gestern Abend beim Verhör so penetrant mit Fragen gelöchert hatte. Die größte Katastrophe für Paula war, dass sie in den selben Klamotten wie gestern vor die Kamera treten musste. An zwei aufeinander folgenden Tagen im gleichen Kostüm vor der Kamera – das ging ja gar nicht! Aber heute musste es gehen.
Einsatzfahrzeuge blockierten die Seitenstraße, wo Georgina May gewohnt hatte. Ihr Taxi musste sie zwei Blocks vorher verlassen. Hoffentlich befanden sich die Leichen noch am Tatort. Die Schmeißfliege brannte darauf, wenigstens den Abtransport der Leichensäcke zu filmen.
Bereits drei Kamerateams der Konkurrenz waren vor Ort. Sie blickte nach oben. Im zweiten Stock war eine Fensterscheibe zerborsten. Ihr Blick schweifte zur gegenüber liegenden Häuserfassade. Würde es möglich sein, von dort aus in die Wohnung zu blicken, um ein Foto der unverhüllten Leichen zu schießen? Ein Mann winkte ihr zu.
»Ms. Webber! Mein Name ist Ernest Norton, Channel Six San Francisco. Ich bin Ihr Kameramann.«
»Und wo ist meine Visagistin?«, fragte das arrogante Dreckstück, anstatt froh zu sein, ihr Team so schnell gefunden zu haben.
»Visagistin? Wir sind gleich auf Sendung!«, antwortete Ernest völlig unbeeindruckt, packte das Blondchen am Arm und zerrte es vor die Kamera.
Paula strich sich durch das Haar und befeuchtete mit der pelzigen Zunge ihre Lippen. »Guten Morgen, hier ist Paula Webber live aus San Francisco. In diesem Haus hinter mir wurde vor wenigen Stunden ein brutaler Doppelmord verübt. Eines der Opfer ist die FBI-Beamtin Georgina May. Sie war als Ermittlerin in Five-O-Seven eingebunden. Das kann kein Zufall sein!«
Jetzt wurde neben ihr ein Portrait der Ermordeten eingeblendet. Paula war selber davon beeindruckt, wie schnell die Kollegen an ein Bild der Frau gekommen waren.
»Oh! Gerade verlässt Special Agent Morris das Haus!« Unter allen Schmeißfliegen, war Schmeißfliege Paula am erfolgreichsten, wenn es ums Vordrängeln ging. »Mr. Morris, wissen Sie bereits, wer diesen bestialischen Doppelmord begangen hat? Besteht ein Zusammenhang mit Five-O-Seven?« Sie hielt dem Mann, der sie gestern Abend noch verhört hatte, ein Mikrofon unter die Nase.
»Fick Dich, Du blöde Fotze!«, schrie Morris aufgebracht dem Miststück ins Gesicht, bevor er umringt von einem Pulk von Beamten zu seinem Dienstwagen geleitet wurde.
»Ähm, das meine Damen und Herren war Special Agent Morris vom San Francisco FBI Department. Ich werde mich bemühen, einen kompetenteren Interviewpartner zu finden.«
Ernest gab ihr ein Zeichen, sich umzudrehen. Seine Kamera schwenkte er in Richtung Hauseingang. Gerade wurde eine Bare zu einem Kleintransporter geschoben. Durch die Plastikplane zeichnete sich die Form eines Körpers ab. Paula glaubte an der Form zu erkennen, dass es eine Frau war.
»Gerade werden die sterblichen Überreste von Georgina May abtransportiert. Wir hoffen, so schnell wie möglich die Ergebnisse der Obduktion zu bekommen. Nach einer kurzen Werbepause sind wir gleich wieder auf Sendung. Bleiben Sie dran!«
Nachdem beide Leichen im Laderaum des Transporters verstaut waren, wurden die Türen zugeschlagen und der Wagen setzte sich in Bewegung.
»Gute Reise, Georgina!«, murmelte das grinsende Miststück, nachdem es sich vergewissert hatte, dass das Mikrofon ausgeschaltet war.
***
Ungeachtet der Brandschutzbestimmungen der FBI-Zentrale brannte auf Georginas Schreibtisch neben der Tastatur ein Grablicht. Ein schwarzer Trauerflor hing über der linken Ecke eines der erloschenen Bildschirme. Die Nachricht vom Tod der beliebten Kollegin hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Über das Großraumbüro hatte sich eine gedrückte Stimmung gelegt. Kurz im Vorbeigehen blickte Stephen Morris auf dieses Arrangement, bevor er in seinem Einzelbüro verschwand und die Tür hinter sich zuschlug.
Keine Zeit für Sentimentalitäten! Er musste seine Gedanken sortieren. Bereits in der mobilen Einsatzzentrale am Hearst Castle hatte Georgina ihm gegenüber erwähnt, dass sie den Eindruck hatte, dass ihre Arbeit behindert oder torpediert würde. Hatte er sie ernst genommen? Hatte er angemessen darauf reagiert? Georginas Umgang mit Computern und Datenbanken war geradezu virtuos, ihre Recherchen waren oft entscheidend für Ermittlungserfolge. War sie jemandem in die Quere gekommen? Gab es wirklich einen Zusammenhang zu Five-O-Seven, wie diese dumme Schmeißfliege vermutete? Stephen erinnerte sich an Gina Hines, die unter ungeklärten Umständen in der Untersuchungshaft gestorben war. Georgina war unfreiwillig zu einer wichtigen Zeugin geworden. Sollte sie aus dem Weg geräumt werden? Aber zum Zeitpunkt des Anschlages befand sich eine andere Frau in ihrer Wohnung. War sie mit Georgina verwechselt worden?
Aber Stephen war ein guter Cop – ein sehr guter sogar. Angefangen hatte er bei der Drogenfahndung. Bereits in jungen Jahren war er zum FBI gewechselt und hatte innerhalb kürzester Zeit den Aufstieg zum Special Agent geschafft. Und als guter Cop ermittelte er vorurteilsfrei in allen Richtungen. Er begann, über alternative Szenarien nachzudenken.
Ihr Freund Mike hatte eine neue Geliebte. Nachbarn hatten ausgesagt, sie hätten gestern Vormittag einen lautstarken Streit mitbekommen. Wäre es denkbar, dass Georgina wutentbrannt und von Eifersucht zerfressen ihre eigene Wohnung gestürmt und ihren Freund und die Nebenbuhlerin erschossen hatte? Stephen projizierte dies auf seine Lebenssituation. Wie würde er reagieren, wenn er zurückkommend von einer Dienstreise seine Frau mit einem Lover im Bett überraschen würde?
Ein weiteres Szenario war, dass der Überfall gar nicht Georgina gegolten hatte, sondern Mike oder seiner Freundin. Hatte die getötete Frau einen gehörnten Ehemann oder Geliebten?
Wie dem auch sei, die Ermittlungen hatte eine andere Abteilung übernommen. Das war normal. Stephen war zu sehr in diesen Fall involviert. Nach der offiziellen Version waren Unbekannte in Georginas Wohnung eingedrungen und hatten sie und ihren Freund Mike erschossen. Das Ganze glich einer Hinrichtung. Dabei wussten nur Joan Cohen und er die Wahrheit. Sie beide riskierten ihre Jobs. Joan hatte ihm zugesagt, den Obduktionsbericht vierundzwanzig Stunden zurückzuhalten. So lange war Georgina aus der Schusslinie. Er war sich sicher, dass Georgina bereits wusste, was passiert war. Aber wo steckte sie?
Sein Smartphone riss ihn aus seinen Gedankengängen. Ein Anruf kam rein.
»Morris!«
»Hier spricht Milly Castella, Abteilung IT Sicherheit. Mr. Morris, Sie haben sich gerade eben mit dem Sicherheitscode in unsere Server eingeloggt. Sie wissen doch, dass sie einen zweiten Bestätigungscode eingeben müssen, den sie per SMS erhalten.« Die Stimme klang streng und vorwurfsvoll.
»Ja, ich weiß«, Stephen fasste sich schnell genug und verbarg seine Überraschung. »Ich bin unterwegs und hatte Netzwerkprobleme. Ich muss dringend etwas recherchieren, also gewähren Sie mir bitte den Zugang!«
»Das kann ich leider nicht zulassen.«
»Entschuldigung, wie war Ihr Name nochmal?«
»Castella, Milly Castella, Abteilung IT Sicherheit.«
»Milly, hier geht es um die innere Sicherheit der Vereinigten Staaten! Sie schalten mir jetzt sofort den Zugang frei. Andernfalls verspreche ich Ihnen, dass Ihre Tage beim FBI gezählt sind«, erwiderte Stephen in einem scharfen, schneidigen Ton.
»In Ordnung, Mr. Morris«, sagte Milly nach kurzem Zögern, »aber denken Sie bitte in Zukunft an die Standardprozedur!«
»Das werde ich, Milly! Einen schönen Tag noch! Vielen Dank!«, sülzte Stephen.
Er seufzte erleichtert. Über einen persönlichen Sicherheitscode konnten sich FBI-Beamte im Außeneinsatz jederzeit bei dringendem Bedarf in die Datenbanken der Behörde einloggen. Bestätigte man diese Anmeldung nicht über einen zweiten Code, den man via SMS erhielt, wurde die IT-Sicherheit alarmiert. Da er selbst diese Anmeldung nicht vorgenommen hatte, konnte dies nur bedeuten, dass am anderen Ende der Leitung niemand anderes als Georgina saß. Ein Lebenszeichen! Aber woher kannte sie seinen persönlichen Sicherheitscode? Bei Gelegenheit würde er sie fragen.
Stephen erlöste seinen Computer aus dem Schlafmodus. Die Arbeit musste schließlich weitergehen. Aber jetzt war es das Festnetztelefon, das ihn davon abhielt.
»Stephen, ich muss Sie sprechen. Sofort!«
Das war FBI-Directorin Alissa Bolt. Unverzüglich machte sich Stephen auf den Weg. Ihr Büro lag am anderen Ende des Großraumbüros. Auf dem Weg dorthin musste er erneut an Georginas Arbeitsplatz vorbei, der mittlerweile an einen Altar oder eine Kultstätte erinnerte. Dabei fiel im auf, dass eine flackernde LED-Leuchte an der Zentraleinheit signalisierte, dass die Festplatte aktiv war. Jemand rief Daten ab, obwohl die Bildschirm dunkel waren. Stephen rückte ein Blumengesteck so zurecht, dass es die blinkende Anzeige verdeckte.
»Stephen, ich weiß Ihre Arbeit zu schätzen«, begann die Direktorin, kaum dass dieser die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Aber Sie sind wieder dabei, über das Ziel hinauszuschießen.«
Stephen blickte seine Vorgesetzte fragend an. Seiner Selbsteinschätzung nach versah er seinen Dienst vorschriftsmäßig.
Ohne weiteren Kommentar spielt Alissa einen Videostream ab: »Fick Dich, Du blöde Fotze!«
»Stephen!«, meinte sie anschließend vorwurfsvoll. »Musste das sein? Das ist ein gefundenes Fressen für die Presse.«
»Ja, das musste sein!«, ereiferte sich Stephen. »Das war diese Paula Webber, die wir gestern im Verhör hatten...«
»…. und die von Anwalt Edwards herausgepaukt wurde, ich weiß.«
»Haben Sie mich deswegen herbestellt?«
»Mitunter! Edwards bereitet eine Klage gegen Sie vor. Sie hätten die Reisetasche seiner Mandantin ohne Durchsuchungsbeschluss durchsucht. Stimmt das?
»Standardprozedur! Wir mussten aus Gründen der Eigensicherung die Tasche nach Waffen durchsuchen.«
»Und? Haben Sie etwas gefunden?«
»Keine Waffen. Aber der Drogenhund schlug an. Sie muss wohl in der Tasche schon einmal Kokain oder Marihuana aufbewahrt haben.«
»Ich dachte, Sie haben die Tasche nach Waffen durchsucht! Wozu dann der Drogenhund?«
»Der war gerade zufällig in der Nähe.«
Dazu sagte Alissa Bolt jetzt lieber mal nichts. Sie kannte Morris nur zu gut.
»Und dann ist noch etwas«, wechselte sie abrupt das Thema, »mein Amtskollege Crain aus Los Angeles hat sich über Sie beschwert.«
»Ach ja?«
»Sie hätten sich in der Einsatzzentrale am Hearst Castle nicht an seine Anweisungen gehalten, obwohl er dort der ranghöchste Beamte war.«
»Wir hatten einige Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf unsere Vorgehensweisen. Er ist etwas dünnhäutig, wenn es um Kritik geht.«
Alissa Bolt versuchte etwas zu lächeln, soweit der traurige Anlass um Georginas Tod dies zuließ.
»Stephen, das waren harte Tage am Hearst Castle. Und jetzt die Sache mit Georgina!« Sie machte eine kurze Pause. »Die Ermittlungen wegen Five-O-Seven haben die Kollegen in L.A. an sich gerissen. Die arbeiten direkt mit der Homeland Security zusammen.«
»Verstehe«, meinte Stephen kleinlaut, was so gar nicht seine Art war. »Wie wäre es, wenn Sie mich einfach meine Arbeit machen lassen?«, hätte er lieber gesagt.
»Aber in einer Sache können Sie doch etwas tun«, fuhr die Direktorin fort, »Linda Howard, das vierzehnjährige Mädchen mit dem Kopfschuss, ist ins Medical Center nach San Francisco geflogen worden.«
»Das ist mir bekannt.«
»Damit ist sie in unserem Zuständigkeitsbereich. Sie ist aus dem Koma erwacht. Fahren Sie hin und vernehmen Sie sie!«
»Das werde ich!«, entgegnete Stephen voller Tatendrang.
»Aber Stephen, gehen Sie bitte behutsam vor!«
Morris, der vor dem letzten Satz schon bei der Tür war, vernahm ein Zwinkern im rechten Auge der Direktorin, als er sich noch einmal umdrehte.
»Das ist vollkommen unmöglich!«, war die klare Abfuhr, die Morris von einer Assistenzärztin bekam, als er im Medical Center Linda Howard befragen wollte.
»Dr. Walker«, entgegnete Stephen, nachdem er auf das Namensschild am weißen Kittel geschielt hatte, »die nationale Sicherheit steht auf dem Spiel. Ich werde Linda verhören – mit oder ohne Ihre Zustimmung.«
»Das glaube ich nicht, Mr. Morris.« Die Göttin in Weiß stellte sich stur.
»Ich will Ihren Vorgesetzten sprechen!«
»Der wird Ihnen dasselbe sagen. Die Kugel hat den oberen Schläfenlappen verletzt.«
»Es hieß doch, sie sei aus dem Koma erwacht!« Morris wurde ungehalten.
»Das ist sie auch. Aber im oberen Schläfenlappen liegt das Sprachzentrum. Sie können Linda Howard nicht verhören.«
»Und wann wird sie wieder sprechen können?«
»Wenn sie Glück hat, kann sie nach intensivem logopädischen Training in einem halben Jahr wieder kurze Sätze formen.«
»Und was, wenn sie kein Glück hat?«
»Dann wird sie ihr Leben lang nur noch unartikulierte Laute von sich geben.«
»Kein Problem, ich habe ein Notizblock dabei. Sie kann die Antworten aufschreiben. Bringen Sie mich zu ihr.«
»Na gut«, entgegnete Dr. Walker kopfschüttelnd und resignierend, »aber ihren Notizblock können sie stecken lassen. Nicht der Kehlkopf sondern das Sprachzentrum ist gestört. Ihr Gehirn kann keine Worte formen, auch nicht mit der Hand.« Nun öffnete sie die Tür zu einem Krankenzimmer.
Sofort erhob sich eine Frau, die auf einem Stuhl neben dem einzigen Krankenbett im Zimmer gesessen hatte. In den vergangenen Tagen hatte Stephen so viele Bilder aller Beteiligten des Geiseldramas gesehen, dass er sie sofort erkannte: Annie Patterson, Lindas Mutter. Die Terroristen hatten ihr die Haare abgeschnitten. Sie hatte das Beste daraus gemacht und sich einen modisch-frechen Kurzhaarschnitt verpassen lassen. Im Vergleich dazu wirkte ihr Gesicht blass und müde. Ihre Haut war grau und teigig.
»Ms. Patterson, das ist FBI-Agent Morris. Er möchte Linda ein paar Fragen stellen«, erklärte die Ärztin.
»Fragen stellen?« Annies Stimme war schwach. »Sie wollen meiner Tochter Fragen stellen?«
Eilig zog sie das Bettlaken nach oben und bedeckte die Brust ihrer Tochter, an der mehrere Saugnäpfe zur Ableitung der Herztöne angebracht waren.
»Sehen Sie das?«, fuhr sie wütend und aufbrausend fort, »sehen Sie das? Es war eine Polizeikugel, die meine Tochter so zugerichtet hat!«
Erst jetzt hatte Morris Gelegenheit, einen Blick auf die Patientin zu werfen. Ihr Kopf war bandagiert, ihre eingefallenen Augen blickten starr zur Zimmerdecke. Unter ihrer Atemmaske gab sie gurgelnde Laute von sich.
»Kann man ihr dieses Ding kurz abnehmen?«, fragte Morris völlig unbeeindruckt.
»Abnehmen?«, fragte Annie entsetzt, »was wollen Sie von meiner Tochter?«
»Ms. Patterson, ich war bereits kurz nach Beginn der Geiselnahme vor Ort und weiß, was Sie und Ihre Tochter durchmachen mussten. Aber im Gegensatz zu Ihnen war Ihre Tochter nicht unter den Gefangenen. Bei der Befreiungsaktion trug Linda muslimische Traditionskleidung.«
»Ich weiß nicht, worauf Sie hinaus wollen«, entgegnete Annie verunsichert.
»Dr. Walker, würden Sie uns bitte für einen Moment alleine lassen?«, wandte sich Stephen nun an die Assistenzärztin.
Diese gehorchte nur widerwillig: »Annie, drücken Sie auf dem Alarmknopf, wenn das hier zu viel für Ihre Tochter wird. Ich warte direkt vor der Tür.«
»Ms. Patterson«, begann Stephen, nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Tür auch wirklich geschlossen war, »wir haben Lindas Chat-Protokolle durchgesehen. Daraus ergibt sich ganz eindeutig, dass Ihre Tochter bereits vor dem Anschlag Kontakt mit Abdul Sahir hatte.«
»Das ist völlig unmöglich!« Annie schüttelte energisch den Kopf. »Wie kommen Sie eigentlich dazu, Lindas Computer zu durchsuchen?«
»Den brauchten wir dazu nicht. Wir sind auch so an die Daten herangekommen.«
Annie Patterson war sprachlos. Sie blickte wieder auf ihre Tochter. Bekam sie mit, was im Raum gesprochen wurde?
»Ms. Patterson, wieso wollten Sie und Ihre Familie ausgerechnet am siebten Mai Hearst Castle besuchen?«
»Linda sollte eine Hausarbeit zum Thema 'Hearst Castle' anfertigen.«
»Nein, das sollte sie nicht«, widersprach Morris. »Wir haben ihren Lehrer gefragt. Der weiß nichts von einer solchen Hausarbeit. Hat Linda den Termin vorgeschlagen?«
»Ja«, antwortete Annie nach kurzer Überlegung. »Sie hätte an diesem Tag nur zwei Kurse gehabt und die fielen aus. Daher hatte sie am siebten Mai frei und der Vorschlag für den gemeinsamen Ausflug nach Hearst Castle kam von ihr.«
»Wieder falsch!«, zerstörte Stephen auch diese Illusion. »Sie hätte an diesem Tag regulär in die Schule gehen müssen. Abdul Sahir hat ihr diesen Termin genannt. Alle anderen Geiseln waren zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort. Auf Sie und ihre Familie trifft das nicht zu.«
Annie Patterson musste sich setzen. Morris blickte zu Linda und sah, wie aus beiden Augen Tränenflüssigkeit seitlich über das Gesicht ran. Ihre Mutter musste erst einmal verdauen, was der FBI-Beamte ihr gerade offenbart hatte. Diese Gelegenheit wollte Stephen nutzen und beugte sich über die Patientin.
»Linda. Blinzele, wenn Du mich hören kannst.«
Augenblicklich schloss sie beide Augen und öffnete sie wieder.
»Einmal blinzeln heißt ja, zweimal blinzeln heißt nein. Verstanden?«
Erneut bestätigte Linda, dass sie voll bei Bewusstsein war.
»Kanntest Du Abdul Sahir vor dem siebten Mai?«
Linda blinzelte einmal.
»Hast Du mitbekommen, wohin Abdul Sahir fliehen wollte?«
Linda blinzelte zweimal. Das wäre auch zu schön gewesen.
»Wollte er Dich mitnehmen?«
Linda zögerte. Morris hatte den Eindruck, als ob sich der Tränenfluss etwas verstärkte. Daher formulierte er seine Frage neu:
»Hatte Abdul Dir versprochen, Dich mitzunehmen?«
Die Frage beantwortete Linda wieder mit einem einmaligen Blinzeln.
»Fühlst Du Dich von Abdul ausgenutzt?«
Auch diese Frage beantwortete das Mädchen mit einem Ja. Das war die Antwort, die Morris hören wollte. Er schlussfolgerte, dass Linda nicht mehr unter Abduls Kontrolle stand und kooperieren würde. Aber dieses Ja-Nein-Spielchen ging ihm auf die Nerven. Wenn sie doch nur sprechen könnte! Hatten sich die Terroristen an ihr vergangen? Eilig verwarf er die Idee, ihr eine Frage zu stellen, die sie emotional aufwühlen könnte. Ihre Mutter hätte womöglich sofort nach der Ärztin gerufen und ihn aus dem Zimmer entfernen lassen.
»Hast Du von den Gesprächen der Terroristen etwas mitbekommen?«, fragte er nach kurzem Nachdenken.
Erneut blinzelte Linda – und zwar nur einmal. Während Stephen überlegte, wie er die nächste Frage formulieren könnte, sah er, wie Linda versuchte, unter der durchsichtigen Atemmaske ihre Lippen zu bewegen. Er hob das Silikon leicht an.
»A... A….nnnn...do...do...rrr...ah«, brachte Linda mühsam hervor.
Annie hielt sich entsetzt die Hand vor den Mund und begann zu schluchzen. War das die Art und Weise, wie sie in Zukunft mit ihrer Tochter kommunizieren würde? Währenddessen dachte Morris angestrengt nach.
»Andorra?«, versuchte er sich zu vergewissern, als ihm der Name irgendeines Kleinstaates in Europa einfiel.
Linda blinzelte, diesmal zweimal. Die Antwort war also falsch. Sie setzte zu einem zweiten Versuch an: »B...Ba...ah...nnn...doh...rah«. Sie bemühte sich nicht zu stottern und die beiden A's lang zu ziehen.
»Bahndohra, Banndorra,...«, Stephen versuchte verschiedene Versionen aus.
»Pandora«, fiel Annie ihm ins Wort.
»Pandora!«, wiederholte Stephen, »meinst Du Pandora?«
Diesmal blinzelte Linda nur einmal. Er hatte sogar den Eindruck, sie würde dabei lächeln.
»Pandora also«, bestätigte Stephen, »ist das ein Name?«
Es folgte ein zweimaliges Blinzeln.
»Eine Stadt, ein Land?«
Wieder verneinte Linda
»Pandora ist eine Sagengestalt aus der Antike«, mischte sich schließlich Annie ein.
»Alles in Ordnung?« Dr. Walker, die die ganze Zeit vor der Tür gestanden hatte, hatte das Stimmenwirrwarr mitbekommen und fühlte sich bemüßigt einzugreifen. »Um Gotteswillen, setzen Sie dem Kind sofort die Atemmaske wieder auf!«
»Einen kleinen Moment noch!«, insistierte Morris und wandte sich erneut an Linda: »Ist Pandora ein Codename für ein Projekt oder eine Aktion?«
Linda blinzelte genau einmal und hielt danach angestrengt die Augen offen.
»So, jetzt reicht es aber!« Die Assistenzärztin machte von ihrem Hausrecht Gebrauch. »Gehen Sie, oder ich alarmiere den Sicherheitsdienst!«
Morris gab sich geschlagen, rückte die Atemmaske wieder zurecht und verabschiedete sich von Linda und ihrer Mutter. Er würde wiederkommen – bestimmt sogar. Ob Georgina etwas mit dem Schlagwort Pandora anfangen könnte? Wenn er nur wüsste, wo sie sich versteckt hielt!
***
Es dämmerte bereits, als das Miststück endlich wieder ihr Zuhause in Santa Barbara erreichte, das sie nach dem unangemeldeten Besuch von Special Agent Morris vor zwei Tagen so fluchtartig verlassen hatte. Nach einer Nacht im Motel und der stürmischen Liebesnacht mit ihrem Anwalt, war sie froh, wieder zuhause zu sein. Noch glücklicher war sie, dass ihr Haus nicht versiegelt war und kein gelbes Absperrband ihre Rasenfläche vor dem Haus zierte. Und so wie es aussah, war ihr Anwesen auch nicht durchsucht worden.
Im Halbdunkel des Wohnzimmers trat sie auf Scherben und erinnerte sich wieder an den Vorfall, dass jemand ihr Fenster mit einem Stein eingeworfen hatte. Darum würde sie sich morgen kümmern. Erschöpft stellte sie ihre Reisetasche auf einer Kommode im Eingangsbereich ab.
Bei ihrer Verhaftung war die Tasche durchsucht worden. Im Lichtkegel der Lampe über ihrem Spiegel öffnete sie die Tasche. Die Nähte unter der Polsterung hatte sie an einer kaum einsehbaren Stelle geöffnet. Man musste schon sehr genau hinsehen, um diesem winzigen Schlitz zu erkennen. Hier hatte sie, vorausschauend und genial wie sie war, die Speicherkarte versteckt, auf der die Fotos waren, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren: die Bilder, die sie geschossen hatte, als die Leichen von Terry und Alec in ihrem Wagen verbrannt wurden. Nicht auszudenken, wenn die blöden Cops diese SD-Karte gefunden hätten! Hatten sie aber nicht! Nach einer ausgiebigen Dusche würde sie ihren Computer hochfahren und sich an den Bildern aufgeilen. Mit einem fiesen Lächeln im Gesicht legte sie die Speicherkarte neben der Tasche auf die Kommode.
Dann dachte sie an ihre Trophäe. Den Slip, den sie angehabt hatte, als Daniel sie von hinten genommen hatte. Sie spürte, wie sie ganz feucht wurde, wenn sie nur schon daran dachte. Sie durchwühlte ihre Tasche nach dem Plastikbeutel mit dem Slip. Verdammt, wo war er? Diese Trophäe sollte einen Ehrenplatz direkt neben Matthews Zähnen bekommen. Also verflucht noch mal, wo war der verfickte Slip!
»Suchst Du dies hier?«
Paula spürte, wie ihr das Blut aus dem Kopf wich, als sie sich erschrocken umdrehte. Hinter ihrem Schreibtisch saß jemand. Im Dämmerlicht sah sie nur das Weiß zweier Augen. Sie strengte sich an und versuchte, sich an die Lichtverhältnisse zu gewöhnen.
Es war eine Frauenstimme gewesen. Und jetzt, wo sie zwei Schritte in Richtung ihres Schreibtisches getan hatte, nahm sie wahr, dass diese Frau schwarz war. Zitternd tastete sie an der Wand nach der Stelle, wo sie den Lichtschalter wähnte. Als es ihr schließlich gelang, den Deckenleuchter unter Strom zu setzen, traute sie ihren Augen nicht. An ihrem eigenen Schreibtisch saß die Frau, über deren Tod sie erst heute morgen berichtet hatte: Georgina May!
»Was fällt Ihnen ein?«, wollte sie ihr entgegen brüllen, als ihr Blick auf das fiel, was die schwarze FBI-Beamtin zwischen ihre gespreizten Finger gespannt hatte – ihren Slip! Und schlimmer noch: so wie das kostbare Souvenir gedehnt war, konnte sie erkennen, dass im Schritt ein ovales Stück Stoff herausgeschnitten worden war!
»Ein Gemisch aus Sperma und Vaginalsekret«, fuhr Georgina fort. »Den Samenspender haben wir bereits identifiziert. Wenn ich mal davon ausgehe, dass der weibliche Anteil dieses Cocktails ….« Georgina musste selbst über dieses Wortspiel grinsen, »…. von Dir stammt, dann bedeutet das, dass Du von einem der meistgesuchten Topterroristen Amerikas gefickt worden bist – und zwar ungeschützt!«
»Er hat mich vergewaltigt!«, behauptete das Miststück, das sich blitzschnell mit dieser äußerst überraschenden Situation zurechtfand. »Ich habe den Slip als Beweismaterial in einen Plastikbeutel gesteckt. So machen Sie das doch bei der Polizei, oder?«
Georgina lächelte müde. Sie glaubte diesem Dreckstück kein Wort. »Dann hättest Du mir den Beutel ja gestern gleich beim Verhör übergeben können. Stattdessen hat Dein schleimiger Rechtsverdreher etwas vom Freedom Of Information Act gefaselt. Du bist dem meistgesuchten Verbrecher Amerikas begegnet – unter welchen Umständen auch immer – und hast diese Information mindestens vierundzwanzig Stunden vor den Ermittlungsbehörden verheimlicht. So etwas nennt man Fluchthilfe und in diesem Fall Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Dafür fährst Du ein!«
»Schätzchen, wenn hier jemand einfährt, dann bist Du das!« Die Schmeißfliege war einfach zu abgebrüht, um sich von einer ihrer Meinung nach unterbelichteten FBI-Beamtin einschüchtern zu lassen. »Was Du hier machst ist Hausfriedensbruch.«
»Wieso? Ich bin doch tot! Das hast Du selbst im Fernsehen berichtet. Und wenn ich mir Deine Tagebücher so ansehe ….« Georgina deutete auf den Stapel auf dem Schreibtisch, »…. dann scheinst Du Dich ja am Unglück anderer Leute so richtig aufzugeilen – Schätzchen!«
»Mir reicht es! Ich rufe jetzt meinen Anwalt an.« Mit diesen Worten versuchte Paula Georgina zur Seite zu drängen, um an das Telefon zu gelangen.
»Nicht so hastig! Ob und wann Du wen anrufst, das bestimme ich!«
Dabei drehte Georgina den Arm ihrer Kontrahentin nach hinten und versuchte sie im Polizeigriff zu fixieren. Dabei hatte sie jedoch nicht mit der Gegenwehr des blonden Miststücks gerechnet. Paula gelang es, sich umzudrehen und mit der freien Hand versetzte sie Georgina einen Faustschlag gegen die Schläfe. Diese verlor das Gleichgewicht, konnte aber im Fallen Paulas Oberkörper umgreifen, sodass beide Frauen zu Boden fielen. Die Scherben der zerbrochenen Fensterscheibe knirschten unter den beiden Körpern.
Mit einem kräftigen Ruck gelang es Georgina, dass Paula unter ihr auf dem Rücken zu liegen kam und sie mit den Knien ihre Oberarme fixieren konnte. Ihre rechte Hand presste sie auf Paulas Mund, während sie mit Daumen und Zeigefinger der Linken die Nasenflügel zusammendrückte. Die Schmeißfliege strampelte mit den Beinen, krallte ihre Finger in Georginas Oberschenkel und spürte, wir ihr schwarz vor Augen wurde.
***
Den Rest des Arbeitstages hatte Stephen Morris damit verbracht, näheres über Pandora herauszufinden. Ohne Erfolg. Inständig hatte er gehofft, dass das Telefon klingeln oder eine Skype-Nachricht oder eine e-Mail von Georgina eingehen würde.
»Stephen?« Das war Inspector Greg Waldman, der kurz vor Dienstschluss vor Stephens halbgeöffneter Bürotür stand. »Ich müsste kurz mit Ihnen sprechen.«
»Kommen Sie rein, Greg!« Da Stephen wusste, dass Waldman der leitender Ermittler des Teams war, das den Mord an Georgina und ihrem Freund Mike untersuchte, kam dieser Besuch nicht überraschend. Stephen hatte großen Respekt vor dem erfahrenen Ermittler, zumal Waldman schon einige Dienstjahre mehr auf dem Buckel hatte als er.
»Stephen, ich weiß, dass das jetzt ungünstig ist, aber das Letzte, was wir uns leisten können, wären falsche Sentimentalitäten.«
»Das sehe ich genauso, Greg. Haben Sie schon den oder die Mörder?«
»Schön wär's«, seufzte Waldman, während er sich ohne zu fragen auf den freien Stuhl gegenüber von Stephens Arbeitsplatz setzte. »Um ehrlich zu sein, Stephen, wir kommen in der Sache nicht so richtig weiter. Ich habe den Eindruck, jeder behindert unsere Ermittlungen. Ich warte immer noch auf die Obduktionsberichte.«
»Joan ist wie immer ziemlich überarbeitet. Ich bin sicher, sie tut ihr Bestes«, beschwichtigte Stephen. »Es ist sicher auch für sie nicht einfach, eine Kollegin auf dem Seziertisch zu haben.«
»Die am Tatort sichergestellten Projektile und Hülsen wurden von zwei verschiedenen Waffen abgefeuert. Keine der beiden ist in unserer Datenbank. Haben Sie eine Idee, was das Motiv der Täter sein könnte?«
Wortlos erhob sich Stephen, ging um den Schreibtisch herum und schloss die Tür seines Büros, bevor er antwortete: »Greg, Sie sind nicht der Einzige, dessen Ermittlungen behindert werden. Kurz vor ihrem Tod machte Georgina ähnliche Andeutungen.«
»Andeutungen?«
»Wie Sie wissen, waren Georgina und ich die einzigen FBI-Beamten aus San Francisco, die beim Einsatz am Hearst Castle dabei waren. Der Rest lief über das FBI in Los Angeles in Zusammenarbeit mit der Homeland Security.«
»Die üblichen Rangeleien um Zuständigkeiten?«
»Mehr als das«, versicherte Stephen, der sich wieder hingesetzt hatte. »In der mobilen Einsatzzentrale hatte Director Crain das Sagen. Er hat bestimmt, was Georgina zu recherchieren hatte. Dann wurde sie zufällig Ohrenzeugin eines Vorfalls, bei der Gina Hines, die zum Zeitpunkt der Geiselnahme am Hearst Castle für die Sicherheit zuständig war, im Gewahrsam der Homeland Security unter ungeklärten Umständen verstarb.«
Waldman blickte interessiert auf. »Wollen Sie damit behaupten, Georgina ist als unliebsame Zeugin aus dem Weg geräumt worden.«
»Ich behaupte gar nichts. Aber es ist ein Ermittlungsansatz, dem ich an Ihrer Stelle nachgehen würde.«
In diesem Moment baute Skype ein Fenster im Vordergrund von Stephens Bildschirm auf. Zum Glück hatte er den Ton abgeschaltet, sodass Greg Waldman davon nichts mitbekam. Stephen wunderte sich etwas, denn er Anruf kam von Paula Webber, der nervigen Reporterin, die sie gestern verhört hatten. So ganz nebenbei nahm er den Anruf mit einem Mausklick entgegen, während er seinem Gegenüber zuhörte.
»Stephen, hat Georgina Ihnen gegenüber etwas von privaten Problemen erwähnt? Sie soll Streit mit ihrem Freund Mike gehabt haben.«
»Nein. Genaugenommen haben wir so gut wie nie über privates gesprochen.«
In diesem Moment wurde die Verbindung zur Webcam des Skype-Anrufers hergestellt und was Morris da erblickte, löste in ihm eine große Erleichterung aus, die er sich nicht anmerken lassen durfte. Vor der Webcam saß nicht die blonde Reporterin sondern Georgina! Erst jetzt aktivierte er seine Webcam. Stephen gestikulierte, während er weitersprach, um ihr zu signalisieren, dass noch jemand im Raum war. Georgina konnte ihn nicht nur sehen, sie konnte jetzt auch hören, was gesprochen wurde.
»Am Morgen nach der Tat war ich das erste Mal in ihrer Wohnung. Mike lag auf dem Bett, Georgina auf dem Teppich davor. Beide waren unbekleidet. Also wenn Sie mich fragen, haben die beiden im Augenblick ihres Todes wohl kaum gestritten.«
»Ich glaube auch nicht so recht an ein Motiv im privaten Umfeld der beiden«, entgegnete Waldman, »da waren Profis am Werk. Sie haben mit einer großkalibrigen Waffe die Wohnungstür zerschossen, ein Blutbad angerichtet und waren wieder weg, bevor einer der Mitbewohner auch nur ansatzweise reagieren konnte. Die Spurensicherung hat noch nicht alles ausgewertet. Aber bisher haben wir weder einen Fingerabdruck, noch einen Haarfollikel, geschweige denn eine weggeworfene Zigarettenkippe. Nichts! Auch die Aufzeichnungen der Überwachungskameras aus der Umgebung des Tatorts scheinen alle gelöscht zu sein. Es ist zum Verzweifeln!«
»Greg, Sie wissen, wie gerne ich Ihnen weiterhelfen würde. Mir ist bewusst, dass ich zu sehr involviert bin, um mich an den Ermittlungen zu beteiligen. Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich benachrichtigen, sobald Sie etwas Neues herausgefunden haben.«
»Das werde ich, Stephen, das werde ich!«, entgegnete Waldman, während er sich erhob und sich anschickte, Stephens Büro wieder zu verlassen.
»Greg, Sie wissen, wie gerne ich Ihnen weiterhelfen würde«, wiederholte Georgina mit leicht ironischem Unterton Stephens Satz von gerade eben, nachdem er ihr ein Zeichen gegeben hatte, dass er wieder allein im Raum war und sie ungestört reden konnten.
»Georgina, Du hast mir heute Morgen einen schönen Schrecken eingejagt. Wie geht es Dir?«
»Wie soll es mir schon gehen! Mike ist tot, seine neue Freundin wurde offensichtlich mit mir verwechselt und meine ehemalige Wohnung gleicht einem Schlachtfeld. Offiziell bin ich also tot?«
»Bis morgen auf jeden Fall.«
»Bis morgen? Wer weiß noch davon?«
»Nur Joan und ich. Sie war so geistesgegenwärtig, die anderen Spurenermittler aus dem Zimmer zu schicken, bevor sie mir Deine Leiche zeigte. Aber in spätestens vierundzwanzig Stunden muss sie den Obduktionsbericht abliefern. Greg Waldman, der gerade bei mir im Zimmer war, wird schon langsam ungeduldig. Aber wer ist die Tote, wenn Du es nicht bist?«
»Olivia heißt sie. Ihren Nachnamen kenne ich nicht. Mike hat sie während unserem Einsatz am Hearst Castle in einem Restaurant aufgerissen.« Georgina schilderte dies recht sachlich und emotionslos.
»Sie sieht – oder besser gesagt sah – Dir recht ähnlich. Bist Du deshalb so sicher, dass der Anschlag Dir galt?«
»Ich bin mir nicht nur sicher, Stephen, ich weiß es. Ich war dabei.«
»Du warst dabei?«
»Ich hatte es im Büro nicht mehr ausgehalten. Da bin ich morgens zu Mike gefahren. Wollte mit ihm reden. Als ich beim Haus ankam, sah ich eine dunkel gekleidete Gestalt mit zwei Waffen in den Händen aus dem Eingang rennen und mit einem schwarzen Mustang davonfahren. Das Kennzeichen war gestohlen, das habe ich schon überprüft.«
»Warst Du oben in der Wohnung?«
»Nein. Ich konnte mir vorstellen, was passiert war. Auf keinen Fall wollte ich am Tatort gesehen werden.«
»Georgina«, unterbrach Stephen, den eine Ahnung beschlich, »hast Du die Aufzeichnungen aller Überwachungskameras in der Umgebung gelöscht?«
»Nur die, die ihre Bilder an einen Server senden.« Georgina setzte ihr typisches Grinsen auf, das immer dann ihr Gesicht zierte, wenn sie etwas Illegales in ihrer digitalen Welt vollbracht hatte. »Ich habe die Aufnahmen aber nicht gelöscht, sondern so gespeichert, dass nur ich dran komme. Aber die meisten Ladenbesitzer zeichnen immer noch auf einem Festplattenrekorder auf, der in ihrem Geschäft steht. Da komme ich nicht ran. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Waldman eine Aufnahme findet, auf der ich oder mein Wagen zu sehen sind.«
»Du hast also im Untergrund weiter ermittelt?«
»Stephen, Du weißt doch. Gib mir einen Rechner, der ans Internet angeschlossen ist, und ich habe Zugriff auf alle Datenbanken des FBI, auch wenn ich in Tahiti am Strand oder auf einem Berggipfel in Alaska sitze.«
»Und wo bist Du jetzt gerade? Du benutzt den Skype-Account dieser Paula Webber!«
»Ja, sie war so freundlich, mir bei Ihr Unterschlupf zu gewähren.«
Georgina schwenkte die Webcam etwas zur Seite. Stephen musste genau hinschauen, um zu erkennen, dass es Paula Webber war, die mit da mit Klebeband an einem Stuhl fixiert war. Und das Beste daran war, dass auch ihr verlogenes Mundwerk zugeklebt war.
»Um Himmelswillen, Georgina, wenn das ihr Anwalt sieht!«, rief Stephen mit gespieltem Entsetzen.
»Dann werde ich diesem Anwalt mitteilen, was ich in ihrer Reisetasche gefunden habe.«
»Meinst Du etwa den Slip, den wir in diesem Plastikbeutel gefunden haben? Sag bloß, Du hast schon die DNA Analyse!«
»Yep«, antwortete Georgina triumphierend, »und rate mal, was die Analyse des Flecks ergab!«
»Etwas Unappetitliches?«
»Eine Mixtur aus Sperma und Scheidensekret, was ja zu erwarten war. Aber jetzt kommt's: der Lendensaft stammt von niemand anderem als Daniel Slatkin alias Abdul Sahir!«
Stephen konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal dermaßen sprachlos war. Alles hatte er diesem falschen Dreckstück zugetraut, aber nicht, dass sie mit einem Topterroristen vögelt.
»Na das nenne ich eine hautnahe Recherche!«, lästerte er.
»Sie behauptet, er hätte sie vergewaltigt.«
»Und wo soll das gewesen sein?«
»Das werde ich noch aus ihr herausbekommen. Sehr aufschlussreich ist übrigens auch ein Speicherchip, den sie in ihrer Tasche versteckt hatte und den wir bei der Durchsuchung gestern übersehen haben. Als sie hier ankam, hatte sie nichts Eiligeres zu tun, als die Speicherkarte aus ihrem Versteck zu ziehen. Ich schicke Dir eines der Fotos per eMail.«
Als Stephen wenig später den Anhang öffnete, kam die nächste Überraschung. Das Foto zeigte einen Wagen, in dem zwei Männer verbrannten. Auf Georginas Anweisung hin zoomte er auf einen Gegenstand, der auf dem Rücksitz lag, wo sich das Feuer noch nicht ausgebreitet hatte. Auf den ersten Blick erkannte Stephen das Notebook mit glitzernden Aufklebern der Initialen 'LH'.
»Ja, das ist es«, bestätigte Stephen. »Das ist das Notebook von Linda Howard, dessen Existenz diese Schlampe gestern hartnäckig geleugnet hat. Wer sind die beiden Männer, die vorn im Wagen saßen? Und wo wurden diese Aufnahmen gemacht?«
»Auch das werde ich herausbekommen«, versprach Georgina. »Die Fotos wurden gestern am frühen Nachmittag aufgenommen – vorausgesetzt, dass Datum und Uhrzeit in den Systemeinstellungen der Kamera nicht verändert wurden.«
»Brauchst Du Unterstützung?«
»Nein, vielen Dank Stephen. Im Moment nicht. Mit diesem Früchtchen werde ich alleine fertig. Aber gib mir Bescheid, sobald Joan ihren Obduktionsbericht herausgibt und der Schwindel auffliegt.«
»Das werde ich, Georgina. Da ist noch etwas.«
»Ja?«
»Ich war heute bei Linda Howard im Krankenhaus. Sie ist aus dem Koma erwacht, wird aber wohl den Rest ihres Lebens Probleme beim Sprechen haben. Nur eine Information konnte ich aus ihr herausbekommen: die Terroristen sprachen von 'Pandora'. Es muss der Name einer Geheimoperation sein. Hast Du davon schon einmal etwas gehört?«
»Nein, aber ich werde mich darum kümmern«, versprach Georgina, bevor sie sich von Stephen verabschiedete und die Skype-Verbindung beendete.
»So, und nun zu Dir, Schätzchen«, sagte sie an das Miststück gewandt.
***
Das erste Klingeln des Telefons wurde von einem Schmerzensschrei übertönt. Beim zweiten Ton rüttelte Austin Harvey an den Ketten.
»Mach mich los, schnell!«
Barbara Watts legte die Peitsche zur Seite, mit der sie gerade Harveys Rücken traktiert hatte. Sie trug einen hautengen, schwarzen Lederdress und hatte gar nicht vor, dem Befehl ihres Vorgesetzten nachzukommen. Stattdessen hielt sie ihm das Telefon ans Ohr, während er an dem an der Wand verschraubten Holzkreuz fixiert blieb.
»Ich habe in den Nachrichten gesehen, dass Sie das Problem mit der Datenanalystin aus San Francisco gelöst haben.« Die Stimme von ER kam wie üblich digital verzerrt über den Lautsprecher, nachdem Harvey sich gemeldet hatte.
»Ja«, bestätigte dieser, wobei er sich bemühte, ungeachtet seiner momentanen Situation in normalem Tonfall zu sprechen. »Dieses Problem haben wir ein für alle mal aus der Welt geschafft.«
»Ja, nur wäre es mir lieber gewesen, wenn die Sache nicht so viel Aufsehen erregt hätte. 'Verschwinden lassen' habe ich gesagt. Von einer Hinrichtung war nie die Rede! Jetzt hat sich die Presse auf den Fall gestürzt und gleich die Verbindung zu Five-O-Seven hergestellt.«
»Das war auf die Schnelle nicht zu vermeiden«, rechtfertigte sich Harvey, während er Barbara ein Zeichen gab, endlich die Ketten zu lösen. »Wir haben Georgina Mays Datenzugriffe protokolliert. Diese Frau hat nicht aufgehört, immer tiefer im Dreck zu wühlen. Es wäre nur noch eine Frage von Tagen oder Stunden gewesen, bis sie auf 'Pandora' gestoßen wäre.«
»Austin, in Ihrem Interesse will ich hoffen, dass das so bleibt. Stellen Sie sicher, dass ihrer Behörde kein weiterer Fehler dieser Art unterläuft.«
Mit den Worten »da können Sie sich voll und ganz auf mich verlassen« beendete Harvey das Gespräch.
»Was hat er gesagt?«, fragte Barbara, die nur einige Wortfetzen aufgeschnappt hatte.
»ER war mit der Arbeit unser Kontaktperson in San Francisco sehr zufrieden.«
»Das hörte sich aber anders an«, widersprach Barbara, »Du belügst mich doch nicht, oder?« Sie näherte sich ihm von hinten und verpasste ihm einen schallenden Klaps auf den blanken Hintern.
»Die schwarze Datenanalystin ist tot. Das ist alles was zählt«, wich Harvey aus. »Sie hat mitbekommen, dass Du Gina Hines eine Injektion verpasst hast. Vergiss das nicht!«
»Ginas Leiche ist mittlerweile eingeäschert worden«, entgegnete Barbara selbstzufrieden. »Mir weist keiner etwas nach, dafür habe ich gesorgt. Wenn ich falle, fällst Du mit.«
»Es läuft alles wie geplant«, beruhigte Austin, »wir können jetzt weitermachen.«
Mit einem diabolischen Lächeln griff Barbara zur Reitgerte.
***
Georgina hatte den Stuhl mit dem angebundenen Miststück so gekippt, dass die Lehne auf dem Boden lag. Die Querstreben drückten schmerzhaft gegen ihre Wirbelsäule. Aber das war im Moment ihr geringstes Problem.
»Du berichtest doch immer so authentisch wie möglich, oder?«, fragte Georgina ironisch, nachdem sie mit einem Ruck das Klebeband von Paulas verlogenem Mundwerk gerissen hatte. »Bist Du schon einmal ertrunken?«
Obwohl sie antworten konnte, schüttelte Paula nur mit dem Kopf.
»Okay, dann werde ich Dir mal eine kleine Kostprobe verpassen, bevor ich Dir die erste Frage stelle.«
Mit diesen Worten drückte Georgina ihr einen triefnassen Lappen ins Gesicht. Die Schmeißfliege versuchte sich zu verrenken, mit den Armen um sich zu schlagen und mit den Beinen zu zappeln. Die Klebebänder ließen nur ein nervöses Zittern der Füße und ein Verkrampfen der Finger zu. Als Georgina nach einer gefühlten Ewigkeit endlich das Tuch entfernte, konnte Paula nicht genug Luft auf einmal einatmen. Sie keuchte wie nach einem Asthmaanfall und ihre Augen blickten weit aufgerissen gegen die Zimmerdecke. Als Georgina ihr daraufhin den kompletten Inhalt eines Wasserglases in den offenen Mund kippte, hatte sie Mühe, ihren Kopf wenigstens ein bisschen zur Seite zu drehen, um die Flüssigkeit leichter wieder auszuhusten. Dennoch gelangte ein Teil des Wassers in ihre Luftröhre und erzeugte ein schmerzhaftes Stechen auf ihren Bronchien. Erst als Georgina ihr eine schallende Ohrfeige verpasste, spritze eine Fontäne aus Paulas Maul.
»So, bist Du jetzt bereit für die erste Frage?«
Da die Antwort lediglich aus weiteren Hustenattacken bestand, fuhr Georgina fort: »Wo bist Du Abdul Sahir begegnet? Wo hat er Dich gefickt?«
Als die Antwort auf sich warten ließ, füllte Georgina erneut das Glas aus einer bereitgestellten Flasche, während sie einen Countdown von zehn herunterzählte. Als sie bei sieben angekommen war, klingelte Paulas Festnetztelefon. Bei vier schaltete sich der Anrufbeantworter ein.
»Hi Paula, hier ist Jon.«
Georgina unterbrach den Countdown. Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang bedrückt.
»Paula, ich weiß nicht, wie ich es Dir sagen soll. Die Polizei war gerade hier. Alec und Terry sind tot. Sie sind in ihrem Wagen verbrannt. Er wurde in einem abgelegenen Hügelland östlich von San Miguel gefunden. Melde Dich bitte, sobald Du das abhörst. Die Polizei hat auch Fragen an Dich.«
»Sieh an«, sagte Georgina triumphierend, als die Ansage beendet war, »ich gehe mal davon aus, dass Alec und Terry die beiden Männer auf den Fotos auf der Speicherkarte sind, die Du so gut versteckt hast.«
Der bloße Anblick des Wasserglases über ihrem Kopf entlockte dem Miststück ein Nicken.
»Ich höre nichts!«
»Ja«, hüstelte Paula.
»Wer waren die beiden?«
»Mein Kameramann …. und mein … Tontechniker.«
»Hat Sahir sie umgebracht?«
»Ja.«
»Bevor oder nachdem er Dich gevögelt hat?«
»Be … vor.«
»Also nochmal zum Mitschreiben«, resümierte Georgina, »Sahir killt Deine beiden Kollegen, verschont aber Dich. Dann zündet er das Auto mit den Leichen an und lässt Dich Fotos machen. Und anschließend besteigt er Dich.«
»Vergewaltigt … er hat mich … vergewaltigt.«
»Wie dem auch sei. Was geschah danach?«
»Das … das weiß ich nicht. Ich … habe das Bewusstsein verloren. Dann bin ich aufgewacht und zurück … zu meinem Motel gegangen. Dort habe ich geduscht.«
»Im selben Motel, in dem Du die vorige Nacht verbracht hattest?«
»Ja.«
»Du übernachtest in einem kleinen Nest namens San Miguel und begegnest so ganz zufällig am nächsten Morgen dem meistgesuchten Topterroristen des Landes?«
Damit hatte sie dem Miststück das Maul gestopft. Es schwieg. Ohne erneut den Countdown zu starten, presste Georgina ihr erneut den Lappen auf Mund und Nase, bevor sie auch nur ansatzweise Luft schnappen konnte. Anschließend goss sie weiteres Wasser darauf. Diesmal krallte sich Paula so heftig in die hölzerne Stuhllehne, dass zwei ihrer Fingernägel abbrachen. Das Wasser brannte in ihren Augen. Wann hörte das endlich auf? Gerade als sie das Gefühl hatte, durch das nasse Tuch etwas Luft einsaugen zu können, ergoss sich der nächste Schwall Wasser über ihr Gesicht. Verzweifelt kämpfte sie gegen den Reflex an einzuatmen.
Obwohl sie auf dem Boden lag, wurde ihr schwindelig. Sie spürte, wie sich ihre Augäpfel verdrehten. Dann hob sich gegen ihren Willen ihr Brustkorb und sie spürte, wie ein Gemisch aus Wasser, Schleim und Luftblasen unerbittlich über die Luftröhre angesogen wurde und im oberen Bereich der Lungen einen stechenden Schmerz verursachte.
»Und? Weiß Du jetzt, wie es ist, wenn man ertrinkt?«, fragte Georgina, nachdem sie den nassen Lappen von Paulas Gesicht entfernt hatte. »Wieso San Miguel? Wie hast Du Kontakt zu Sahir aufgenommen?«
»Er hat … er hat sich über einen Chat bei mir gemeldet.« Nach dem Waterboarding klang Paulas Stimme noch heiserer.
»Einen Chat?«
»Ich hatte … das Notebook von … Linda Howard.«
»Dem Mädchen, das auf Hearst Castle als Geisel genommen worden war?«
Paula nickte.
»Unter welchem Namen hat Sahir gechattet?«
»shyboy … shyboy123.«
Jetzt passte für Georgina alles zusammen. Diese dumme, sensationsgeile Schnepfe hatte mit shyboy123 gechattet, ohne zu wissen, um wen es sich dabei handelte – und war wie ein blindes Huhn in die Falle gelaufen. Dem Kameramann und dem Tontechniker hatte das das Leben gekostet.
»Wen glaubtest Du in San Miguel zu treffen?«
»Lindas Freund … ich weiß nicht … ich wollte in ihrem Umfeld recherchieren.« So langsam kam Paulas Stimme wieder.
»Du wolltest in ihrem Umfeld recherchieren! Du wolltest im Dreck wühlen, du elendes Stück Scheiße!« Georgina verpasste ihr eine Ohrfeige. »Du hast gedacht, die Kleine hatte was mit ihrem Chatpartner! Und daraus wolltest Du eine Story machen, so wie Du die Homosexualität ihres Stiefvaters an die Öffentlichkeit gezerrt hast!«
Das Miststück sagte gar nichts mehr. War das Tränenflüssigkeit oder einfach nur Wasser, was da aus ihren Augenwinkeln lief?
»Wer war in Sahirs Begleitung?«, kam als nächste Frage. Georgina wollte ihr keine Verschnaufpause gönnen.
»Niemand.«
»Pass gut auf!«, drohte Georgina, »bis jetzt habe ich Dich nur mit Wasser gefoltert. Das hinterlässt keine Spuren. Obwohl ich mich schon frage, wieso man ein Rattengesicht wie Dich überhaupt vor die Kamera lässt. Aber mit vernarbten Schnittverletzungen kannst Du Deine Karriere vergessen. Also antworte: wer war in Sahirs Begleitung?«
»Niemand. Er war alleine«, beharrte Paula ungeachtet ihrer Situation.
»Falsche Antwort«, sagte Georgina tonlos und griff nach dem goldenen Brieföffner, den sie auf dem Schreibtisch liegen sah, und der ihr den Gang in die Küche ersparte. Sie setzte die Spitze am Augenwinkel an und zog das Augenlid nach unten. »Ich würde jetzt den Kopf stillhalten. Wenn ich jetzt ausrutsche, recherchierst Du in Zukunft mit einem Auge. Also nochmal: wer war in Begleitung von Abdul Sahir?«
»Es war … es war eine der Geiseln. Er hieß Martin Frazer.«
»Na also, warum nicht gleich so«, triumphierte Georgina angesichts dessen, was sie sowieso bereits wusste.
Sie legte den Brieföffner zur Seite. So verlogen diese Paula auch war, unter Androhung von Gewalt würde sie mit der Wahrheit herausrücken. Sie hatte noch so viele weitere Fragen auf Lager, aber nun klingelte erneut das Telefon und wieder schaltete sich der Anrufbeantworter ein.
»Ms. Webber, hier spricht Detective Andrews vom Santa Barbara Police Department.«
Jetzt reagierte Georgina blitzschnell. Sie drückte die grüne Taste, um das Gespräch anzunehmen und hielt mit der einen Hand das Telefon an Paulas Ohr, während sie den Zeigefinger der anderen Hand mahnend vor ihren Mund hielt. Sie ließ es darauf ankommen. Der Lautsprecher war eingeschaltet.
»Ja … hier ist Paula Webber … ich bin am Apparat.«
»Ms. Webber ist alles in Ordnung?« Dem Detective schien Paulas heiserer, abgehackter Tonfall aufzufallen.
Georgina nahm die Speicherkarte mit den Fotos der brennenden Leichen vom Schreibtisch und hielt sie vor Paulas Gesicht. Die Botschaft war eindeutig.
»Ja, ich war gerade in der Küche.«
»Ms. Webber, ich muss Ihnen die traurige Mitteilung machen, dass Ihre Kollegen Terry Denton und Alec Braiden unter nicht ganz geklärten Umständen ums Leben gekommen sind.«
»Ja, mein Boss hat mich deswegen bereits angerufen. Das ist ja furchtbar. Er hat gesagt, sie seien in ihrem Wagen verbrannt. Stimmt das?« Selbst in dieser angespannten Situation verstand Paula es meisterhaft, mit ihrer Stimme eine niedergeschlagene Betroffenheit zum Ausdruck zu bringen.
»Ms. Webber, wir sollten das nicht am Telefon besprechen. Sind Sie morgen im Sender?«
Georgina nickte und Paula bestätigte umgehend: »Ja, … natürlich.«
»Gut, dann komme ich morgen Vormittag vorbei. Ich habe nur ein paar Fragen.«
»Gut gemacht!«, meinte Georgina, nachdem Paula das Gespräch beendet hatte.
Jetzt konnte sie sich absolut sicher sein, dieses kleine Luder in der Hand zu haben. Zur Belohnung gönnte sie ihr eine kleine Pause, die sie dazu nutzte, den Inhalt der Reisetasche noch einmal genauer zu untersuchen. Dabei stieß sie auf ein zweites Mobiltelefon. Dies erregte allein dadurch ihre Aufmerksamkeit, dass es praktisch jungfräulich war. Weder im Adressbuch, noch in den Listen ausgehender und eingehender Anrufe war etwas eingetragen.
»Was hat es mit diesem Handy auf sich?«
»Das ist mein Ersatzgerät, wenn das andere mal verloren geht oder der Akku leer ist.«
»Und wie willst Du damit telefonieren? Hast Du alle Nummern auswendig im Kopf?«
»Ich habe es ganz neu gekauft«, log das Miststück. »Ich muss es noch einrichten.«
»Jetzt pass mal gut auf, zu was ich fähig bin!«, drohte Georgina und richtete den Stuhl wieder auf. Was kam jetzt?
Aus der sitzenden Position konnte Paula nun beobachten, wie die FBI-Agentin sich an ihrem Computer zu schaffen machte. Sie rief eine ihr unbekannte Webseite auf, gab einen Code ein und war offensichtlich auf einem FBI-Server eingeloggt. Unter weniger bedrohlichen Umständen, hätte Paula das absolut faszinierend gefunden. Jetzt bekam sie mit, wie Georgina das Mobiltelefon via USB mit dem Computer verband.
Gleich darauf erschienen einige Zeilen auf dem Bildschirm und Georgina grinste, als sie begann ihre neuen Erkenntnisse mit Paula zu teilen.
»Dieses Mobiltelefon ist bisher genau zweimal eingeschaltet worden. Und zwar gestern ganz kurz um 14 Uhr 23 östlich von San Miguel und dann heute Mittag Punkt zwölf in San Francisco, um dann exakt fünf Minuten später wieder ausgeschaltet zu werden.«
»Ich habe es ausprobiert«, beteuerte das Miststück.
Keine Sekunde später versetzte Georgina dem Stuhl einen Schubs, sodass Paula unsanft mit dem Hinterkopf auf dem Boden aufschlug. Georgina griff nach einer der Glasscherben, die immer noch auf dem Boden verstreut waren, kniete sich auf Paulas Brustkorb und hielt ihr die Scherbe an die Halsschlagader.
»Ich habe es satt!«, schrie sie, »ich habe Deine Lügen so satt! Du lügst, wenn Du den Mund aufmachst und wenn Du dabei vor der Kamera stehst, bekommst Du auch noch Geld dafür! Deine beiden Kollegen wurden ermordet, Du wurdest angeblich vergewaltigt und dann hast Du nichts Besseres zu tun, als Dein neues Handy auszuprobieren?«
Das blanke Entsetzen stand Paula förmlich ins Gesicht geschrieben. Diese Wahnsinnige war im Begriff, auszurasten und ihr mit der Glasscherbe die Kehle aufzuschlitzen.
»Sahir hat es Dir gegeben, stimmt's?«, fuhr Georgina fort. »Du sollst es jeden Tag um zwölf für fünf Minuten eingeschaltet lassen.«
Paula nickte. Leugnen war zwecklos. Ihr graute davor, dass diese Folter noch ewig so weitergehen würde.
»Plant Sahir einen weiteren Anschlag?«
Paula schwieg.
»Los antworte, Du verfluchtes Stück Scheiße!« Jetzt packte Georgina das Miststück an den Haaren und schlug den Kopf gegen den Untergrund. »Strapaziere nicht meine Geduld! Ich habe heute schon genug mitgemacht. Also rede: was plant Sahir?«
»Ich weiß es doch nicht!«, jammerte Paula. »Daniel hat mir nichts gesagt. Er hat mir nur das Handy gegeben, dass ich jeden Mittag anschalten soll.«
»Wie nennt er sich? Abdul oder Daniel?«
»Daniel. Er hat gesagt, ich soll ihn Daniel nennen. Er ist gar kein Islamist. Er tut nur so.«
»Er tut nur so? Hat er Dir das gesagt?« Jetzt wurde Georgina hellhörig. Das würde den Fall in einem völlig anderen Licht erscheinen lassen.
»Er hat alle damit getäuscht.« Jetzt war das Eis endgültig gebrochen. Aus Paulas redseligem Mundwerk sprudelten die Worte nur so heraus. »Nicht einmal seine Helfer im Hearst Castle haben das gewusst. Sie dachten, sie sterben für Allah. Frazer hat den Anschlag vorbereitet, indem er die Waffen in das Castle geschmuggelt hatte. Daniel plant einen noch größeren Anschlag und ich soll mich mit meiner Kamera bereit halten.«
Die letzten Worte gingen in einem Weinkrampf über, der nicht gespielt war. Innerlich triumphierte Georgina. Sie lag mit ihrer Vermutung also richtig, dass die Bedrohung mit der Erstürmung von Hearst Castle nicht gebannt worden war.
»Paula!« Ganz behutsam sprach sie ihr Opfer jetzt zum ersten Mal mit Namen an. »Haben Daniel Slatkin oder Martin Frazer den Begriff 'Pandora' erwähnt? Denk genau nach!«
»Nein, ganz bestimmt nicht!«
Georgina glaubte ihr. Das blonde Dummchen zitterte am ganzen Leib. Jetzt war es an der Zeit, die Drohkulisse noch weiter zu verdüstern und einen Zahn zuzulegen.
»Du machst mit zwei Terroristen gemeinsame Sache, auch wenn Du dabei nur die Kamera hältst. So etwas nennt man Verschwörung und Hochverrat. Darauf steht die Todesstrafe. Verhandelt werden solche Delikte übrigens vor einem Militärgericht. Da kann Dein Anwalt Edwards mit dem Freedom of Information Act so lange herumwedeln wie er will.«
Georgina wusste, dass alles, was sie da sagte, nicht den Tatsachen entsprach, aber es verfehlte die Wirkung nicht. Der Dreckschleuder dämmerte es so langsam, dass sie sich da in etwas verrannt hatte, aus dem es keinen Ausweg mehr gab.
»Tja, Deine Tage sind gezählt«, fuhr Georgina unbeirrt fort. »Im Todestrakt alterst Du rapide. Nach zehn Jahren bist Du alt und schrumpelig und wenn alle rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft und alle Berufungsverhandlungen abgeschlossen sind, dann wirst Du auf einer Liege festgeschnallt. Wenn Du Glück hast, haben die bis dahin einen neuen Giftcocktail gebraut, der besser wirkt, als das, was die momentan verwenden. Kennst Du den Fall Dean Tabashnik? Nein! Der wurde vor zwei Jahren hingerichtet. Eine dreiviertel Stunde lang hat er sich die Seele aus dem Leib gekotzt, alles vollgepisst und sich in die Hose geschissen, ehe es vorbei war.«
Spätestens jetzt war Paula nur noch ein nervliches Wrack. Sie heulte Rotz und Wasser. Als Georgina an ihr herunterblickte, musste sie hämisch grinsen, als sie sah, dass sich das Miststück eingenässt hatte. Vor drei Monaten hatte sie einen FBI-Lehrgang besucht, bei dem es um Folter und unerlaubte Verhörmethoden ging. Eigentliches Ziel der Fortbildung war es gewesen, die angehenden Special Agents auf das hinzuweisen, was strikt verboten war, und auf das vorzubereiten, was passieren könnte, wenn sie in die Hand von Kriminellen fielen. Georgina verbuchte das, was hier gerade passierte, als praktische Übung.
Aus einem anderen Lehrgang mit dem vielsagenden Titel 'Psychologie des Verhörs – Möglichkeiten, juristische Grenzen und Risiken' hatte sie noch in Erinnerung, dass es nun darauf ankam, der Verdächtigen einen Ausweg aufzuzeigen.
»Dein weiteres Schicksal wird also sehr stark davon abhängen, ob Du mit uns kooperierst oder nicht.« Georgina bemerkte einen Anflug von Hoffnung in Paulas Gesichtsausdruck. »Du weißt, was ein verdeckter Ermittler ist?«
Das Nicken war kaum wahrzunehmen.
»Du arbeitest mit dem FBI zusammen und wir machen einen Deal mit der Staatsanwaltschaft. In zehn bis zwanzig Jahren bist Du wieder draußen.«
Georgina konnte dem Dummchen ansehen, wie es zu rechnen begann.
»Wenn ich aussage, dass Du freiwillig zu mir gekommen bist, um eine Aussage zu machen, kannst Du sogar völlig ungeschoren davonkommen. Aber Du musst Dich anstrengen, damit ich mich zu so einer Falschaussage hinreißen lasse.«
»Was soll ich … tun?«, fragte das weinerliche Miststück.
»Erstmal gehst Du morgen früh ganz normal zur Arbeit. Die Rötungen auf den Backen sind bis dahin verschwunden. War vielleicht doch ganz gut, dass ich Dir nicht das Gesicht zerschnitten habe. Das Santa Barbara Police Department bleibt außen vor. Also kein Wort zu diesem Detective Andrews, der gerade angerufen hat. Er wird Dich morgen im Sender aufsuchen.«
Paula nickte.
»Um zwölf schaltest Du das Handy ein. Ich werde es abhören und mitbekommen, falls Du telefonierst oder eine Nachricht empfängst. Ein falsches Wort oder eine Warnung an Slatkin oder Frazer und Du landest für den Rest Deines beschissenen Lebens im Bau. Und keine Berichterstattung im Fernsehen! Du kommunizierst in dieser Sache nur mit zwei Personen, und zwar mit mir oder mit Special Agent Morris!«
Auch dies beantwortete Paula mit einem eifrigen Nicken.
»Ich werde morgen nach San Miguel fahren. Ich brauche also von Dir detaillierte Ortsangaben. Wo genau bist Du Slatkin und Frazer begegnet?«
»Indian Valley Road an der Einmündung zur Cross Canyon Road. Dort ist ein umzäuntes Gelände mit einer Startbahn. Dort hatte Slatkin ein Flugzeug versteckt.«
»Ein Flugzeug? Wann hattest Du vor, mir davon zu erzählen?«, fragte Georgina derartig aufbrausend, dass Paula schon wieder Angst vor dem nassen Lappen bekam.
***
Special Agent Morris hätte es kaum für möglich gehalten, dass er so bald wieder beim Hearst Castle sein würde. Für Besucher war das Schloss bis auf Weiteres geschlossen. Dennoch hatte der Hubschrauber ihn nicht auf dem Parkplatz sondern auf einem eigens dafür geschaffenen Landeplatz unweit des Castles abgesetzt. Der Flugplatz war klein und es war der einzige weit und breit. Das San Luis Obispo Police Department hatte ihm einen Dienstwagen organisiert, weitere Unterstützung hatte er dankend abgelehnt. Angesichts dessen, was Georgina ihm in den frühen Morgenstunden telefonisch mitgeteilt hatte, hielt er es für besser, alleine zu recherchieren. Sein Ziel war das Haus von Martin Frazer in San Simeon.
Daniel Slatkin hatte das Haus seiner Eltern, in dem er bis vor dem Anschlag lebte, mit Sprengfallen versehen. Von einem noch größeren Anschlag hatte Georgina berichtet. Viel Hoffnung machte Morris sich nicht, aber wenn es einen Anhaltspunkt für weitere Anschlagspläne gab, dann am ehesten im Haus von Martin Frazer.
Das alte, von großen Bäumen umstellte Wohnhaus war nicht zu übersehen. Ein gelbes Absperrband der Polizei umgab das Anwesen, an zwei Stellen flatterten die losen, abgerissenen Enden im Wind.
»Schlamperei«, dachte Morris, als er das Klebesiegel an der Haustür einritzte. »Wie kann man ein Haus, das voller Beweismittel stecken könnte, dermaßen schlecht sichern?«
Zuerst verschaffte sich Stephen einen Überblick, indem er jedes Zimmer des zweistöckigen Hauses kurz inspizierte. Bad und Schlafzimmer im Obergeschoss waren aufgeräumt, über dem Bett lag eine Tagesdecke, im Bad hingen frische Handtücher. Sah so ein Haus aus, das der Besitzer morgens mit der Absicht verlassen hatte, nie mehr wieder zurückzukommen? Das Gästezimmer war offensichtlich schon länger nicht mehr benutzt worden. Eine dünne Staubschicht bedeckte die Oberflächen. Das Bett war nicht bezogen.
Die Wohnküche im Erdgeschoss sah schon eher so aus, wie man sich gemeinhin einen Junggesellenhaushalt vorstellte. Aus der Geschirrspülmaschine, deren Klappe einen Spalt offen stand, entströmte ein fauliger Geruch. Kaffeeflecken und Brotkrümel verunzierten das verchromte Spülbecken. Auf dem Sofa lag eine Decke. Hatte Frazer seine Nächte hier verbracht?
Das einzige Nebenzimmer im Erdgeschoss diente als Arbeitszimmer. Die alten Bücherregale krümmten sich unter der Last der vielen Bücher. Auf dem Schreibtisch türmten sich weitere Stapel mit Fachzeitschriften, losen Blättern und Briefen. Nur einige, offenbar wertvolle Folianten waren in einer Glasvitrine staubgeschützt untergebracht.
Der Computer war ein Tower älterer Bauart, der unter dem Tisch stand. Auf dem Bildschirm erkannte Stephen die Webcam, auf die Georgina zugegriffen hatte. Stephen drehte sich um und entdeckte die drei Bilder an der Wand neben dem Bücherregal. Georgina hatte ihm berichtet, dass sie davon ein Screenshot gemacht hatte. Jetzt hatte Stephen Gelegenheit, die Schwarz-Weiß-Bilder genauer zu untersuchen. Die Bilder steckten hinter Glas in schmucklosen Holzrahmen. Hinter den Bildern war die Wandfarbe deutlich heller als in der Umgebung. Diese Bilder hingen also schon lange dort. Die beiden Portraits zeigten zwei Männer, die sich ähnlich sahen. Waren das Brüder, oder handelte es sich gar um dieselbe Person? Der jüngere von den beiden trug eine Militäruniform. Stephen entnahm das Bild aus dem Rahmen und seine vage Hoffnung erfüllte sich. Die Rückseite war beschriftet: 'Leonard Boyle November, 12th, 1914'
»Wow«, dachte Morris, »über hundert Jahre! So alt hatte er das Bild nicht geschätzt.«
Das zweite Portrait zeigte einen etwas älteren Mann, so Mitte dreißig, in einem weißen Hemd mit einer Fliege um den Kragen. 'Warren Boyle' las er auf der Rückseite. Ein Datum suchte er vergeblich.
Das Schiff auf dem dritten Bild zeigte einen Passagierdampfer mit vier Schornsteinen, der aus dem Hafen von New York auslief. Im Hintergrund war die Freiheitsstatue zu erkennen.
»Sieht aus wie die Titanic«, dachte Morris, bevor ihm klar wurde, dass diese ja auf ihrer Jungfernfahrt gesunken war und den Hafen von New York nie erreicht hatte.
Um welches Schiff es sich handelte, musste Georgina herausfinden, denn eine Beschriftung fehlte. Mit seinem Smartphone schoss Stephen Fotos von den Bildern und schickte sie an seine Kollegin, bevor er alle drei Bilder in einem Druckverschlussbeutel verstaute.
Etwas unentschlossen blickte Stephen sich um. Wo um Himmelswillen sollte er hier anfangen zu suchen? Viele Bücher handelten von den beiden Weltkriegen und vom Hearst Castle. Fünf Exemplare von Frazers Abschlussarbeit an der Universität in Berkeley hatten auf einem der Regale einen besonderen Platz zugewiesen bekommen. Er nahm sich eines und las den Titel 'Die Gäste auf Hearst Castle – Ihr Einfluss auf die Diplomatie und Kultur zwischen den beiden Weltkriegen'. Auch dies würde er als Beweismittel mitnehmen. Vorher blätterte er in dem circa hundert-seitigen Werk und stieß auf die Widmung: 'Für meinen Großonkel Leonard.' Es musste also der Bruder seines Großvaters sein, dessen Portrait Stephen da gerade eingetütet hatte.
Gerade als er sich einem der Stapel auf dem Schreibtisch zuwenden wollte, hörte er ein Geräusch. Jemand machte sich an der Haustür zu schaffen. So einfach, wie er es geschafft hatte, in das Haus zu kommen, würde auch dieser Jemand sich Zutritt verschaffen. Stephen zückte seine Pistole. Die Tür knarrte. Hinter der geöffneten Tür zum Arbeitszimmer konnte er sich verstecken und durch den Spalt zwischen Tür und Rahmen die Wohnküche wenigstens zum Teil überblicken.
Jetzt trat der Eindringling ein. Stephen vermutete einen Reporter oder einen Plünderer – wobei das in seiner Weltanschauung auf das Gleiche hinauslief. Mit vorgehaltener Waffe würde er ihn auf die Knie zwingen, Handschellen verpassen und abführen. In diesem Moment erschien die Person in seinem Blickfeld und er musste grinsen.
»Hallo Einstein! So schnell sieht man sich wieder!«
Erschrocken fuhr Ethan Crawford herum. »Stephen! Du?«
»Ja, ich! Jeder andere hätte Dich bereits erschossen. Man sichert ein Gebäude, bevor man es betritt – schon vergessen?«
Der ehemalige Musterschüler schaute etwas verlegen und lenkte ab: »Was machst Du hier? Das FBI in Los Angeles leitet die Ermittlungen! Schon vergessen?«
»Vier Augen sehen mehr als zwei«, rechtfertigte sich Morris, »und hier gibt es genug zu durchsuchen.« Dabei deutete er auf all die Bücherregale.
»Ich habe gestern das mit Georgina erfahren ….« Ethans Stimme klang bedrückt. »Sie ist in ihrer Wohnung überfallen und erschossen worden? Wisst Ihr schon Genaueres?«
»Ich selbst bin von den Ermittlungen ausgeschlossen, wie Du Dir denken kannst.« Stephen zögerte etwas, bevor er fortfuhr. »Ethan, Georgina ist nicht tot. Ihr Lebensgefährte wurde erschossen und mit ihm zusammen eine andere Frau, die zugegebenermaßen Georgina recht ähnlich sah.«
»Sie ist nicht tot? Wieso steht das dann nicht in den Dokumenten auf dem Server?«
»Weil das außer der Gerichtsmedizinerin, mir selbst und jetzt Dir niemand weiß. Und das soll auch so bleiben. Der Obduktionsbericht wird unter Verschluss gehalten, so lange es geht. Also kein Wort zu niemandem!«
»Und wo ist Georgina jetzt?« Ethan wirkte sichtlich erleichtert.
»Sie ist untergetaucht. Bis wir wissen, wer hinter dem tödlichen Überfall steckt.«
»Verstehe.« Ethan nickte. »Ihr glaubt, es hat etwas mit Five-O-Seven zu tun.«
»Kann sein – kann nicht sein«, meinte Stephen vielsagend, als sein Handy klingelte. Er schaute auf das Display.
»Georgina?«
»Ja, Stephen. Ich habe Neuigkeiten.«
»Pass auf, Georgina, ich stelle den Lautsprecher ein. Ethan ist bei mir.«
»Gut, Deine Stimme zu hören«, rief dieser dazwischen.
Am anderen Ende der Verbindung schien Georgina zu zögern.
»Es ist in Ordnung«, beruhigte sie Stephen. »Ethan weiß Bescheid. Wir sind uns hier im Haus von Martin Frazer zufällig über den Weg gelaufen. Wir sollten ab jetzt ein Dreierteam bilden.«
»Gut. Meinetwegen.« Georgina klang nicht gerade enthusiastisch und kam gleich zur Sache: »Slatkin und Frazer hatten östlich von San Miguel ein Privatflugzeug versteckt. Damit sind sie geflohen. Ich bin hier vor Ort.«
»Wie hast Du denn das schon wieder herausbekommen?«, fragte Stephen anerkennend.
»Das willst Du nicht wissen!«
Zu gern hätte Stephen bei diesem Satz das Grinsen seiner Kollegin gesehen. Obwohl er diesbezüglich eine Vermutung hatte, fragte er nach: »Was hat diese Sensations-Tussi, diese Paula Webber, damit zu tun?«
»So einiges! Und wie läuft es bei Euch so?«
»Warum ist sie so kurz angebunden?«, dachte Stephen. Er führte dies auf Ethans Anwesenheit zurück und antwortete nach kurzem Zögern. »Wir stehen in Martin Frazers Arbeitszimmer und wissen nicht, wo wir anfangen sollen. Wir könnten Dich hier gut gebrauchen. Ich schicke Dir nach dem Gespräch drei Bilder. Von Dir brauche ich die Koordinaten von Slatkins Unterschlupf.«
»Sind so gut wie unterwegs!«
»Und wo kommst Du heute Nacht unter?«, fragte Stephen besorgt.
»Ich komme zurecht! Stephen, ich melde mich wieder. Ich möchte nicht, dass das Handy geortet wird.«
Stephen beendete das Gespräch, fotografierte die drei Bilder und schickte sie an Georgina.
»Kein Wort zu Crain!«, ermahnte er Ethan, bevor sie sich anschickten, in Frazers Haus nach weiteren Hinweisen zu suchen.
***
Das Miststück hatte ein mulmiges Gefühl, als sie den Schlüssel an ihrer eigenen Haustür umdrehte. Was würde sie heute Abend erwarten? Als sie eintrat, hatte sich ihre ungebetene Besucherin schon an ihrem Schreibtisch eingenistet. Anstelle ihres kleinen Notebooks standen nun drei Bildschirme aufgereiht entlang der Tischkante. Tastatur, zwei Mäuse und eine externe Festplatte ergänzten das Equipment. Unter dem Tisch erblickte Paula zwei Tower.
»Pass auf!« Georgina deutete auf ein gelbes LAN-Kabel, das sie quer durch den Raum zwischen Router und einem der Tower verlegt hatte.
»Gib das Handy her!« Ohne ihre Augen von den Bildschirmen abzuwenden, streckte sie der Schmeißfliege ihre Handfläche entgegen.
Ob sich Slatkin um zwölf auf dem Handy gemeldet hatte, brauchte sie nicht zu fragen. Sie überwachte das Handy. Deswegen musste der Akku dringend wieder aufgeladen werden. Sie hatte das Miststück damit nicht nur geortet sondern auch abgehört. Hätte das Dummchen irgendjemandem von ihr erzählt oder auch nur eine Andeutung gemacht, sie hätte es sofort erfahren.
Stattdessen hatte die Schmeißfliege versucht, Timmy Holford, den traumatisierten Jungen zu interviewen. Dass dieser völlig verstört von den Einsatzkräften in einem Raum zusammen mit den abgetrennten Köpfen der Opfer vorgefunden worden war, hatten die Behörden nicht an die Presse weitergegeben. Aber sie wollte ihn fragen, wie es denn war, den ersten Stein auf eine wehrlose Frau werfen zu müssen. In der psychiatrischen Klinik hatte sie sich als seine Tante ausgegeben. Georgina hatte mitgehört, wie das verlogene Dreckstück in hohem Bogen vom Sicherheitspersonal vom Gelände entfernt worden war.
Danach hatte sie über den Verbleib von Fernando Llorente recherchiert. Dem Gärtner war eine spektakuläre Flucht gelungen. Zu gerne hätte sie daraus eine reißerische Story gestrickt, aber leider hatte Llorente bereits einen Exklusivvertrag mit der Konkurrenz ausgehandelt. Georgina war beruhigt zu hören, dass er offensichtlich sein Gewahrsam bei der Homeland Security überlebt hatte – was ja in diesen Tagen keineswegs selbstverständlich war.
Die Nachwirkungen von Five-O-Seven waren noch überall im Lande zu spüren. Muslimische Verbände hatten zu Demonstrationen aufgerufen, um gegen drohende Repressalien zu protestieren. Ihr Boss hatte Paula zu einer Kundgebung in Santa Barbara geschickt. Etwas gelangweilt berichtete die Schmeißfliege nachmittags von 'bürgerkriegsähnlichen Zuständen'.
»Daniel hat nicht angerufen«, beteuerte Paula, während sie das Handy übergab.
»Dort hinsetzen!« Georgina deutete auf den Stuhl, auf dem sie in der vergangenen Nacht aus Paula die Wahrheit herausgepresst hatte.
»Sie brauchen mich nicht festzubinden. Ich sage alles, was Sie wollen!«
»Hinsetzen und Klappe halten!«, schüchterte Georgina ihr Opfer ein.
Paula zitterte, als sie sich hinsetzte. Diesen Stuhl würde sie nie mehr benutzen, sollte sie das hier überleben. Erneut band Georgina sie mit Klebeband fest und setzte ihr einen Kopfhörer auf, den sie ebenfalls mit einem Band rund um ihren Kopf fixierte. Über das Kabel verband sie den Kopfhörer mit Paulas Stereoanlage und drehte voll auf. War heute eine akustische Folter mit Schlafentzug angesagt? Als Georgina anschließend zum Telefon griff, war der Schmeißfliege klar, was das Ganze bezwecken sollte – sie konnte das Gespräch nicht mithören.
»Stephen, ich bin nicht begeistert, dass wir Ethan mit im Team haben«, kam Georgina gleich zur Sache. »Sein Boss ist niemand anderes als dieser Crain und dem traue ich keinen Zoll breit über den Weg.«
»Das kann ich nachvollziehen«, antwortete Stephen, der, wie so oft, die Abendstunden im Büro verbrachte. »Ich habe Ethan eingeschärft, Crain nichts davon zu erzählen.«
»Und Du glaubst, dass er sich daran hält?«
»Georgina, ich war selbst völlig überrascht, als er in Frazers Haus aufgetaucht ist und es war absolut schlechtes Timing, dass Du genau in diesem Moment angerufen hast.«
»Okay, lassen wir das Thema.« Georgina klang etwas genervt. »Ich habe etwas zu den Bildern herausbekommen, die Du mir geschickt hast.«
Stephen war froh, nicht weiter mit seiner Kollegin über Ethan diskutieren zu müssen. Gespannt hörte er Georgina zu.
»Ich fange mit dem Bild von dem Schiff an. Dabei handelt es sich um den britischen Passagierdampfer 'Lusitania'. Klingelt es da bei Dir?«
Georgina machte eine Pause, die Stephen nach kurzem Zögern mit einem »Nein« unterbrach.
»Erinnerst Du Dich noch an die Abfrage, die ich zum Thema Five-O-Seven gemacht habe? Was passierte an einem 7. Mai? Auf den Tag genau einhundert Jahre vor der Geiselnahme wurde die Lusitania vor der irischen Küste von einem Torpedo aus einem deutschen U-Boot getroffen und versenkt. Eines der Opfer war Leonard Boyle, der Bruder von Warren Boyle, der Großonkel von Martin Frazer.«
»Und Du meinst, die Geiselnahme war eine Vergeltung für den Beschuss eines Schiffs vor hundert Jahren?« Die Skepsis war Stephen deutlich anzuhören. »Hätte der Anschlag dann nicht in Deutschland stattfinden müssen?«
»Die Sache ist viel komplizierter«, fuhr Georgina fort. »Die Lusitania war kein reines Passagierschiff. Sie transportierte Kriegsmaterial. Es hält sich hartnäckig das Gerücht, dass niemand anderes als Winston Churchill, der damalige Marineminister, die Lusitania absichtlich vor die Torpedorohre des U-Bootes lotsen ließ. Über hundert Amerikaner waren an Bord und Churchill hoffte, nach der Versenkung die USA zum Eintritt in den ersten Weltkrieg zu bewegen.«
»Opfer von Menschenleben aus politischem Kalkül?«, wunderte sich Stephen, der nun wirklich nicht als zimperlich galt.
»Damals wie heute. Schau Dir doch die Nachrichten an!«, ereiferte sich Georgina. »Leonard Boyle konnte sich an Land retten und hat dort einen amerikanischen Agenten namens Richard erschossen – mit einer deutschen Armeepistole. Anschließend ist er wohl im Dunkeln gestolpert, unglücklich auf den Hinterkopf gefallen und ebenfalls verstorben. Eine andere Version der Geschichte besagt, dass eine dritte Person die beiden erschossen und dem toten Leonard die Armeepistole in die Hand gedrückt hat. Posthum wurde Boyle als deutscher Agent gebrandmarkt, obwohl der genaue Tathergang nie aufgeklärt wurde. Darunter litt die ganze Familie. Sein Bruder Warren hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, seinen Bruder zu rehabilitieren. Er hat Briefe an Wilson und die nachfolgenden US-Präsidenten geschrieben und Harding in San Francisco sogar persönlich getroffen. Interessant in diesem Zusammenhang: Harding starb wenige Stunden nach diesem Treffen.«
»Wow, Georgina, bist Du dem dritten Präsidentenmord auf der Spur?«
»Es wäre der fünfte!«, lachte Georgina, »Lincoln und Kennedy kennt jeder. Aber keiner spricht mehr über die Attentate auf Garfield und McKinley. Warren Boyle wurde tatsächlich verdächtigt, Harding vergiftet zu haben. Es konnte ihm aber nichts nachgewiesen werden. Danach hat er im Hearst Castle gearbeitet und während dieser Zeit war auch Winston Churchill einer der illustren Gäste auf dem Schloss. Das kann Zufall sein, aber es würde mich nicht wundern, wenn er versucht hat, mit Churchill über die Lusitania zu sprechen. Ein Jahr später wurde Churchill in New York von einem Auto angefahren. Es gibt eine Zeugenaussage, dass Churchill kurz vor dem Unfall von einem Mann bedroht wurde. Er selbst beteuerte, er sei alleine gewesen und hätte vor dem Überqueren der Straße in die falsche Richtung geschaut. Der britische Geheimdienst hat nicht locker gelassen und herausgefunden, wer sich zur gleichen Zeit am Big Apple aufhielt: Warren Boyle!«
»Bist Du unter die Verschwörungstheoretiker gegangen?«, fragte Stephen leicht amüsiert, ergänzte jedoch in ernstem Ton, »dazu passt jedenfalls das Thema von Martin Frazers Abschlussarbeit über die Gäste des Hearst Castle.«
»Ja, und dazu passt, dass Frazer vor der Geiselnahme versucht hatte, in der Bibliothek herumzustöbern, bis Gina Hines ihm dies untersagt hatte. Während der Geiselnahme hatte er keine Gelegenheit ausgelassen, alle Bücher im Gästehaus zu durchwühlen. Wenn Du mich fragst, Stephen, das war geplant. Die Geiselnahme war nur ein gigantisches Ablenkungsmanöver.«
»Ja, so allmählich passen alle Teile des Puzzles zusammen.«
»Aber ein entscheidendes Teil fehlt noch«, ergänzte Georgina, »ich habe immer noch nicht herausgefunden, was es mit 'Pandora' auf sich hat. Egal durch welche Datenbanken ich mich gewühlt habe, ich habe nichts gefunden.«
Stephen runzelte die Stirn. Er konnte sich nicht an eine einzige Recherche erinnern, bei der Georgina kapitulieren musste. Aber nun poppte auf seinem Bildschirm eine Meldung auf, die ihn alarmierte.
»Georgina, entschuldige bitte, wenn ich Dich unterbreche, aber soeben hat Joan Cohen den Obduktionsbericht ins interne FBI-Netz eingestellt. Ab sofort bist Du nicht mehr tot.«
»Okay, Stephen, danke für die Info. Das war zu erwarten. Ich habe genug Freunde im ganzen Land verteilt, wo ich unterkommen kann. Ich werde alle paar Tage den Standort wechseln.«
»Und wie erreiche ich Dich?«
»Gar nicht, Stephen. Ich erreiche Dich!«
Morris hatte gerade aufgelegt, als Inspector Greg Waldman mit hochrotem Gesicht in der Tür stand. Hatte er etwas von dem Gespräch mitbekommen?
»Stephen, wie kann es sein, dass in der Gerichtsmedizin fast zwei Tage lang eine Leiche liegt, die jeder hier für eine totgeglaubte Kollegin hält?«
»Weiß ich nicht, sag Du es mir!«
»Du hast sie doch am Tatort gesehen!«
»Ich habe in Georginas Wohnung die nackte Leiche einer Afroamerikanerin gesehen, deren Haare und Gesicht blutverschmiert waren, verdammt nochmal!«
»Aber irgend etwas muss Dir doch aufgefallen sein!« Dieser penetrante Greg ließ nicht locker.
»Was mir aufgefallen ist?«, brauste Stephen auf. »Wenn mir etwas aufgefallen ist, dann war es die exakt rasierte, etwa einen halben Zoll breite Landebahn über ihrer Muschi. Aber unter uns Männern gesagt, ich hatte noch keine Gelegenheit herauszufinden, wie die Kollegin May in diesem Bereich verziert ist.«
Greg verzog seine Mundwinkel keinen Millimeter. Er sah sich in seinen Ermittlungen behindert und das fand er gar nicht lustig.
»Die Tote wurde identifiziert als eine gewisse Olivia Gartley. So wie es aussieht, war sie die Geliebte von Georginas Lebensgefährten und somit ihre Nebenbuhlerin. Jetzt verstehe ich auch, wie es sein konnte, dass eine Überwachungskamera des Drugstores an der Ecke Georgina May aufgenommen hat, wie sie ihr Fahrzeug unweit ihrer Wohnung parkt, aussteigt und wenige Minuten später eilig wieder einsteigt und davonfährt.«
»Wie viel Minuten?«, wollte Stephen wissen.
»Lang genug, um zwei Menschen zu erschießen«, antwortete Greg, der ahnte, worauf sein Kollege hinauswollte. »Ich habe Georgina May zur Fahndung ausgeschrieben. Dies wollte ich Dir persönlich sagen – nur für den Fall, dass sie sich bei Dir meldet.«
Das hatte Stephen Morris befürchtet. Warnen konnte er sie nicht. Aber er konnte davon ausgehen, dass seine versierte Datenanalystin das schon längst selbst erfahren hatte. Eine bundesweite Fahndung nach ihr würde ihre Bewegungsfreiheit wesentlich einschränken.