Teil 2: Die Show beginnt

 

»Guten Morgen liebe Zuschauer. Hier ist Paula Webber für 'Santa Barbara Channel Six' live vom Highway One. Ich stehe hier vor der Absperrung, die die Nationalgarde zehn Meilen vor der Abzweigung zum Hearst Castle aufgestellt hat.  Näher kommen wir nicht an das Schloss heran. Noch scheint alles ruhig zu sein, aber die Geiselnehmer haben angekündigt bei Sonnenaufgang die erste Hinrichtung vorzunehmen.«

Das Miststück hatte die strikte Anweisung, immer frontal in die Kamera zu schauen. Ihr Gesichtsprofil war aufgrund ihrer vorstehenden Nase und des fliehenden Kinns nicht gerade vorteilhaft. Also schielte sie, ohne den Kopf zu bewegen, verstohlen auf den Monitor links unterhalb der Kamera. Jetzt wurde ein Bild von Annie Patterson eingeblendet. Es war ein Ausschnitt des Bildes, das sie auf Lindas Notebook gefunden hatte.

»Annie Patterson, Ehefrau eines Arztes und Mutter einer vierzehnjährigen Tochter soll, wenn die Terroristen ihre Ankündigung wahrmachen, in weniger als einer Stunde gesteinigt werden. Eine Grube mussten die männlichen Geiseln bereits gestern ausheben.«

Beim letzten Satz wurde ein Schnipsel aus dem Video eingeblendet, dass die Gefangenen bei ihrer erniedrigenden Arbeit zeigte.

»Danke, Paula«, unterbrach Viola Lowe, die Moderatorin der Frühsendung, »Annie Patterson, warum gerade sie? Was wissen wir über diese Frau?«

Paula lächelte, um gleich wieder betroffen und ernst in die Kamera zu schauen. Die Frage war vorher abgesprochen. So wie alles an diesem Beitrag minutiös inszeniert worden war.

»Annie lebt in zweiter Eher mit Ron Patterson, einem angesehenen Arzt an einer Klinik in Santa Barbara. Ihre Tochter Linda Howard stammt aus erster Ehe. Alle drei sind seit gestern in der Gewalt der Geiselnehmer.«

»Untreue, Ehebruch, Scheidung, zweite Ehe«, gab Viola als Stichwörter, »ist es das, wofür die islamistischen Terroristen sie bestrafen?«

»Davon müssen wir leider ausgehen, Viola« Jetzt versuchte Paula noch betroffener zu wirken, »in der arabischen Welt ist die Steinigung von Ehebrecherinnen …. normal.« Ganz bewusst machte Paula vor dem letzten Wort eine Pause, um es ganz besonders zu betonen. »Hinzu kommt, dass wir aus verlässlicher Quelle wissen, dass Ron, ihr zweiter Ehemann, homosexuell ist. Im Umfeld der Pattersons ist offen von Scheinehe die Rede.«

»Na, dann dürfte Ihr Mann ja der Nächste sein«, unterbrach Viola, die nun in einem kleinen Ausschnitt am rechten Bildschirmrand eingeblendet wurde. »Paula, wie geht es Linda, der Tochter?«

»Unter den Geiseln befinden sich zwei Jugendliche. Auf den Videos, die die Terroristen bisher veröffentlicht haben, sind Linda sowie ein zwölfjähriger Junge nicht zu sehen. Wir können nur hoffen, dass die Kinder noch am Leben sind.«

»Paula, ich muss Dich leider unterbrechen«, ging Viola dazwischen, »die Terroristen haben gerade ein Live-Stream geschaltet.«

»Ja, jetzt geht es los!«, dachte das Miststück. »Exaktes Timing!«

Jetzt wurde ein Videobild eingeblendet. Jemand schraubte die Kamera auf ein Stativ. Die aufgehende Sonne beleuchtete die Szenerie noch sehr spärlich, ein Studioscheinwerfer wurde eingeschaltet.

»Hier spricht Abdul Sahir, Herrscher über Hearst Castle«, begann der bärtige Konvertit, der nun vor die Kamera trat. »Die amerikanische Regierung ist auf unsere Forderungen nicht eingegangen und hat das erste Ultimatum verstreichen lassen. Daher werden wir jetzt die erste Hinrichtung durchführen.«

Die Kamera schwenkte auf die Geiseln, die in einer Reihe an der Betonwand des Geheges standen. Die Kamera zoomte auf die drei Frauen. Annie stand zitternd in der Mitte und wurde von Lynn und Moira gestützt. Abdul ging auf die Frauen zu.

»Gleich ist es soweit!«, dachte Paula erregt. »Er wird Annie Patterson aufrufen und ich bin diejenige, die die Hintergrundinformationen dazu liefert.« Nein, schockiert war das Miststück keineswegs. Sie befriedigte den Voyeurismus des Publikums und das erzeugte ein Kribbeln in ihrem Bauch – speziell in diesem Fall. Bisher hatte sie über die kleinen Alltäglichkeiten aus Santa Barbara und Umgebung getratscht. Das schlimmste bisher war ein Familiendrama, bei dem ein Mann seine Exfrau, deren Eltern und einen unbeteiligten Nachbarn erstochen hatte, bevor er sich durch mehrere Stiche in den Hals selbst das Leben nahm. Aber das hier stellte alles in den Schatten.

»Du!«, rief Abdul und zeigte auf eine der Frauen. Aus der Perspektive der Kamera war es nicht eindeutig, auf wen der Unmensch gezeigt hatte. Jetzt schwenkte die Kamera auf die Frauen.

»Nein!« Es war nicht Annie, sondern Moira, die sichtlich schockiert den Kopf schüttelte. »Bitte nicht! Nein!«

Einer von Abduls Gehilfen musste sie festhalten, während ein anderer die Kettenschlösser öffnete und die Delinquentin von Lynn und Annie trennte.

»So ein Mist!«, schrie Paula, ohne sich vorher zu vergewissern, ob ihr Mikrophon abgeschaltet war. Die ganze Arbeit der vergangenen Nacht war umsonst gewesen. Über Moira Marnell, das prominenteste Opfer dieser Geiselnahme, hatte die Konkurrenz ausführlichst berichtet.

Die Weltöffentlichkeit wurde nun Zeuge, wie zwei Männer eine wehrlose, um Hilfe schreiende Frau zu dem vorbereiteten Loch schleiften und dort hineinwarfen. Einer der Männer zerrte an ihren Armen, während der andere den Aushub in das Loch schaufelte. Anfangs strampelte Moira, aber die Last des Gemisches aus Sand und Steinen ließ ihren Widerstand ermatten. Nachdem der Mann das Loch aufgefüllt und das Material mit der Schaufel festgeklopft hatte, schauten nur noch Moiras Kopf und Schultern aus dem Bodengrund. Neben dem Loch lag ein Haufen größerer Steine, die jemand zuvor aus dem Aushub sortiert haben musste.

»Diese Hündin ist ehrlos und wertlos«, setzte Abdul seine Ansprache fort. »Sie hat ihren Körper verkauft und schamlos zur Schau gestellt. Sie hat durch Lügen und Betrug die Karriere eines Mannes zerstört.«

Kurz schwenkte die Kamera auf Henry Holford.

»Ja, das hat sie!«, dachte Lynn, die die immer noch zitternde Annie umarmt hielt. Jetzt erinnerte sie sich, wie sie Annie erzählt hatte, dass sie Moira beim Fotoshooting beobachtet hatte. Und Annie hatte darin ihre Chance gesehen, von sich als Todeskandidatin abzulenken: »Die da!«, schrie sie hysterisch und zeigte auf Moira. »Die da hat den Tod verdient! Überprüfen Sie die Fotos auf der Kamera des Fotografen!«

Und genau das hatten die Terroristen offensichtlich getan. Annie war verschont worden – vorerst zumindest, und Moira an ihrer Stelle zur Richtstätte geführt worden. Ehrlos und wertlos hatte der Anführer sie genannt. Lynn hatte keine Zeit, ihr Gewissen damit zu belasten, denn was sie jetzt sah, ließ ihren Atem stocken.

Aus dem dunklen Schatten der gegenüberliegenden Mauer trat eine Gestalt in den Lichtkegel des Scheinwerfers. Lynn musste zweimal hinschauen.

»Timmy?«, schrie sie entsetzt und fragend zugleich.

»Schweig!«, brüllte Abdul. »Keiner sagt ein Wort, oder ich lasse eine zweite Grube ausheben!«

Die Drohung wirkte. Timmy lebte! Was für eine Erleichterung! Aber wie war er gekleidet? Er trug einen schwarzen Umhang. Wie in Trance blickte er auf Moiras aus der Erde ragenden Kopf.

»Dieser tapfere Junge wird die Ehre seines Vaters wieder herstellen«, kommentierte Abdul das Erscheinen des Jungen. Er gab ihm einen Wink, worauf Timmy sich bückte und wie selbstverständlich einen Stein aufhob.

Fassungslos blickte Lynn hinüber zu den Männern. Ihr Mann Henry schüttelte den Kopf und versuchte sich abzuwenden. Als sie wieder nach vorne schaute, sah sie, wie ihr kleiner Timmy den Stein in einem gezielten Kernwurf auf den Kopf eines Menschen schleuderte. An seiner letzten Geburtstagsparty hatten sie Tennisbälle auf eine Pyramide verbeulter Konservendosen geworfen. Timmy hatte das Spiel gewonnen. Mit der gleichen Präzision bewarf er nun diese wehrlose Frau.

Moira hatte den Stein kommen sehen und den Kopf leicht seitlich weggedreht. Mehr Bewegungsfreiheit hatte sie nicht. Der scharfkantige Stein traf sie an der linken Schläfe und verursachte eine blutende Wunde. Moira stöhnte laut auf.

Lynn erinnerte sich an eine Reportage über Kindersoldaten irgendwo in Afrika. In welchem Land war das nochmal? Sie hatte es vergessen. Nach der Hälfte der Sendung hatte sie sowieso umgeschaltet. Im anderen Programm lief die neueste Folge von 'Two And A Half Men'. Das wollte sie auf keinen Fall verpassen. Afrika lag jenseits des Atlantiks. Weit weg!

Aber jetzt benutzten diese Barbaren ihren kleinen Timmy für die Umsetzung eines teuflischen Plans. War das ihr Sohn? Welche Art von Gehirnwäsche hatten sie ihm verpasst? Lynn erkannte ihn nicht wieder. Ohne einen weiteren Befehl abzuwarten hob der Junge den zweiten Stein auf, warf ihn ohne zu zögern und traf Moiras Stirn.

»Aufhören!«, schrie sie, während das Blut über ihr Gesicht strömte.

Der dritte Stein traf nicht, sondern prallte an dem ersten Stein ab und blieb neben Moiras Schulter liegen – ein Boccia-Spiel mit blutigem Ausgang. Jetzt griff auch einer der Terroristen nach einem Stein und schleuderte ihn mit aller Kraft gegen Moiras Hinterkopf.

Der Zweite zoomte die Kamera auf das Gesicht der Todeskandidatin. Diese verdrehte das linke Auge, das rechte war bereits zugeschwollen. Als der fünfte Stein sie am Ohr traf, wich das panische Schreien einem immer schwächer werdendem Röcheln. Mühsam schnappte sie nach Luft, bevor sie sich erbrach.

Als Moira nach einem Hagelschauer von zehn weiteren Steinen keine Laute mehr von sich gab, versetzte der Steinewerfer ihr einen Tritt seitlich gegen den Schädel, was bei dem Opfer nur noch ein schwaches Gurgeln auslöste. Die vor Entsetzen gelähmten Geiseln mussten mit ansehen, wie der Irre ein Messer zückte und damit Moiras Kopf abtrennte, sodass nur noch die Schultern und der Halsstumpf aus dem Boden ragten.

»Heute Abend bei Sonnenuntergang wird einer der Männer gerichtet«, verkündete Abdul, während er Moiras Kopf in die Kamera hielt. »Erfüllt unsere Forderungen!« Er nickte dem Kameramann zu, worauf die Übertragung ins Internet gekappt wurde.

 

»Der Videostream kam von einem Server in Pakistan.« Georginas Magennerven kämpften gegen die Wellen.

Auch die übrigen Anwesenden in der Kommandozentrale waren sprachlos und sichtlich betroffen.

»Kann man diesen Dreck nicht abstellen?«, brüllte Crain, obwohl er die Antwort bereits kannte.

»Wir könnten ein 'Silent Spring' über Hearst Castle legen«, würgte Georgina hervor.

»Silent Spring? Was soll das sein?«, fragte Crain.

»In 'Silent Spring' stellte Rachel Carson vor fast fünfzig Jahren den Zusammenhang zwischen Pestizideinsatz und dem Aussterben von Vogelarten her«, wusste Ethan.

»Und was bringt uns das hier und jetzt?«, fragte Stephen.

»'Silent Spring' ist das Kennwort, mit dem jeder FBI-Beamter über die Zentrale die Stilllegung sämtlicher Mobilfunkverbindungen seines aktuellen Standortes anfordern kann«, erklärte Georgina.

»Habe ich auch nicht gewusst«, gab Stephen zu.

»Das habe ich erst letzten Monat auf einem der Lehrgänge zum Special Agent gelernt«, erwähnte Georgina nicht ohne Stolz.

»Und was, wenn diese Verbrecher satellitengestützte Internetverbindungen benutzen?«, gab Ethan zu bedenken.

»Dann müssten Sie im ganzen Land das Internet lahmlegen«, erwiderte Georgina. »Die gesamte Infrastruktur würde zusammenbrechen. Kein Online-Banking, keine Fernüberwachung von Verkehr und Produktionsanlagen, keine Flüge.«

»Keine Flüge! Das hatten wir schon einmal nach dem elften September! Das haben wir auch überstanden.«

»Sie können sicher erwirken, dass die amerikanischen Plattformen diese Videos sperren. Aber über ausländische Server kann jeder Schuljunge sich das ansehen«, konterte Georgina. »Hier an der Westküste schlafen noch die meisten, an der Ostküste lief die Hinrichtung bereits im Frühstücksfernsehen und in Europa ist es Nachmittag.«

»Medien! Gutes Stichwort!«, mischte sich Morris ein, »was war das für ein Beitrag, den wir vor der Hinrichtung gesehen hatten? Diese Schlampe, die das ganze Privatleben der Pattersons an die Öffentlichkeit gezerrt hat. Wenn die Terroristen diesen Beitrag sehen, ist der schwule Ron Patterson der Nächste.«

»Ja, Morris, wir müssen das unterbinden«, pflichtete FBI-Director Crain bei.

»Zensur der freien Presse. Das ist genau das, was die Geiselnehmer beabsichtigen«, meinte Barbara Watts.

»Bevor wir hier die Wirkung der Medien analysieren, sollten wir endlich ein militärisches Vorgehen in Erwägung ziehen«, schrie Harvey, »wir können nicht warten, bis der nächste Amerikaner hingerichtet wird.«

»Dann besprechen Sie das mit dem Präsidenten.« Crain war sichtlich genervt. »Wir brauchen die Identitäten der drei Helfer von Daniel Slatkin. Es gibt mit Sicherheit Hintermänner, die sich frei und unbehelligt in unserem Land bewegen. Die will ich haben!«

»Vielleicht haben wir gerade einen davon gefasst«, mischte sich Georgina ein, »ein Trupp der Nationalgarde bringt uns den Mann, dem gestern Nacht die Flucht aus einem der Gästehäuser gelungen ist.«

»Wissen wir schon, um wen es sich dabei handelt?«, wollte Ethan Crawford wissen.

Die Antwort erübrigte sich, denn nun wurde die Tür zur Einsatzzentrale geöffnet. Zwei Nationalgardisten führten einen Mann hinein. Seine Hände waren mit einer Plastikfessel auf den Rücken gebunden. Seine Kleidung war zerfetzt und die Haut darunter geschunden. Der Mann musste bei Dunkelheit in Panik durch dichtes Gestrüpp gerannt sein. Sichtlich irritiert blickte der Gefangene in die Gesichter der Umstehenden.

»Und Sie sind?«, fragte Harvey als Erster.

»Fernando. Fernando Llorente. Ich bin Gärtner am Hearst Castle. Ich bin … ich war eine der Geiseln. Bitte nehmen Sie mir die Fesseln ab!«

»Nicht so eilig, junger Mann!«, entgegnete Harvey. »Wir hätten da vorher noch ein paar Fragen.«

 

***

»Leonard Boyle«, Constable Dylan McNamara hielt einen Reisepass in der Hand und las den Namen des Inhabers laut vor. »Amerikanischer Staatsbürger. Der Pechvogel hat es geschafft, mit dem Rettungsboot von der untergehenden Lusitania zu fliehen, nur um dann bei Dunkelheit zu stolpern und mit dem Hinterkopf gegen einen Stein zu schlagen. Aber warum zum Teufel hat ein Amerikaner eine deutsche Armeepistole bei sich?«

»Hier liegt noch einer!«, rief Jonathan Fitzpatrick, sein Kollege.

Acht Meilen waren die beiden Beamten noch vor Tagesanbruch aus Kinsale zu dem auf einer Landzunge gelegenen Leuchtturm geritten. Wie ein Lauffeuer hatte sich der Beschuss und der anschließende Untergang der Lusitania in den Gemeinden entlang der Südküste Irlands herumgesprochen. Jetzt galt es, das erste Tageslicht zu nutzen, um nach Schiffbrüchigen zu suchen. Ein Rettungsboot war direkt unterhalb des Leuchtturms gestrandet. Erschöpft, schockiert und voller Sorge über vermisste Angehörige hatten die Insassen den steilen Pfad zum oberen Rand der Klippen hinter sich gebracht. Einige meinten, einen Schuss gehört zu haben. McNamara und Fitzpatrick mussten dem nachgehen.

»Mein Gott, wie sieht der denn aus!«, entfuhr es McNamara.

»Dem hat Pechvogel Boyle wohl das Gesicht weggeschossen, bevor er gegen den Stein geprallt ist.«

»Hat er Papiere bei sich?«

»Nein. Aber der Kleidung nach ist es ebenfalls ein Amerikaner.«

»Verflucht«, murmelte der Constable, »anstatt froh zu sein, die Katastrophe überlebt zu haben, bringen sie sich gegenseitig um.«

»Wir werden sie nach Kinsale bringen!«, schlug Fitzpatrick vor.

»Und dann?«

»Weiter nach Queenstown. Dort werden alle Opfer gesammelt.«

»Und wie sollen wir das bewerkstelligen? Sollen wir die Leichen auf unseren Pferden festbinden und neben ihnen herlaufen?« McNamaras Laune erreichte bei diesem Gedanken einen Tiefpunkt. »Die Marine sammelt die Ertrunkenen ein und schippert alle nach Queenstown. Das ist einfach und geht schnell. Aber diese hier müssen wir auf dem Landweg dorthin schaffen. Ferner sind sie nicht ertrunken.«

»Wir können Sie doch nicht hier liegen lassen!«, empörte sich Fitzpatrick.

»Das werden wir auch nicht. Ich rede mit dem Pastor von Poulmounty. Sie bekommen ein christliches Begräbnis. Ich nehme den Reisepass mit und werde einen Bericht schreiben. Wenn dann jemand die Leichen haben will, kann er sie wieder ausgraben.«

»Aber hier ist ein Mord geschehen!«

»Jonathan, ist jemals in Kinsale ein Mord geschehen?«

»Nein, nicht soweit ich mich erinnern kann.«

»Eben! Und das soll auch so bleiben! Hilf mir! Wir schaffen die Leichen zum Leuchtturm.«

 

***

Die Schmeißfliege hätte platzen können vor Enttäuschung und Wut. Die Reportage über das Privatleben der Pattersons, verziert mit Bildmaterial von Lindas Notebook und gewürzt mit ein paar Halbwahrheiten, sollte nahtlos in Annies Hinrichtung übergehen. Das wäre für Paula der Durchbruch gewesen. Die TV-Stationen, Nachrichtenredaktionen und Internetportale auf der ganzen Welt hätten auf ihr Material zurückgegriffen. Und was machte dieser verfluchte Islamist? Entgegen seiner großspurigen Ankündigung hatte er ein drittklassiges Nacktmodel ausgesucht.

Von ihren spärlichen und unregelmäßig verdienten Gagen war Moira Marnell in der Glamourwelt Hollywoods mehr schlecht als recht über die Runden gekommen. Sie musste erst sterben, um berühmt zu werden. Ein Fotomodel gesteinigt – und das in ihrem Heimatland – in Amerika, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten! Man brauchte keine Recherchen zu betreiben, um zu wissen, dass Moira die erste Amerikanerin war, der dies widerfahren war. Es war keine vierundzwanzig Stunden her, dass sie sich zusammen mit einem fettleibigen Fotografen von der Besuchergruppe abgesetzt hatte, um in der Parkanlage neben dem Hearst Castle für erotische Fotos zu posieren.

In der letzten halben Stunde hatte Moira mehr Klicks und Tweets als während ihrer gesamten Karriere zuvor. Die Facebook-Seite 'R.I.P. Moira' hatte bereits über zehntausend Likes. Jemand hatte in Anlehnung an 'Je suis Charlie' ein Button mit der Aufschrift 'I am Moira' entworfen, was unzählige Nutzer, vornehmlich weibliche Teenager, als neues Profilbild verwendeten.

Und wer war Annie Patterson? Paulas Reportage war verpufft im Nirwana der Bedeutungslosigkeit. Und sie gleich mit. Aber das Miststück war zu besessen von ihrer Idee, sich am Leid anderer Leute zu weiden, dass sie gar nicht daran dachte aufzugeben. Ihr kam der Junge in den Sinn.

Timmy Holford, der zwölfjährige Sohn eines ehemaligen Lehrers hatte genau die Frau mit Steinen beworfen, wegen der sein Vater seinen Job verloren hatte. Was für eine Ironie! Sie googelte Henry Holford und wurde sofort fündig. Moira Anajevska, die spätere Moira Marnell, hatte ihren Lehrer eines sexuellen Übergriffs beschuldigt. Sie hatte sich wegen einer Schulnote ungerecht behandelt gefühlt und während eines Ausflugs das Gespräch mit Holford gesucht. Dieser hatte ihr einen unzweideutigen Vorschlag unterbreitet: Sex gegen bessere Note. Als sie nicht darauf eingehen wollte – sie war schließlich ein anständiges Mädchen –, hatte er sie gepackt. Sie war gestolpert und er hatte ihre Bluse zerrissen. Das war jedenfalls ihre Version gewesen. Die Handyvideos, die ihre Mitschülerinnen gedreht hatten, trugen nur wenig zur Aufklärung des Tatherganges bei. Vor Gericht stand Aussage gegen Aussage, aber gesellschaftlich und beruflich war Henry Holford erledigt.

Aber je mehr Paula darüber las, umso mehr wurde ihr bewusst, dass schon viel zu viele Schmeißfliegen vom süßlichen Geruch dieser Story angelockt worden waren. Sie musste sich etwas anderes suchen. Etwas, was ihre Artgenossen noch nicht gerochen hatten. Da fiel ihr Linda ein. Timmy war offenbar von den Fanatikern beeinflusst oder massiv unter Druck gesetzt worden. Hatten sie ihn unter Drogen gesetzt? Jedenfalls hatten sie ihn nicht getötet. Dann war Linda bestimmt auch noch am Leben.

Ja, genau das war es! Was da oben im Hearst Castle passierte, war schon entsetzlich und grauenvoll genug. Aber wenn Kinder und Jugendliche betroffen waren, so war das das Sahnehäubchen! Egal, wie die Sache ausgehen würde, das Schicksal der vierzehnjährigen Linda würde niemanden kalt lassen. Das war einzig und allein ihre Story, denn sie hatte etwas ganz für sich allein: Lindas Notebook!

Das Miststück klappte den Bildschirm hoch und öffnete das Protokoll, das den Chat zwischen Lindypat und jenem ominösen Shyboy123 am Vorabend der Geiselnahme zeigte.

'09:54 p.m. Shyboy123: kiss kiss good night' war der letzte Eintrag.

Darunter das aufdringliche Blinken des Cursors im leeren Eingabefenster – schreib was!

Wie schon gestern Abend zögerte Paula mit der Eingabe eines Textes. Alles was sie hier eingab, würde als Lindypat an Shyboy123 gehen. Sie musste mit ihm in Kontakt treten! Sollte sie sich ihm offenbaren? 'Hallo Shyboy123, hier ist Paula. Ich bin Reporterin und habe Lindypats Notebook'. Nein, das konnte nichts werden!

Fest stand, dass er seit vorgestern Abend nicht mehr versucht hatte, mit Linda in Kontakt zu treten. Wusste Shyboy123 eigentlich, was Lindypat zugestoßen war und schrieb deshalb nicht? Vielleicht kannte er ihre wirkliche Identität auch gar nicht. Vielleicht lebte er an der Ostküste oder ganz am anderen Ende des virtuellen Dorfes. Der Punkt neben seinem Avatar war grau und nicht grün. Shyboy123 war also nicht online.

'08:23 a.m. Lindypat: Hi, was geht ab? Melde Dich bitte! Miss U'

Paula versuchte krampfhaft, den Schreibstil eines Teenagers zu imitieren. Sie las sich die Zeile fünfmal durch und jedes mal steigerte sich ihre Erregung. Schließlich drückte sie die Return-Taste. Jetzt hieß es abwarten.

 

***

Fernando Llorente war Single und so war es nur natürlich, dass er ein Auge auf Gina Hines geworfen hatte, die hübsche Kollegin, die an seinem Arbeitsplatz für die Sicherheit zuständig war. Als er gerüchteweise von Ginas Eheproblemen erfahren hatte, hatte er begonnen, sich Hoffnung zu machen. Aber die feine Lady in der Führungsposition war sich wohl zu schade für einen Gärtner. Nur einmal hatte sie sich für ihn Zeit genommen. Sie hatte den Geräteschuppen hinter dem Schloss inspiziert und die Unordnung kritisiert. Die Flaschen mit dem Gift gegen Blattläuse gehöre in einen verschließbaren Schrank und nicht auf den Esstisch. Harken müssten mit den Spitzen zur Wand hin aufgehängt werden. Schließlich überreichte Gina Hines ihm eine Liste mit neunzehn Sicherheitsmängeln, die der Gärtner innerhalb von drei Wochen zu beheben hatte.

In Fernandos Kopfkino war damals ein ganz anderes Szenario abgelaufen: Gina ließ die Tür des Schuppens hinter sich ins Schloss fallen, drehte den Schlüssel um und begann die Bluse ihrer Uniform aufzuknöpfen. Daraufhin hatte Fernando mit einer Armbewegung die Blumentöpfe mit den frisch angesetzten Keimlingen vom Arbeitstisch gefegt, die notgeile Gina an den Hüften auf die Tischplatte gehoben, ihr Hose und Slip vom Leib gerissen und sie im Stehen durchgevögelt. 

Hätte Fernando eine Ahnung davon gehabt, was Gina vor etwa zwölf Stunden genau auf dem Stuhl widerfahren war, auf dem er nun saß, er wäre nicht so entspannt gewesen.

»Fernando«, begann Harvey in einem betont kameradschaftlichen Tonfall und drückte den Aufnahmeknopf des Diktiergerätes. »Erzählen Sie mir bitte in allen Einzelheiten, was gestern auf Hearst Castle passiert ist.«

»Kann ich mich vorher umziehen?« Fernando hatte immer noch den orangenen Sträflingsanzug an. »Ich habe Ersatzkleidung in meinem Spind.«

»Nachher«, wiegelte Harvey diesen nachvollziehbaren Wunsch ab. »Die Zeiterfassung hat Ihren Arbeitsbeginn gestern um 6:32 a.m. erfasst. Fangen Sie immer so früh an?«

»Ja, meistens. Die Pflanzen müssen gegossen werden, bevor die Mittagssonne brennt.«

War das jetzt eine Rechtfertigung oder Nachhilfe in Gartenpflege? Genervt wechselte Harvey das Thema: »Wie sind Sie vom Besucherzentrum zum Castle gelangt?«

»Mit dem Pick-up. Da ich oft Material zu transportieren habe, steht mir ein eigenes Fahrzeug zur Verfügung.«

»Was für Material ist das?«

»Blumenerde, Düngersäcke, Setzlinge, Geräte… was man eben als Gärtner so braucht.«

»Wer kontrolliert, was Sie auf dem Pick-up verladen?«

»Niemand!« Fernando war sichtlich irritiert. Was wurde ihm da unterstellt?

»Sie waren also bereits auf dem Gelände, als er Bus mit den ersten Besuchern ankam.«

Fernando nickte.

»Antworten Sie laut und deutlich mit ja oder nein!«

»Ja.«

»Haben Sie gesehen, wie der Bus ankam?«

»Nein, ich war auf der Südseite des Parks und habe Büsche geschnitten.«

»War außer Ihnen noch jemand auf dem Gelände.«

»Martin Frazer. Die Tourguides kommen immer vor den Besuchern. Sie begrüßen ihre Besuchergruppe oben vor dem Schloss.«

»Das wissen wir«, unterbrach ihn Harvey. »Haben Sie Mr. Frazer gesehen?«

»Nein. Wir haben im Fuhrpark zwei Kleinwagen, mit denen die übrigen Beschäftigten zwischen dem Schloss und dem Besucherzentrum pendeln.«

»Wer hat die Zündschlüssel für diese Fahrzeuge?«

»Niemand. Wir lassen die Schlüssel stecken.«

»Jeder könnte also mit einem solchen Auto zum Schloss hochfahren«, stellte Harvey vorwurfsvoll fest.

»Nein, diese Fahrzeuge parken auf dem Werkhof. Da kommt kein Besucher hin. Aber ich bin nur für die Gärten zuständig. Gina – Ms. Hines, sie ist verantwortlich für die Sicherheit.« Fernando ahnte, worauf dieser Harvey hinauswollte. War es geschickt von ihm, alle Schuld auf seine Kollegin zu schieben? Aber bevor er sich darüber Gedanken machen konnte, wechselte sein Gegenüber schon wieder das Thema:

»Wie haben Sie von der Geiselnahme erfahren?«

»Martin Frazer hatte mich per Funk gerufen. Ich sollte zum Haupteingang kommen.«

»Hat er Ihnen gesagt, warum?«

»Nein, er meinte nur es sei dringend.«

»Kommt so etwas häufiger vor?«

»Nein.«

»Haben Sie ihn nicht nach dem Grund gefragt? Schließlich mussten Sie Ihre Arbeit unterbrechen!«

»Nein, ich bin sofort losgelaufen.«

»Was geschah dann?«

»Ich ging zum Haupteingang, dort war aber niemand. Ich habe deshalb das Haupttor des Schlosses geöffnet, um ins Foyer zu gelangen. Dort wurde ich mit einer Pistole in Schach gehalten. Ich hatte keine Chance. Martin Frazer und die Besucher waren schon gefangen genommen worden.«

»Nach unseren Erkenntnissen besteht die Bande aus einem Anführer und zwei Helfern.« Mit Absicht stellte Harvey den zu Verhörenden auf die Probe.

»Drei!«, antwortete dieser spontan. »Es sind drei Helfer.«

»Drei? «Harvey spielte den Überraschten. »Wie heißen diese? Haben sie Namen genannt?«

»Der Anführer nennt sich Abdul Sahir, mehr weiß ich nicht.«

»Haben Sie diesen Sahir oder einen der anderen Männer schon einmal auf dem Gelände des Schlosses gesehen?«

»Nein.«

»Und dann mussten Sie diese Anzüge anziehen!«

»Ja, alle. Die Frauen auch. Es war demütigend.« Fernando machte eine kurze Pause.

»Unter den Geiseln befinden sich zwei Kinder. Was ist mit denen?«

»Die wurden gleich zu Anfang von uns Erwachsenen abgetrennt. Die beiden Mütter sind fast durchgedreht. Wir haben sie danach nicht wieder gesehen. Die drei Frauen wurden von uns Männern getrennt in jeweils einem der Gästehäuser untergebracht. Wir Männer waren im Haus der Meere.«

»Haben Sie die Frauen danach noch einmal gesehen?«

»Ja, wir wurden nachmittags zum Bus geführt, zu den ehemaligen Raubtiergehegen gefahren und mussten eine Grube ausheben. Der Anführer hatte verkündet, eine der Frauen ….« Bei den letzten Sätzen geriet Fernando ins Stottern. Jetzt brach er heulend zusammen.

Unbeeindruckt setzte Harvey die Befragung fort. Wie gestern bei Gina Hines wurde der Sauerstoffgehalt in der Kabine gedrosselt. »Und dann haben Sie den Ausbruch geplant ...«

»Ja.«

»Wer kam auf die Idee?«

»Einer der Besucher. Clive heißt er – ein ehemaliger Marine. Der kam auf die Idee. Ich habe mich dann an die Bodenklappe erinnert, die sich neben der Toilette im Gästehaus befindet.«

»Was für eine Bodenklappe? Ich dachte, Sie sind Gärtner!«

Fernando antwortete nicht. Er merkte, dass etwas mit ihm nicht stimmte.

»Fernando!« Harvey Ton war jetzt schon fast erheiternd. »Wir machen jetzt eine Pause. Sie können sich im Nebenraum etwas ausruhen. Danach wird sich meine Kollegin Barbara Watts um Sie kümmern.«

Fernando hatte die ganze Nacht kein Auge zugemacht. Nach seiner Flucht war er nur gerannt und hatte sich schließlich in einem kleinen Wäldchen verborgen, bis die Soldaten ihn fanden. Seinen benebelten Zustand schrieb er der Übermüdung zu. Er ließ sich auf die Pritsche fallen und nahm gar nicht wahr, dass die Tür hinter ihm verriegelt wurde.

 

Sofort nach Moiras Exekution waren die übrigen Geiseln wieder ins Schloss gebracht worden. Ab nun wurden die beiden verbliebenen Frauen nicht mehr von den Männern getrennt. Lynn Holford lag zitternd in den Armen ihres Mannes. Annie und Ron Patterson saßen paralysiert und geistesabwesend nebeneinander. Die Bilder der blutigen Steinigung hatten sich in die Köpfe der Geiseln eingebrannt. Zudem schmerzten die von den Peitschenhieben verursachten Striemen auf den Rücken der Männer. Einige der Schläge hatten tiefe, blutende Schnittwunden hinterlassen.

Randy Stephens hatte sich in die hinterste Ecke des Raumes verkrochen. Er fühlte sich mitschuldig an Moiras Tod. Es waren diese harmlosen, freizügigen Bilder auf der Speicherkarte seiner Kamera gewesen, die diese verblendeten Fanatiker als Gotteslästerung empfunden hatten.

»Acht gegen vier!«, murmelte Clive Osbourne. »Und meistens kommen sie nur zu zweit.«

»Was soll das heißen?«, fragte Martin Frazer, der schon wieder damit begonnen hatte, wie besessen die Bücher durchzublättern und von einem Stapel auf den anderen zu legen.

»Wenn wir uns alle auf dieses Pack stürzen, stirbt höchstens einer von uns. Die Anderen müssen sich nur eine der Waffen greifen.«

»Sorry, Clive, aber der Vorschlag mit der Flucht durch die Bodenklappe war schon Wahnsinn«, entgegnete Henry, »und die Quittung dafür haben wir bekommen.«

»Außer einem!«

»Du meinst Fernando? Bist Du sicher, dass er es geschafft hat? Wahrscheinlich haben sie ihn abgeknallt wie einen Hasen!«

»Haben Sie nicht?«, entgegnete Clive.

»Woher weißt Du das?«, mischte sich Berson ein.

»Hast Du einen Schuss gehört, als wir gefangen genommen wurden? Ich nicht! Hätten sie ihn geschnappt, hätten sie uns seinen Kopf präsentiert.«

Eine Weile herrschte Schweigen. Die übrigen Anwesenden hatten offensichtlich nicht vor, weiterhin den abenteuerlichen Vorschlägen eines Marine-Veterans zu folgen.

»Seid Ihr schon zu Schlachtvieh degradiert?«, schrie Clive unvermittelt. »Denkt an den elften September! Denkt an die Passagiere in dem Flugzeug, das in das Weiße Haus gelenkt werden sollte! Die Leute haben sich gewehrt!«

»Und was hat es ihnen genutzt?« Diesmal war es Martin Frazer, der sich zu Wort meldete. »Das Flugzeug hat sich in Shanksville in den Boden gebohrt und die Leute haben ihren Orden posthum verliehen bekommen.«

»Aber wir sind nicht in einem Flugzeug! Wir haben festen Boden unter den Füßen, verdammt nochmal!«

»Aufhören! Aufhören!«, schrie Annie hysterisch, griff sich an den Kopf und riss sich ein Büschel Haare heraus, »hört endlich auf, verdammt nochmal!«

 

***

Warren Boyle war sechzehn Jahre alt, als er das erste Mal in seinem Leben eine von einem Motor angetriebene Kutsche sah. Die knatternde Blechbüchse kündigte sich durch eine Staubwolke an, als sie noch meilenweit von der Farm seiner Eltern entfernt war. William Boyle besaß Ländereien in Wasco im Süden des Central Valley. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts steckte die Bewässerungstechnik noch in den Kinderschuhen, sodass Boyle überwiegend Weidewirtschaft betrieb und nur auf einer begrenzten Fläche im Umkreis der Farm Zitrusfrüchte und etwas Gemüse für den lokalen Markt anbaute. 

Seine Frau Ann hatte ihm zwei Söhne geboren, Leonard und Warren. Während ihr Sohn Warren mit jugendlicher Neugier die Ankunft der futuristisch anmutenden Maschine erwartete, war Anns Miene äußerst besorgt, als sie am Rahmen der Eingangstür zum Farmhaus lehnte. Die nächstgelegene Stadt war Bakersfield, die mit einer Pferdekutsche in zwei Stunden erreichbar war. Ann erkannte das Stadtwappen auf der Tür des Wagens, als dieser durch die Toreinfahrt auf den Hof fuhr und direkt vor der Veranda des Farmhauses hielt.

»Mrs. Boyle?«, fragte einer der beiden fein gekleideten Männer mit ernster Miene, als sie aus dem Wagen stiegen.

»Ja?« Ann ahnte nichts Gutes.

»Ist Ihr Mann zu sprechen?« Die Männer klopften sich den Straßenstaub von ihrer Kleidung.

»William ist auf den Feldern.«

»Können wir ins Haus gehen?«, fragte der Mann mit Blick auf den jungen Warren.

Nachdem seine Mutter die Tür hinter den Männern geschlossen hatte, beeilte sich der Junge, auf das Dach des Hühnerstalls zu klettern, obwohl er sich viel lieber diese fremdartige Motorkutsche näher angeschaut hätte. Noch Jahre später sollte sich Warren beim Anblick eines Kraftfahrzeuges immer an diesen Tag auf der elterlichen Farm erinnern.

Der Stall – ein schäbiger Bretterverschlag – klebte an der nördlichen Giebelseite des Farmhauses. Das Dach trug sein Federgewicht und wenn er sich duckte, konnte er sich direkt unter eines der Fenster der Wohnküche legen, ohne im Inneren des Hauses gesehen zu werden. Das Fenster war zur Hälfte nach oben geschoben, sodass Warren jedes Wort verstehen konnte, das im Haus gesprochen wurde.

»Mrs. Boyle, ist das Ihr Sohn Leonard?«

»Ja, das ist sein Reisepass! Woher haben Sie den?« Die gebrochene Stimme seiner Mutter erschreckte Warren.

»Wissen Sie, wo Ihr Sohn sich momentan aufhält?«

»Leonard ist Soldat. Er dient weit weg an der Ostküste. Das ist für uns sehr schwierig. Wissen Sie, wir brauchen ihn hier auf der Farm.«

»Haben Sie etwas von der Lusitania gehört?«

»Nein, wer soll das sein?«

»Lesen Sie keine Zeitung?«

»Manchmal am Sonntag, wenn wir nach dem Gottesdienst in Wasco am Geschäft von Mr. Jenner vorbeikommen. Er hängt die frisch gedruckte Zeitung immer ins Schaufenster.«

»Mrs. Boyle, die Lusitania war ein Schiff. Es ist vor der irischen Küste von einem deutschen U-Boot versenkt worden. Ihr Sohn Leonard war an Bord, aber er konnte sich an Land retten.«

»Gottseidank!« Warren hörte, wie seine Mutter ihre Handflächen gegeneinander klatschte.

»Mrs. Boyle, nach unseren Informationen stammen Sie und auch Ihr Mann von deutschen Einwanderern ab.«

»Williams Mutter war Deutsche und ich bin eine geborene Schneider.«

»Haben Sie noch Kontakt zu Ihren Verwandten in Deutschland?«

»Nein! Warum fragen Sie das?«

»Beantworten Sie einfach meine Fragen!«

»Ja! Entschuldigen Sie bitte.« Dieser devote Tonfall seiner Mutter hallte in Warren sein Leben lang nach.

»Sie wissen, dass unser Land kurz davor steht, England und Frankreich im Krieg gegen Deutschland beizustehen. Mrs. Boyle, stehen Sie und Ihre Familie hinter unserem Vaterland?«

»Ja!«

»Wie viele Schusswaffen haben Sie im Haus?«

»Zwei alte Jagdgewehre.«

»Keine Pistolen?«

»Pistolen? Nein, nur die zwei Gewehre.«

»Hatte Leonard eine Armeepistole?«

»Leonard ist Soldat. Ich weiß nicht, was für Waffen Leonard hat.«

»Eine deutsche Armeepistole?«

»Nein! Warum fragen Sie ihn nicht selber?«

»Mrs Boyle, wir können ihn nicht fragen. Ihr Sohn ist tot.«

»Tot? Sie sagten doch, dass er sich von diesem Schiff retten konnte!«, hörte Warren seine Mutter nach einer Pause sagen. Ihm selbst schossen in diesem Moment die Tränen in die Augen.

»Er ist an Land gestorben. Er hat einen Menschen erschossen und muss anschließend nach Einbruch der Dunkelheit gestolpert und mit dem Hinterkopf auf einen Stein aufgeschlagen sein. In seiner Hand hielt er eine deutsche Armeepistole.«

Im Haus herrschte Stillschweigen. Warren konnte seine Mutter nicht sehen, aber vor seinem geistigen Auge sah er, wie sie geschockt auf das Kruzifix starrte, das neben dem Küchenschrank hing.

»Wir müssen leider davon ausgehen, dass Ihr Sohn Leonard zu den Deutschen übergelaufen ist.«

»Übergelaufen?«

»Ja. Er hat als Spion für die Deutschen gearbeitet. Mrs. Boyle, wir werden Sie jetzt allein lassen. Seine persönlichen Sachen wurden beschlagnahmt.«

Noch im hohen Alter erinnerte sich Warren Boyle, wie er damals in die Arme seiner Mutter gelaufen war, nachdem die beiden Männer fortgefahren waren. Wenig später war der Vater nach Hause gekommen. Dieser hatte zwei Tage benötigt, um aus einer lähmenden Lethargie zu erwachen. Danach hatte er sich auf ein Pferd gesetzt und war nach Bakersfield geritten. Auf dem Rekrutierungsbüro, in dem sich Leonard für den Militärdienst angemeldet hatte, teilte man ihm mit, dass Leonard irgendwo in Irland anonym bestattet worden war. So gerne hätten die Eltern die sterblichen Überreste des geliebten Sohnes in der heimatlichen Erde beigesetzt.

Nach und nach forderte die Lusitania weitere Opfer. Leonard Boyle war von den Behörden als Verräter und Kollaborateur abgestempelt worden. Das bekamen auch die Boyles in Wasco zu spüren. Zwei Jahre später starb Vater William Boyle, seine Frau folgte ihm nach weiteren drei Jahren. In der Zwischenzeit versuchte der junge Warren seinen Bruder zu rehabilitieren. Er sammelte Zeitungsausschnitte zur Lusitania-Katastrophe, nahm Kontakt zu Überlebenden auf und schrieb mehrere Petitionen an den Kongress sowie Briefe an Präsident Wilson. Genauso erfolglos versuchte er, mehr schlecht als recht die Farm zu bewirtschaften so gut es eben ging. Als die Wasserrechte im Central Valley unerschwinglich wurden, sah er sich gezwungen, im Jahre 1920 nach dem Tod seiner Mutter die Farm für einen Spottpreis zu verkaufen und sein Glück in San Francisco zu suchen.

 

***

»Was Neues?«, fragte Harvey kurz und knapp, als er wieder in der Einsatzzentrale auftauchte.

»Die Geiseln sind wieder im Gästehaus«, antwortete Georgina, ohne den Blick vom Monitor abzuwenden. »So wie es aussieht, sind die Frauen nicht mehr von den Männern getrennt. Ein Terrorist hält Wache auf dem Turm, die anderen und die zwei der Geiseln – wahrscheinlich die Kinder – sind im Haupthaus.«

»Und was hat die Befragung von Llorente ergeben?«, fragte Crain, der darauf Wert legte, dass alle Anwesenden über alles vollständig im Bilde waren.

»Nichts, was wir nicht auch schon wussten«, entgegnete Harvey. »Die Sicherheitsbestimmungen im Castle und im Besucherzentrum scheinen mehr als lausig zu sein. Wer hoch zum Schloss wollte, konnte sich ein Fahrzeug aus dem Fuhrpark nehmen. Dort gibt es keine Überwachungskameras. Niemand kontrollierte, ob er Blumenerde oder C4-Sprengstoff, Spaten oder Boden-Luft-Raketen beförderte. Momentan ruht er sich in einer Zelle aus.«

»Wir können doch nicht alle freigekommenen Geiseln einsperren!«, empörte sich Crain.

»Nicht alle Geiseln – aber alle, die beim Hearst Castle angestellt sind. Und zwar solange, bis wir wissen, wer den Terroristen geholfen hat«, konterte Harvey.

»Wer an diesem gut geplanten Anschlag beteiligt war, hat garantiert alle Beweise vorher vernichtet. Was soll die Haft da bringen?«

»Crain! Arbeiten Sie für das FBI oder für Amnesty International? Ich bekomme hier im Minutentakt Statusberichte auf meinen Blackberry.« Demonstrativ zückte Harvey das Gerät und las die Zeilen vor, während er nach unten scrollte: »Ausnahmezustand in Detroit, ein brennendes Gebetshaus in Tucson, ein Lynchmord in Oklahoma, nächtliche Ausgangssperre in Richmond, Elternhaus von Daniel Slatkin in Flammen aufgegangen und so weiter und sofort … Leiten Sie die Ermittlungen hier vor Ort, ich mache meinen Job und kümmere mich um die Homeland Security!«

»Gut«, gab Crain nach, »wir werden als nächstes den Busfahrer und den Fremdenführer überprüfen. Aber ich möchte, dass meine Leute die beiden Gefangenen noch einmal verhören.«

»Beide Gefangene?«, mischte sich Barbara Watts ein und erwähnte ganz beiläufig, »Fernando Llorente ist unser einziger Gefangener. Gina Hines hat sich heute Nacht in ihrer Zelle das Leben genommen.«

Entsetzt fuhr Georgina herum.

 

***

Zu ihrem siebten Geburtstag hatte Paula ein Tagebuch geschenkt bekommen. Aber schon damals hatte das süße, blonde Mädchen den Eindruck, dass der Alltag viel zu langweilig war, um schriftlich Tag für Tag festgehalten zu werden. Also fischte sie heimlich alte Tageszeitungen aus dem Mülleimer, schnitt Artikel aus und klebte sie in das Buch. Schon bald stand der rosafarbene, mit Blümchen und Kätzchen verzierte Einband im krassen Gegensatz zum Inhalt.

Gerade erst hatte sie Lesen und Schreiben gelernt, aber bereits im zarten Alter ergötzte sich die kleine unscheinbare Paula am Unglück anderer. Gleich hinter dem Deckblatt klebte ein Bericht über das Kind eines Farmers, das auf der elterlichen Farm von einem Traktor überrollt worden war. Es folgten Zeitungsausschnitte über Vergewaltigungen und Morde, aber auch die kleinen und großen Tragödien aus der Welt der Stars und Sternchen Hollywoods.

Shyboy123 antwortete nicht. Die Schmeißfliege wurde langsam wahnsinnig. '08:23 a.m. Lindypat: Hi, was geht ab? Melde Dich bitte! Miss U'.

Paula las die von ihr geschriebene Zeile immer und immer wieder. Wahrscheinlich wusste der Empfänger, dass die Nachricht nicht von Lindypat sein konnte. Sie musste sich etwas Neues überlegen. Ron Patterson war Annies zweiter Ehemann. Linda stammte aus ihrer ersten Ehe mit Frank Howard. Über Lindas Notebook hatte sie Zugang zu ihrem e-Mail-Account.

Linda hatte regen Kontakt mit ihrem leiblichen Vater – und das heimlich hinter dem Rücken ihrer Mutter. Durfte der Vater seine eigene Tochter nicht sehen? Was war gerichtlich vereinbart worden? Die Redaktion, für die Paula arbeitete, verfügte über eine Datenbank, in der alle Schmeißfliegen ihren Dreck abspeicherten. Schnell wurde sie fündig: Ja, die Scheidung Howard vs. Howard war vor Gericht verhandelt worden und Linda war als Zeugin geladen worden. Ihre Aussage erfolgte unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Dies konnte nur eines bedeuten: Der Vater hatte seine Tochter missbraucht oder misshandelt. Am Ende verfügte das Gericht, dass sich Frank Howard seiner Familie nicht mehr als einhundert Meter nähern durfte. Linda schien das egal gewesen zu sein. Das letzte Mal hatten sie sich vor drei Tagen in einem Fastfood-Restaurant getroffen. Die Schmeißfliege witterte einen riesigen Scheißhaufen, den es genauer zu untersuchen galt.

Frank Howard wohnte ebenfalls in Santa Barbara, wo er als Versicherungsmakler arbeitete. Seit der Scheidung von seiner Frau lebte er allein in einem Stadtviertel, das nicht gerade zu den teuersten zählte, während Annie durch die Heirat mit einem Arzt gesellschaftlich aufgestiegen war. Paula konnte davon ausgehen, dass Howard wusste, was seiner Tochter zugestoßen war und versuchte, ihn zu Hause anzutreffen.

»Lasst mich erst einmal alleine zu ihm gehen«, schlug das Miststück ihren Kollegen Terry und Alec vor, nachdem sie eine Seitenstraße weiter geparkt hatten.

Auf der Garageneinfahrt parkte ein Wagen. Aller Wahrscheinlichkeit nach war Frank Howard zu Hause. Wie würde er reagieren, wenn eine Frau an seine Tür klopfen würde? Auf dem Weg zum Haus entfernte sie ihre Haarspange, fuhr sich mit den Händen durch die nun mehr als schulterlang herabfallenden Haare und öffnete einen weiteren Knopf ihrer Bluse.

»Guten Morgen, Mr. How….«

»Lassen Sie mich in Ruhe!«, fuhr Howard sie an, kaum dass er die Tür geöffnet hatte. »Ich weiß, wer Sie sind. Ich habe ihre ekelhafte Reportage heute Morgen im Fernsehen gesehen. Schämen Sie sich!« Knallend fiel die Tür ins Schloss.

Trotz der offen getragenen Haare hatte er Paula sofort erkannt. Aber die Schmeißfliege wäre keine Schmeißfliege, wenn sie nicht penetrant ihr Ziel verfolgt hätte.

»Mr. Howard«, rief sie durch die geschlossene Tür, »Ihre Tochter Linda ist in großer Gefahr. Ich weiß über Sie und Ihre Tochter Bescheid und ich weiß, dass Sie Ihre Tochter regelmäßig treffen. Hat sie Ihnen von einer Internetbekanntschaft namens 'shyboy123' erzählt?« Bewusst sprach Paula lauter, als es nötig gewesen wäre, um hinter der Haustür verstanden zu werden. Die ganze Nachbarschaft sollte mitkriegen, was sie zu sagen hatte.

»Nichts wissen Sie! Gar nichts!« Blitzschnell hatte Frank die Haustür erneut geöffnet, Paula am Arm gepackt und ins Haus gezogen.

»Lassen Sie mich los! Sie tun mir weh!«

Sie blickte in das hasserfüllte Gesicht ihres Gegenübers. Dieser dachte gar nicht daran, diese aufdringliche Frau loszulassen. Stattdessen gruben sich seine Finger noch tiefer in das weiche Fleisch der Dreckschleuder, die sich schon über die sichtbaren Druckstellen freute, die dieser Übergriff hinterlassen würde.

»Ich hätte große Lust, Ihnen die Hände abzuhacken und Ihren Mund zuzunähen«, schrie Frank, »damit Sie aufhören, solchen verlogenen Dreck zu schreiben oder vor der Kamera zu sagen.«

Mit diesen Worten schleuderte der aufgebrachte Mann das Miststück quer durch das Zimmer in ein als Raumteiler aufgestelltes Holzregal, das daraufhin umkippte. Benommen rappelte Paula sich auf und betrachtete ihre Schürfwunden. Auf dem Arm deuteten sich die ersten roten Flecke an. Aber die Bitch setzte noch einen drauf: sie zerriss ihre Bluse. Zwei Knöpfe flogen quer durch den Raum.

»Frank, Sie beantworten jetzt meine Fragen, oder ich behaupte, Sie hätten versucht, mich zu vergewaltigen. Ein geschiedener Mann mit sexuellen Entzugserscheinungen – so was soll vorkommen ...«

Doch dieser blieb unbeeindruckt: »Machen Sie nur! Da steht Aussage gegen Aussage! Sie sind in mein Haus eingedrungen!«

»Nein, Sie haben mich hineingezogen. Draußen warten mein Kameramann und mein Tontechniker. Die haben alles aufgezeichnet. Sie haben sich vor drei Tagen mit Linda getroffen. Ich will wissen, was Sie mit ihr gemacht haben.«

Der Ärger in Frank Howards Gesichtszügen wich einer Verunsicherung. Als er mit der Antwort zögerte, zog Paula ihre weiße Hose herunter und schickte sich an, die Blümchenverzierung an ihrem hautfarbenen Tanga abzureißen.

»Linda fühlt sich zu älteren Männern hingezogen«, begann Frank, »mit gleichaltrigen Jungs kann sie nichts anfangen.«

»Verlust der Vaterfigur?«, hakte das Miststück nach, während es die Hose wieder hochzog und sich, ohne zu fragen, auf einem Sessel niederließ.

»Weiß der Teufel! Allüren eines Teenagers!« Frank Howard fühlte sich überrumpelt.

»Sind Sie shyboy123?«

»Wer soll das sein? Ich habe sie nicht angerührt. Glauben Sie, Linda würde sich mit mir treffen, wenn ich ihr etwas angetan hätte?«

»Vielleicht steht sie drauf«, mutmaßte Paula, während sie ihre Arme auf den Lehnen des Sessels ausstreckte, wodurch sich ihre zerrissene Bluse weit öffnete und den Blick auf einen knappen, schwarzen BH freigab.

Jetzt reichte es! Unbeeindruckt von dem eindeutigen Erpressungsversuch packte Frank das Miststück erneut am Arm, riss es nach oben und beförderte es mit Gewalt vor die Haustür. Paula stieß einen Schmerzensschrei hervor, als sie unsanft neben dem Mülleimer aufschlug. Als sie leicht benommen nach oben schaute, verdunkelte ein schwarzer Schatten die Sonne. Frank hatte sich den Mülleimer geschnappt und nun ergoss sich ein undefinierbares, streng riechendes Gemisch aus Verpackungsmüll, Gartenabfällen und Essensresten über die Schmeißfliege.

 

***

Im Fach unter dem Lenkrad des Busses hatte Jean Jacques Berson immer eine Bibel, in der er in den Pausen las, wenn ihm danach zumute war – und in letzter Zeit war ihm zunehmend häufiger danach zumute. Unter den Büchern, die Martin Frazer auf dem Boden neben dem Bücherregal stapelte, war J.J. fündig geworden. In diesen dunkelsten Stunden seines Lebens kauerte er in einer Ecke und war so in die Heilige Schrift versunken, dass er gar nicht mitbekam, wie die Tür geöffnet wurde.

Sie waren zu zweit. Einer richtete ein Gewehr auf die Geiseln, während der andere Plastikschüsseln und Einweglöffel auf den Boden warf, bevor er einen Topf mit schleimigem Haferbrei auf dem Tisch abstellte.

»Mein Sohn!«, schrie Henry Holford, »ich will meinen Sohn sehen! Was habt Ihr mit ihm gemacht!« Wie von Sinnen rannte der ehemalige Lehrer auf den Bewaffneten zu, der reflexartig den Lauf auf ihn richtete.

Dieses Ablenkungsmanöver war abgesprochen. Auf diesen Moment hatte Clive Osbourne gewartet. Er hatte sich hinter die Tür gestellt, nahm seinen Gegner in festen Schraubstockgriff und riss ihn zu Boden. Bei Henry's Versuch, dem Gegner das Gewehr zu entreißen, fiel es herunter und schlitterte über den Boden.

»JJ, nehmen Sie die Waffe!«, rief Clive Osbourne dem Busfahrer zu, der erschrocken und wie paralysiert aufblickte, während er die Waffe auf sich zukommen sah.

»Berson, verflucht, was machen Sie!« Osbournes Stimme klang angestrengt, während er die Kehle des Terroristen zudrückte.

Anstelle von Berson reagierte Martin Frazer, indem er quer durch den Raum auf die am Boden liegende Waffe zurannte, aber der zweite Terrorist war schneller. Anstatt seinem Komplizen zu helfen, war er mit zwei großen Schritten bei dem Gewehr, stellte seinen Fuß auf den Lauf, zückte ein Messer und bedrohte damit den näher kommenden Fremdenführer, der augenblicklich innehielt.  

Obwohl der Versuch der Überrumpelung gründlich gescheitert war, ließ Clive nicht locker und drückte auf den Kehlkopf des am Boden liegenden Terroristen. Für den ehemaligen Marine war es nicht das erste Mal, dass er einen Menschen tötete, aber eigentlich hatte er sich geschworen, dies nicht noch einmal in seinem Leben zu tun. Aber er dachte an das, was die Schweine ihm und den anderen Geiseln angetan hatten, die Steinigung, die Demütigungen, die Auspeitschungen. Das unter ihm war kein Mensch, das war ein Tier. Und so drückte er zu – immer fester. Bis er einen dumpfen Schlag in seinem Nacken spürte.

Mit dem Kolben eines Gewehres hatte Abdul Sahir einen gezielten Schlag in Clives Nacken ausgeführt. Nun stand er wie ein Großwildjäger neben seiner am Boden liegenden Beute, den einen Fuß auf seine Jagdtrophäe gestützt.

»Ihr Vollidioten!«, brüllte er seine Leute an. »Was habe ich Euch gesagt? Erst alle antreten lassen, bevor Ihr den Raum betretet!«

Röchelnd und hustend erhob sich der Gewürgte. Alle Geiseln befanden sich in Schockstarre. Abdul blickte sich um. Sein zweiter Kumpane hatte immer noch seinen Fuß auf dem am Boden liegenden Gewehr, sein Messer war auf Frazer gerichtet.

»Schon wieder Du!«, brüllte Abdul den Fremdenführer an. Dieser sagte nichts.

Als nächstes wandte er sich dem immer noch am Boden kauernden Busfahrer zu und entriss ihm das Buch. »Eine Bibel! Du Schwein liest in der Bibel?« Er spuckte in das geöffnete Buch, bevor er es zuklappte und quer durch den Raum warf.

Dann ging er weiter und blieb vor den Pattersons stehen. »Ihr wart heute morgen im Fernsehen«, meinte er mit spöttischem Unterton. »Eine Reportage über Eure Familiengeschichte. Du Hure hast Deinen Mann verlassen! Den Vater Deiner Tochter! Und dann hast Du diesen Schwulen geheiratet!«

Annie und Ron zitterten. Zu gerne hätten sie nach ihrer Tochter gefragt, aber sie wagten es nicht einmal zu atmen.

»Wisst Ihr, was man in islamischen Ländern mit Ehebrecherinnen und Schwulen macht?«

Ohne die Antwort, die von den beiden sowieso nicht kommen würde, abzuwarten, machte er weiter die Runde durch den Saal, bis er wieder vor Clive stand. Dieser stöhnte. Er war dabei, sich von dem Schlag zu erholen.

»Dich hier und jetzt zu töten, wäre zu gnädig.« Nacheinander deutete er auf Clive, Martin, JJ und Ron. »Zwei, die gerne Held spielen, ein Christ und ein Schwuler. Einer von Euch wird heute Abend bei Sonnenuntergang hingerichtet.«

 

Mit vierzehn Jahren kam Daniel zu der Überzeugung, dass es besser für ihn gewesen wäre, wenn die Slatkins ihn nicht adoptiert hätten. Im Nachhinein hatte er sich im Heim besser aufgehoben gefühlt, obwohl im dort der christliche Glauben mit Stockhieben eingebläut worden war. Im Heim hatte es verschiedene Möglichkeiten gegeben, sich den erzieherischen Maßnahmen zu entziehen. Die älteren Mitschüler nahmen einfach Reißaus, einige von ihnen für immer. Knaben in Daniels Alter nutzten die Möglichkeit, sich mit Reverend Sweeney anzufreunden. Dieser befriedigte sich selbst, wenn sich ein Junge in seiner Gegenwart auszog. Der zart gebaute Daniel avancierte zu seinem  Lieblingsspielzeug. Unter den Jungs war es kein Geheimnis, dass das Stehvermögen des Reverends in einem Zeugnis die Note ungenügend bekommen würde, weswegen er von Versuchen, mit einem der Knaben Verkehr zu haben, Abstand nahm. 

Die Slatkins waren nicht religiös, aber sie hatten ihren Sohn, der ganz zufällig auch Daniel hieß, durch einen tragischen Unfall verloren. Er war quasi Daniel II und musste ständig für Vergleiche mit Daniel I herhalten. Ein Unglück wie der Tod von Daniel I durfte sich nicht wiederholen. Maria Slatkin, seine Stiefmutter, beschützte ihn wie eine Glucke. 

»Könntet Ihr meine kleine Schwester Rhonda nicht auch adoptieren?«, hatte Daniel wieder und wieder gefragt.

»Das geht nicht«, hatte Maria stereotyp geantwortet, »wir wissen nicht, wo sie ist. Und ferner hast Du ja eine Schwester.«

Damit sprach sie das eigentliche Problem an, mit dem Daniel bei den Slatkins konfrontiert war. Adele war in Daniels Alter und geistig zurückgeblieben. Sie hauste in einer Kammer unter dem Dach, wo extra für sie eine Toilette und eine Waschgelegenheit eingebaut worden war. Die Mahlzeiten musste sie in ihrem Zimmer einnehmen. Nur zum Baden durfte Adele einmal in der Woche einen Stockwerk tiefer gehen. Seine Stiefeltern hielten ihre eigene Tochter vor der Öffentlichkeit verborgen wie eine Aussätzige.

»Sie ist jetzt Deine Schwester! Sei lieb zu ihr!«, trichterten die beiden ihrem Stiefsohn immer und immer wieder ein.

So allmählich registrierte Daniel, dass sie das 'Sei lieb zu ihr' wortwörtlich meinten. Adele konnte nur lallende, unartikulierte Laute ausstoßen, aber mit ihrer ungelenken Gestik brachte das vierzehnjährige Mädchen zum Ausdruck, dass sie begonnen hatte, sich nach ganz normalen, menschlichen Bedürfnissen zu sehnen.

»Du tust nichts Unrechtes«, sagte Maria, »ihr seid nicht blutsverwandt. Schau mal, wie schön ich sie für Dich zurechtgemacht habe!«

Sie hatte Adeles schulterlange, dunkelblonde Haare sorgfältig gekämmt, ihre Pickel mit Schminkpaste zugekleistert und ihr einen kurzen Rock und eine dünne Bluse angezogen, die sie extra für diesen Anlass gekauft hatte.

»Sie ist ein ganz liebes Mädchen«, sagte seine Stiefmutter, bevor sie das Zimmer verließ.

Alles was mit Mädchen und Vögeln zusammenhing, war unter den Jungs seiner Klasse das Topthema. Einige prahlten mit ihrer angeblich jahrelangen Erfahrung. Daniel konnte da nicht mithalten. Aber sollte er tatsächlich seiner Clique erzählen, dass er es mit seiner pummeligen, schwachsinnigen Stiefschwester getrieben hatte? Adele hatte ihren schielenden Blick seitlich nach unten gesenkt, während sie vor ihm stand. Sie schaute immer so. Ihre Halswirbelsäule war so verkrümmt, dass sie gar nicht geradeaus schauen konnte. So hatte er sich das erste Mal mit einem Mädchen nicht vorgestellt. Als sich Adele rückwärts aufs Bett fallen ließ, ihre Hand unter ihren Rock schob und noch lauter lallte als vorher, musste Daniel unwillkürlich an Reverend Sweeney denken.

Er zog sein Hemd aus und setzte sich auf die Bettkante. Mit der freien Hand begann Adele über seine Brust zu streichen. Er schloss die Augen und versuchte, das ständige Lallen auszublenden. Letzteres gelang ihm nur unvollständig, aber dennoch kamen ihm ihre Berührungen keineswegs unangenehm vor.

Ein Geräusch ließ ihn die Augen wieder öffnen. Adele hatte sich die neue Bluse aufgerissen und ihre kleinen Brüste freigelegt. Der Anblick erinnerte ihn an den fetten Nick aus seiner Klasse. Der hatte genau solche Brüste, weswegen er sich immer im Umkleideraum der Sporthalle genierte. Dennoch berührte Daniel ihre Brustwarzen, was Adeles Lallen noch verstärkte. Mit einem kräftigen Griff packte sie seine Hand und führte sie unter ihren Rock.

An jenem Tag blieb es dabei. Aber es sollte nicht bei diesem einen Mal bleiben. Von nun an musste Daniel seiner Stiefschwester in der Badewanne Gesellschaft leisten. Seine Stiefmutter meinte, er würde sich sehr ungeschickt anstellen, und scheute sich nicht, ihm ein paar Handgriffe an ihrem eigenen Körper zu zeigen. Adele stand bei ihr an erster Stelle. Sie sollte glücklich sein. Immer wieder betonte sie, dass Adele in Daniels Gegenwart Glücksgefühle entwickelte, es nur nicht zum Ausdruck bringen konnte. Daniel II war nur das Mittel zum Zweck. Erst viel später fand er heraus, dass die Slatkins all diese Intimitäten mit zwei hinter der Holzwand versteckten Videokameras aus zwei verschiedenen Blickwinkeln heimlich filmten.

 

»Der Bastard hat sein eigenes Elternhaus hochgejagt«, fasste Ethan Crawford die neuesten Erkenntnisse zusammen.

»Das Haus seiner Stiefeltern, um genau zu sein. Ich dachte, das hätten aufgebrachte Wutbürger angezündet«, meinte Barbara Watts verwundert.

»So stand es zuerst in den Nachrichtenportalen. Aber so wie es aussieht, hat er Sprengfallen angebracht. Gestern wollten unsere Leute das Haus durchsuchen und … bumm«. Ethan malte mit den Fingern einen kleinen Atompilz in die Luft.

»Wie viel Tote?«, fragte Director Crain, der sich auch für diese Leute verantwortlich fühlte.

»Unsere Leute sind Profis«, sagte Ethan selbstsicher. »Sie haben die Sprengfallen rechtzeitig erkannt und konnten sich zurückziehen. Als sie nach dem Feuerwehreinsatz das Haus durchsuchten, fanden sie drei Leichen – was nicht verkohlt war, war bereits verwest. Wahrscheinlich seine Stiefeltern und eine weitere, bisher nicht identifizierte Person – eine junge Frau.«

»Auslöschung des familiären Umfelds! Das würde vom Psychoprofil her zu ihm passen«, sagte Barbara Watts.

»Wir haben jetzt die Bestätigung.« Georgina las die Informationen von einem ihrer Monitore laut vor. »Lamin Jammeh ist einer von Slatkins Helfern. Er war auch derjenige, der Moira Marnell den Kopf abgetrennt hat. Die erkennungsdienstliche Auswertung der Videobilder ist eindeutig.«

»Und was ist mit den beiden anderen?«, hakte Director Crain sofort nach.

»Deren Gesichter sind auf den Videobildern nicht so eindeutig zu erkennen. Die Kollegen in Quantico vermuten aber, dass es sich um Muhamed Said und Sanel Abdulla handelt. Mit denen hatte Slatkin in den letzten Tagen mehrfach Kontakt.«

»Egal wer die Leute da oben sind«, fuhr Barbara Watts dazwischen, »das Unerträgliche ist die Funkstille. Sie wollen gar nicht verhandeln.«

»Mit Räubern, die in einer Bank Geiseln genommen haben, können Sie verhandeln«, meinte Morris, »aber die Ziegenficker wissen ganz genau, dass die Regierung nicht mit Terroristen verhandelt. Und spätestens seit der Steinigung ist auch denen klar, dass sie da oben nicht mehr lebend wegkommen.«

»Heute Nacht geht der Spuk sowieso zu Ende«, sagte Austin Harvey und blickte in verdutzte Gesichter. »Der Präsident hat gerade den Befehl zur Stürmung gegeben. Nach Einbruch der Dunkelheit wird eine Drohne den Wächter auf dem Turm ausschalten, danach stürmt eine Spezialeinheit ausgerüstet mit Nachtsichtgeräten das Schloss. Sollte diese Operation scheitern, erledigt eine zweite Drohne den Rest.«

»Und was ist mit den Geiseln?«, fragte Georgina.

»Was soll mit denen sein?« Harvey zuckte mit den Schultern. »Werden Sie nicht sentimental! Wenn wir nichts unternehmen, sind sie so gut wie tot. «

»So wie Gina Hines?«, platzte es aus Georgina heraus.

»Kümmern Sie sich gefälligst um Ihre Arbeit!«, herrschte Harvey Sie an. »Zwei Beschäftigte des Hearst Castles sind noch oben als Geiseln – der Busfahrer und der Fremdenführer. Einer von denen könnte ein Helfer der Geiselnehmer sein. Finden Sie es heraus! Und zwar heute noch!«

Zusammen mit seiner Kollegin Barbara verließ ein wütender Austin Harvey die mobile Einsatzzentrale.

»Was sollte das denn?«, fragte Crain sichtlich verärgert. Seit Beginn der Geiselnahme war er stets um ein gutes Verhältnis zwischen der Homeland Security und seiner Behörde bemüht.

»Director Crain, ich muss Sie sprechen«, entgegnete Georgina selbstsicher, »unter vier Augen.«

»Stephen! Ethan! Wie wäre es, wenn Sie mal frische Luft schnappen?«

Die beiden Angesprochenen verstanden ihren Vorgesetzten.

»Ich höre!«, sagte Crain, als er mit Georgina May allein im Raum war.

»Ich war gestern Nacht ebenfalls kurz Luft schnappen – ich hielt mich zwischen unserem Truck und dem Container mit den Verhörräumen und Zellen auf. Ich habe mitbekommen, wie Barbara Watts Gina Hines verhört hat. Sofern man das ein Verhör nennen kann.«

»Ja, die Kollegen von der Homeland Security sind da nicht zimperlich«, versuchte Crain dies zu rechtfertigen.

»Nicht zimperlich? Ich glaube, Gina Hines wurde gefoltert! Sie hat laut geschrien und gerufen, dass Sie keine Spritze mehr will. Sie wurde gegen ihren Willen sediert.«

»Wie konnten Sie das sehen?«

»Gesehen habe ich gar nichts. Aber ich weiß, was ich gehört habe. Vorhin erwähnte diese gefühlskalte Watts so ganz nebenbei, dass Gina Hines sich in ihrer Zelle das Leben genommen hat.«

»Ihr Ex-Mann ist Moslem. Diese Tatsache hat sie bei der Einstellung verschwiegen.«

»Na und! Reicht das schon aus, um eine Frau zu foltern? Drehen in diesem Land jetzt alle durch?«

Crain atmete tief durch. »Georgina, ich danke Ihnen. Ich werde eine Obduktion von Ms. Hines veranlassen. Aber bis dahin kein Wort zu irgend jemandem! Verstanden?«

Georgina nickte, während Crain ebenfalls die Einsatzzentrale verließ.

»Kein Wort zu irgend jemandem ….«, wiederholte sie leise vor sich hin murmelnd, »Klar doch!«

»Sie können wieder rein«, raunzte der Director Morris und Crawford im Vorbeigehen zu. Mit eiligen Schritten ging er zum Truck mit dem Anhänger, der die Zellen und den Vernehmungsraum enthielt. Hier vermutete er die Kollegen von der Homeland Security. Er vermutete richtig.

»Und?«, fragte ihn Harvey wissbegierig.

»Die Schwarze müssen wir im Auge behalten«, flüsterte Crain verschwörerisch.

 

***

An ihrem neunten Geburtstag wurde Paula stolze Besitzerin einer Polaroid-Kamera. Die Bilder wurden sofort entwickelt – eine Sensation in einer Zeit vor dem Siegeszug von Digitalkameras und Smartphones. Die Kamera wurde ein ständiger Begleiter der angehenden Jungreporterin und bereits eine Woche, nachdem sie das Gerät ausgepackt und ihrem Vater um den Hals gefallen war, kamen sie und ihre Eltern während eines Sonntagsausfluges an einer Unfallstelle vorbei. Während die gaffenden Eltern abgelenkt waren, bemerkten sie nicht, wie die kleine Paula die hintere Seitenscheibe herunterkurbelte und mit ihrer Kamera gnadenlos draufhielt. Nur ein Foto konnte sie im Vorbeifahren schießen, aber das hatte es in sich: Eines der Unfallfahrzeuge stand in Flammen und darin verbrannte ein Mensch. Dieses Bild bekam einen Ehrenplatz in Paulas Album.

Mit heruntergelassenem Seitenfenster hatte Terry Denton das nach Abfall und Dreck stinkende Miststück zu ihrem Haus gefahren. Wütend pfefferte sie ihre gesamte Kleidung in die Wäschetrommel und wählte das Intensivprogramm. In ihren Haaren und zwischen ihren Brüsten klebte halbverfaulte Spaghetti-Bolognese. Aus ihrem linken Ohr pulte sie ein Stück vergammelten Thunfisch. Eine gefühlte halbe Stunde stand sie unter der Dusche, zum wiederholten Male seifte sie sich ein, spülte den Schaum ab, um anschließend erneut an sich zu riechen. Sie rümpfte die Nase.

»Na warte, Du blöder Wichser, Dich mache ich fertig!«, fluchte sie an Frank Howard gerichtet, auch wenn dieser sie natürlich nicht hören konnte.

Es gehörte zu ihrem Arbeitsalltag, beschimpft, bespuckt und einmal sogar mit Steinen beworfen zu werden. Dies bestätigte sie darin, dass sie ihren Job – sofern man ihre parasitische Lebensweise so bezeichnen konnte – richtig machte. Aber das! Noch nie war sie so gedemütigt worden! Egal, ob die junge Linda das Massaker im Hearst Castle überleben würde oder nicht, sie nahm sich fest vor, ihren Vater mit Dreck zu bewerfen. So wie er es mit ihr gemacht hatte. Sie würde recherchieren und zur Not etwas erfinden.

Nachdem sie die Duschkabine verlassen und sich ausgiebig mit einem besonders penetrant riechenden Deo eingenebelt hatte, fiel ihr Blick durch die offene Badezimmertür auf den Schreibtisch, auf den sie Lindas Notebook gelegt hatte. Am unteren Rand blinkte ein rotes LED-Signal.

Splitterfasernackt eilte Paula zum Schreibtisch und klappte den Bildschirm hoch. Shyboy123 war online und hatte ihr geantwortet.

Unter: '08:23 a.m. Lindypat: Hi, was geht ab? Melde Dich bitte! Miss U'.

stand: '01:02 p.m. Shyboy123: 'Du bist nicht Linda! Bist du die Polizei?'

Diese acht Worte machten der Schmeißfliege so einiges klar. Erstens wusste Shyboy123, dass Lindypat Linda hieß und zweitens war ihm bekannt, wo und in welcher Lage sich Linda befand. Aber was sollte sie antworten? Ihr musste etwas einfallen und zwar schnell. Shyboy123 hatte die Nachricht bereits vor zehn Minuten abgeschickt. Unter der Dusche hatte sie den Ping, der den Eingang akustisch signalisiert hatte, nicht gehört.

'01:13 p.m. Lindypat: Nein, ich bin nicht die Polizei'

Sekunden später erschien ein Häkchen neben ihrer Antwort. Shyboy123 hatte die Nachricht gelesen. Paulas Puls raste.

'01:14 p.m. Shyboy123: das sehe ich :=) LOL'

Beim Denken war die Schmeißfliege nicht die schnellste und so brauchte sie eine Weile, bis sie den Sinn dieser Antwort kapierte. Über der Mitte des Bildschirms leuchtete die Bereitschaftsanzeige der Webcam. Während Shyboy123 seine Webcam ausgeschaltet hatte, sendete die Kamera von Lindas Notebook ein Videosignal – und sie war nackt! Mit ihrem Daumen verdeckte sie das winzige elektronische Auge.

'01:15 p.m. Shyboy123: zu spät! ich kenne dich vom fernsehen, paula webber!'

Hektisch suchte sie nach einer Möglichkeit, die Webcam abzuschalten, ohne dabei den Daumen von der Kamera zu nehmen. Sie war ja nicht prüde, aber sie wusste auch, dass man den Bildschirm oder Teile davon aufnehmen und wie ein Video abspeichern konnte. Wenn sie so etwas bei anderen Leuten machte, war das ja okay. Aber sie wollte auf keinen Fall das Opfer einer fiesen Cyperspionage werden. Schließlich fand sie unter 'Einstellungen' den Menüpunkt 'Webcam ein/ausschalten'.

'01:16 p.m. Shyboy123: na, paula! sprachlos?'

'01:16 p.m. Lindypat: nein', beeilte sie sich zu antworten.

'01:17 p.m. Shyboy123: morgen mittag in san miguel indian valley road 100 m nördlich abzweigung cross canyons road wenn du infos zu linda willst.'

'01:17 p.m. Lindypat: was für infos?'

'01:18 p.m. Shyboy123: du wirst sehen. komm alleine oder bleib weg.'

Unmittelbar danach ging Shyboy123 offline und ließ ein ratlose Paula zurück. Diese streifte sich erst einmal ein Hemd über, bevor sie sich erneut vor den Bildschirm setzte und sich die Abfolge der Nachrichten wieder und wieder durchlas. Shyboy123 hatte ihre Neugier geweckt. Sie würde kommen, das wusste er nur zu genau. Beängstigend war nur, dass sie allein kommen sollte.

 

***

Im Jahre 1917, zwei Jahre nach dem Untergang der Lusitania, hatte Präsident Wilson die USA schließlich doch in den Ersten Weltkrieg geführt, die Schaffung eines Völkerbundes proklamiert und zwei Jahre später den Friedensnobelpreis bekommen. Auf Warrens Briefe hatte er nicht geantwortet. Hatte er sie überhaupt gelesen?

Im Jahr 1920, als Warren Boyle sich in San Francisco niederließ, um dort als Zimmerdiener im Palace Hotel zu arbeiteten, plante auch ein anderer Mann namens Warren einen Umzug. Der Republikaner Warren G. Harding war zum Nachfolger Wilsons ins Präsidentenamt gewählt worden.

Harding war in vieler Hinsicht das Gegenteil seines Amtsvorgängers. Nicht nur, dass er Republikaner war. Er war bekennender Freimaurer und die Klatschpresse munkelte etwas über außereheliche Beziehungen. Würde so einer eher die Bettelbriefe eines kleinen Hotelangestellten aus San Francisco lesen? Wohl kaum! Warren Boyles Verbitterung nahm von Jahr zu Jahr zu. Daran konnte auch die Liebschaft mit Eleonore Carter, die ebenfalls im Palace Hotel arbeitete, nichts ändern.

1923 wuchs in Warren Boyle eine vage Hoffnung, als Präsident Harding nach San Francisco kam und just im Palace Hotel abstieg. Der Präsident musste das Bett hüten, denn schon bei seiner Ankunft in San Francisco plagte ihn eine Übelkeit. Die Ärzte vermuteten, dass er sich eine Lebensmittelvergiftung zugezogen hatte. Ein gesamtes Stockwerk des Palace Hotels war reserviert und außer den Ärzten und Leibwächtern durften nur einige ausgesuchte Bedienstete des Hotels den Präsidententrakt betreten – einer davon war Warren Boyle. Eine Kanne Schwarztee, ein Glas Milch und zwei Toasts mit Butter waren geordert worden.

»Mr. President, ich habe Ihrem Amtsvorgänger Wilson und auch Ihnen schon mehrfach Briefe geschrieben, aber leider niemals eine Antwort bekommen.«

»Worum geht es denn?«

»Mein Bruder Leonard Boyle war auf der Lusitania. Er überlebte den Untergang, wurde aber beschuldigt, einen Agenten mit einer deutschen Armeepistole erschossen zu haben, bevor er selbst unter ungeklärten Umständen ums Leben kam.«

In Gedanken hatte Warren diesen oder einen ähnlichen Beginn der Konversation mehrfach durchgespielt. Jetzt bekam er weiche Knie, als er mit einem Servierwagen den Gang entlangfuhr. Dreimal musste er an der Tür zur Suite klopfen, ehe ein Sicherheitsbeamter ihn einließ. In der damaligen Zeit kannten Normalbürger wie Warren Boyle ihren Präsidenten nur von Bildern, die in Zeitungen abgedruckt wurden. Das Fernsehen war noch nicht weit verbreitet, denn die Übertragungstechnik steckte noch in den Kinderschuhen. Bewegte Bilder sah man allenfalls in den Wochenschauen der Kinos.

Beinahe hätte Warren den Präsidenten nicht erkannt. Sein Gesicht war eingefallen und aschfahl. Auch die dunklen Augenbrauen, die auf allen Fotos einen deutlichen Kontrast zu Hardings weißem Haar bildeten, wirkten schütter und grau. Bei diesem Anblick verwarf er jeden Gedanken, den Präsidenten auf die Briefe anzusprechen. Stattdessen war er bemüht, sich seine Bestürzung über das Aussehen des bettlägrigen Präsidenten nicht anmerken zu lassen und nickte devot, bevor er die georderten Getränke und Speisen auf den Tisch stellte. Danach schickte er sich an, dieser peinlichen Situation zu entkommen und den Raum so schnell wie möglich wieder zu verlassen.

»Sie sind Warren Boyle, nicht wahr?«

Warren zuckte zusammen. Der Servierwagen schrammte am Edelholz des Türrahmens entlang. Er drehte sich um. Der Präsident hatte ihn angesprochen! Aber seine Stimme klang müde und krank. Harding war bekannt dafür, dass er Beschwerdebriefe von Bürgern selbst las, aber das hatte Warren Boyle nicht im Traum zu hoffen gewagt.

»Ja?« Warren spürte den Kloß in seinem Hals.

»Leonard Boyle, Ihr Bruder, was war das für ein Mensch?« Harding machte eine schwache Handbewegung, um anzudeuten, dass Warren sich auf einen freien Stuhl neben seinem Bett setzen sollte.

Doch dieser war viel zu nervös. »Ich weiß nicht, Mr. President«, stotterte er, »ich war sechzehn als er starb. Aber ich kann und will nicht glauben, dass er ein Verräter war.«

»Mr. Boyle, ich werde genau untersuchen lassen, was an jenem 7. Mai vor acht Jahren geschehen ist. Ihr Bruder war im Auftrag der Regierung unterwegs. Ich werde Sie über die Ergebnisse der Untersuchung unterrichten – aber nur unter einer Bedingung.«

Harding hob langsam die rechte Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger empor, bevor er weitersprach: »Lassen Sie die Vergangenheit ruhen. Meine Regierung ist gerne bereit, Sie für den Verlust ihres Bruders finanziell zu entschädigen.«

»Ich danke Ihnen, Mr. President.«

Warren Boyle spürte kalten Schweiß auf seiner Stirn. Er wollte nur noch raus aus dieser Suite. In den vergangenen Tagen überschlugen sich Zeitungsmeldungen, wonach Mitglieder von Hardings Regierung in Korruptionsaffären verstrickt waren. Und jetzt hatte der Präsident persönlich ihm eine Entschädigung für seinen toten Bruder angeboten! Seine Gedanken fuhren Achterbahn, aber eines wurde ihm nun klar: seine Briefe hatten etwas bewirkt. Sie hatten sogar den Präsidenten nervös gemacht.

Harding hätte nichts sagen müssen. Boyle hätte den Tee, die Milch und den Toast auf den Tisch gestellt und wäre gegangen. Aber Harding hatte ihn gezielt auf seinen Bruder angesprochen. Leonard war im Auftrag der Regierung unterwegs gewesen. So eindeutig hatte das vorher noch niemand formuliert. Nun musste er an der Sache dran bleiben. Das Geld war ihm scheißegal. Er würde weiter Briefe schreiben, weiter im Wespennest stochern, Journalisten auf seinen toten Bruder aufmerksam machen. Jetzt erst recht!

Nur wenige Stunden nach diesem kurzen Gespräch mit dem Präsidenten erlitten Warren Boyles Pläne einen herben Rückschlag. An diesem Abend verstarb Warren G. Harding. Ein Schlaganfall wurde offiziell als Todesursache genannt. Da seine Witwe sich vehement gegen eine Obduktion wehrte, schossen Verschwörungstheorien wie Pilze aus dem Boden. Harding gehörte zur Freimaurer-Loge. Andere bezichtigten ihn der Mitgliedschaft im Ku-Klux-Klan.

Warren Boyle war der Letzte gewesen, der nicht zum Mitarbeiterstab des Präsidenten zählte und Harding lebend gesehen hatte. Schnell geriet er ins Visier der Ermittler, als sie einen von Boyles Briefen in Hardings Unterlagen fanden. Der Inhalt machte ihn verdächtig. Eine ganze Nacht lang wurde er verhört. Der Tee und die Milch wurden auf Giftstoffe untersucht. Ohne Ergebnis.

Seinen Job im Pallace Hotel war er los – obwohl er unschuldig war. Sein Neustart an der Westküste war missglückt. Hatte am Ende Hardings plötzlicher Tod mit Leonard Boyle und der Lusitania-Affäre zu tun? Sollte ihn das Drama um seinen toten Bruder ein Leben lang verfolgen?

 

***

Heute Vormittag waren die Terroristen um ein Haar von Geiseln überrumpelt worden. Dies sollte sich nicht wiederholen. Diesmal kamen sie zu dritt. Lautlos schlichen sie zur Tür des Raumes, in dem sie die restlichen Geiseln gefangen hielten. Sie lauschten an der Tür. Alles war ruhig. Sie nickten sich zu. Dann ging alles ganz schnell.

»In die Ecke! Los!«, schrie Abdul, nachdem sie die Tür aufgerissen hatten. »Los, runter auf den Boden, Ihr Hunde!«

Eine Peitsche knallte durch die Luft, Lynn Holford und Martin Frazer stolperten über die auf dem Boden verstreuten Bücher, Annie Patterson kreischte in Panik und Clive Osbourne erhob sich nur langsam von der Couch, auf der er sich nach dem kräftigen Schlag hingelegt hatte. Sein Kopf dröhnte.

Martin Frazer kam nicht mehr dazu, sich wieder aufzurichten. Einer von Abduls Helfern packte ihn am Hosenbein, schleifte ihn über den Boden zur Tür, wo ihm der Zweite die Hände mit Kabelbinder hinter dem Rücken fixierte.

»Ihn dort! Den Christenhund!« Abdul deutete auf Jean Jacques Berson.

Sofort stürzten sich die beiden Bluthunde auf den Busfahrer, der immer noch apathisch in der Ecke kauerte. Sekunden später lag auch er als verschnürtes Bündel neben Frazer.

»Und jetzt noch das schwule Schwein!«

»Nein!«, schrie Annie, »Nein, nicht Ron!« Verzweifelt versuchte sie ihrem Mann zu Hilfe zu kommen, als dieser ebenfalls gepackt und fortgezogen wurde. Dafür kassierte sie einen Schlag ins Gesicht sowie einen Tritt in den Bauch, als sie am Boden lag.

Anschließend wurden die drei menschlichen Pakete aus dem Raum gezogen. Nicht einmal eine Minute hatte diese Aktion gedauert. Die Tür fiel ins Schloss und wurde zweimal von außen verriegelt. Clive Osbourne, Randy Stephens und Henry Holford blieben mit den beiden Frauen zurück. Die Wände waren dünn genug, damit Ron Pattersons animalisch klingende Schreie zu ihnen durchdringen konnten.

Annie geriet in eine Art Schockzustand. Sie presste ihre flachen Hände gegen ihre Ohren, als würde ihr Mann da draußen dann aufhören zu schreien. Sie zitterte am ganzen Leib. Vergeblich versuchte Lynn Holford sie zu beruhigen.

»Verdammt!«, fluchte Clive Osbourne, »jetzt sind wir zu wenige! Wenn nicht bald die Marines das Castle stürmen, dann sind wir verloren.«

 

»Ich frage mich eigentlich, wozu ich noch hier bin!«, empörte sich Barbara Watts.

Ihre Verärgerung war nicht ganz unberechtigt. Als Psychologin im Dienst der Homeland Security war sie speziell ausgebildet, um mit Gewalttätern und Geiselnehmern zu verhandeln. Verhandlungen aber setzte Kommunikation voraus. Und genau diese fand in diesem Fall nicht statt. Die Geiselnehmer hatten zu Anfang genau einmal ihre Forderungen in Form einer Videobotschaft in die Welt hinaus geschrien. Seitdem herrschte Funkstille. Sie versuchten nicht einmal, nachzufragen, ob man denn gewillt sei, die Forderungen zu erfüllen und wann.

Oben im Schloss gab es mehrere Telefone, die natürlich längst überwacht wurden. Nicht ein einziger Anruf war von dort aus getätigt worden. Die Nummer des Besucherzentrums hing neben jedem der Apparate. Dieser Anschluss war direkt in die mobile Einsatzzentrale umgeleitet worden. Aber das Telefon blieb stumm. Umgekehrt nahm niemand oben im Schloss ab, wenn Barbara dort anrief.

»Heuchlerin!«, dachte Georgina nach Barbaras Ausruf.

Seit sie Director Crain anvertraut hatte, was sie in der Nacht zuvor zufällig gehört hatte, fiel es ihr schwer, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Hinzu kam das Schlafdefizit. Sie war sich sicher, dass diese Psychotante Gina Hines auf dem Gewissen hatte. Sie hatte sie wohl nicht mit Absicht umgebracht, aber sie hatte ihr gegen ihren Willen eine Spritze verpasst. An Selbstmord glaubte Georgina jedenfalls nicht.

Ständig behielt sie den Monitor im Auge, der mit den Daten aus der Satellitenüberwachung gefüttert wurde. Mittlerweile hatte sie alle vier Geiselnehmer rot markiert. Die gelben Punkte waren demnach die Geiseln.

An einem der anderen Monitore recherchierte sie über die Mitarbeiter des Hearst Castles. JJ Berson und Martin Frazer waren noch in der Gewalt der Geiselnehmer. Sie hatte entschieden, sich als Nächstes den Busfahrer vorzunehmen.

»Interessant!«, begann Georgina die Ergebnisse ihrer Recherchen zu kommentieren, »Jean Jacques Berson hat ein dickes Vorstrafenregister. Er begann als Teenager mit Ladendiebstählen und Drogendelikten und endete vor drei Jahren mit einem bewaffneten Raubüberfall mit Geiselnahme. Er hat einen Deal mit der Staatsanwalt geschlossen und gegen seine Mittäter ausgesagt. Deshalb ist er schon wieder auf freiem Fuß.«

»Das ist er!«, rief Crawford.

»Allerdings hat er sich zum Christentum bekannt. Ein Tattoo am Unterarm hat er so verändert, dass es wie ein Kreuz aussieht. Er ist aktives Mitglied der Episkopalen Auferstehungsgemeinde.«

»Streng religiös!«, kommentierte Morris, »Dass ich nicht lache! Das kann Tarnung sein!«

»Im Gefängnis saß er jedenfalls im selben Trakt wie Muhamed Said«, bekräftige Georgina, »von dem wir immer noch nicht sicher wissen, ob er einer von Slatkins Helfern oben im Castle ist.«

»Wir sollten Fernando Llorente dazu befragen«, schlug Crawford vor. »Er kennt seine Kollegen und kann uns sagen, wie sich Berson nach der Geiselnahme verhalten hat und ob die Geiselnehmer ihn bevorzugt behandelt haben.«

»Den nimmt Harvey gerade in die Mangel«, bestätigte Director Crain.

»Na hoffentlich überlebt er das«, dachte Georgina und rief im nächsten Moment: »Im Castle tut sich was. Mehrere Personen sind auf dem Turm, darunter auch zwei der Geiseln!«

 

Ron Patterson wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich ohnmächtig zu werden. Seine Peiniger hatten ihn auf einen der Türme des Hearst Castles gezerrt. Die Schürfwunden, die er sich dabei auf den engen Steintreppen zugezogen hatte, brannten höllisch. Aber anstatt sein Bewusstsein zu verlieren, begann er zu hyperventilieren. Panik ergriff ihn, denn ihm war klar, was diese Barbaren mit ihm vorhatten. Er stand in einer der bogenförmigen Öffnungen nahe der Spitze des achteckigen Turmes.

Vor einigen Wochen war ein Video im Internet verbreitet worden, das zeigte, wie Kämpfer des sogenannten Islamischen Staates in der Stadt Mossul gefesselte Männer, die angeblich schwul waren, lebend von einem hohen Gebäude hinuntergeworfen hatten. Mit Abscheu war in Chatrooms, in denen sich Homosexuelle austauschten, darüber diskutiert worden. Aber Mossul war weit weg. Nicht im Traum hatte Ron daran gedacht, dass ihm so etwas in den USA drohen könnte.

Ja, er hatte vor Jahren eine kurze Beziehung mit einem anderen Mann, Annie aber nichts davon erzählt. Er war zum anderen Flussufer gerudert und hatte diese Grenze einmal ausgelotet und war anschließend wieder zurückgerudert. Was war schon dabei? Es war vor ihrer Zeit. Sie war völlig ahnungslos, als er sie zum Traualtar geführt hatte. Für sie sollte es ein neuer Anfang sein. Eine neue Familie für Linda. In letzter Zeit ging es mit ihrer jungen Ehe schon wieder bergab. Vor einigen Monaten hatte irgendjemand Gerüchte über seine angeblich homophilen Neigungen in seinem Bekanntenkreis gestreut. Aber wer?

Jetzt wurde er von diesen Unmenschen beschuldigt, schwul zu sein. Und das war sein Todesurteil. Seine Gedanken fuhren Achterbahn. War das die Situation, wo das eigene Leben an einem vorüberzieht, bevor man stirbt? Ron konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er spürte, wie seine weichen Knie nachgaben. Umfallen konnte er nicht. Einer der Terroristen hatte den Kragen seines orangenen Sträflingshemdes fest im Griff.

»Damit Du es weißt – ich habe Dich vom ersten Tag an gehasst!«

Ron drehte sich zur Seite. Das war Lindas Stimme! Er traute seinen Augen nicht. Seit Beginn der Geiselnahme hatte er seine Stieftochter nicht mehr gesehen. Und was hatte sie an? Linda trug nicht die orangene Häftlingskleidung. Sie trug ein blaues Gewand, das bis zum Boden reichte, und einen schwarzen, mit Goldrand verzierten Schleier.

»Linda, was haben Sie mit Dir gemacht?«

»Seit wann interessiert Dich das? Frag mal lieber, was Du mit meiner Mutter gemacht hast, Du perverses Schwein!«

Verächtlich spuckte Linda ihrem Stiefvater ins Gesicht.

»Das reicht jetzt!«, entschied Abdul Sahir, der hinter ihnen stand.

Er bückte sich und riss Ron Pattersons Beine hoch, während sein Helfer den Delinquenten immer noch am Kragen hielt. Mit einem Schwung warfen sie Ron Patterson aus der Turmluke. Instinktiv versuchte er, mit den Armen zu rudern. Diese waren jedoch hinter seinem Rücken verschnürt. Er stieß einen langgezogenen, gellenden Todesschrei aus, bis er auf das Geländer der Plattform auf halber Turmhöhe prallte. Erst jetzt verlor er das Bewusstsein. Der Todesschrei verstummte. Sein Körper überschlug sich und fiel über das Geländer. Sein Schädel zerplatzte auf dem Vorplatz neben dem Haupteingang des Schlosses.

Linda lächelte, als sie sich nach vorne beugte und in die Tiefe blickte.

»Komm jetzt!«, befahl Abdul.

Linda gehorchte wortlos.

 

»Oh mein Gott!«, schrie Georgina, »die haben gerade eine Geisel vom Turm heruntergeworfen!« Entsetzt schlug sie ihre Hände vors Gesicht.

»Wieso jetzt?«, fragte Morris, »Es sind noch vier Stunden bis zum Sonnenuntergang!«

»Was ist mit der zweiten Geisel auf dem Turm?«, wollte Crawford wissen.

»Sie führen sie wieder herunter«, kommentierte Georgina das, was sie auf dem Monitor erkennen konnte. »Sie musste alles mitansehen!«

»Dann wird dies das nächste Opfer sein«, orakelte Crain.

»Wer von den Geiseln ist schwul?«, fragte Barbara Watts dazwischen.

»Warum?«

»Islamisten köpfen Schwule nicht. Sie werfen sie wie Müll einfach von Hochhäusern und Türmen hinunter.«

»Ron Patterson, der Arzt, ist homosexuell«, stellte Crawford fest, »das kam heute Morgen in der Reportage im Fernsehen.«

»Diese verfluchte Boulevard-Journaille!«, brauste Morris auf. »Dieses Miststück von Reporterin hat den Mann auf dem Gewissen. Sie sollten wir an die Ziegenficker ausliefern!«

»Stephen, bitte!«, ermahnte Georgina ihren Kollegen wegen seiner Wortwahl, während sie versuchte, näher heranzuzoomen.

Aber mehr gaben die Satellitenbilder nicht her. Das immer stärker verpixelte Bild zeigte, dass am Fuße des Turms ein regloser Körper lag. Um wen es sich dabei handelte, war nicht auszumachen. Georgina glaubte, eine Blutlache zu erkennen. Nun näherte sich eine Gestalt der Leiche. Sie war rot markiert. Es handelte sich also um einen der Terroristen. Die Person hielt etwas vor ihr Gesicht, als sie um den am Boden liegenden Körper ging.

»Ich fürchte, demnächst wird das nächste Schockvideo veröffentlicht«, kommentierte Georgina.

 

***

Im Alter von elf Jahren war es unübersehbar, dass Paula die vorstehende Nase ihres Vaters und den verkürzten Unterkiefer ihrer Mutter geerbt hatte. Nach dem Zahnwechsel verunstaltete ein Pferdegebiss ihr Gesicht, sobald sie den Mund aufmachte. Die Zahnspange diente mehr der Schadensbegrenzung als der Schönheitskorrektur.

Mittlerweile hatte sie sieben dieser niedlichen Poesiealben gefüllt – und diese stapelten sich nun auf dem Schreibtisch eines Kinderpsychologen. Das Sammeln von Zeitungsausschnitten und Fotos von Unfällen waren dem hässlichen Miststück nicht mehr genug. Ihre Sucht schrie nach authentischen Aufnahmen und um an gute Sensationsfotos zu kommen, musste sie etwas nachhelfen.

Als sie unweit ihres Hauses einen Einkaufswagen entdeckte, den jemand aus der Shopping Mal entwendet und einfach stehen gelassen hatte, reifte in ihr ein teuflischer Plan. In der Garage ihres Vaters fand sie ein Drahtgeflecht, aus dem sie eine Abdeckung über der Warenablage des Einkaufswagens zurechtbog. Danach lockte sie mit einem Schälchen Milch die Katze des Nachbarn an, packte das arme Tier am Halsfell und sperrte es in den von ihr konstruierten Käfig. Sie breitete eine alte Decke über den Wagen, bevor sie diesen auf ein nahegelegenes, verlassenes Werksgelände schob. Dort sammelte sie altes Papier und Holz, legte es auf die untere Ablage des Wagens und entfachte damit ein Feuer. Der kleine Satansbraten schoss mehrere Fotos, während die Katze schrille Schreie von sich gab und panisch gegen das Gitter sprang, bis nach quälenden Minuten das Fell in Flammen aufging und das Fleisch verschmorte. Erst als das schrille Jaulen der Katze verstummte, bemerkte Paula die entsetzten Schreie mehrerer Leute, die sie beobachtet hatten.

Strafrechtlich konnte die Elfjährige nicht belangt werden. Also blieb es bei drei Sitzungen beim Kinderpsychologen, der versuchte, die Inhalte der sieben Alben mit dem Kind 'aufzuarbeiten', wie es im Fachjargon hieß. In seinem Abschlussbericht führte er Probleme im Elternhaus als Gründe für Paulas Verhaltensauffälligkeiten an und erklärte das Mädchen für geheilt.

Der kurze Chat mit shyboy123 hatte Paula Webber dazu veranlasst, Lindas Notebook noch einmal genauer zu untersuchen. Vor dem für den nächsten Tag geplanten Treffen wollte sie so viel wie möglich über diesen Typen herausbekommen. Dabei zog sie es vor, zuhause zu arbeiten. Wie immer lief neben ihrem Arbeitsplatz der Fernseher eingestellt auf 'Santa Barbara Channel Six', für den sie arbeitete.

Die Eroberung des Hearst Castles durch islamistische Extremisten dominierte das Programm. Aber offensichtlich gab es keine Neuigkeiten. Stattdessen wurden bereits ausgestrahlte Videos und Reportagen ständig wiederholt, darunter die nachträglich bis zur Unkenntlichkeit verpixelte Steinigung von Moira Marnell, aber auch Paulas Reportage über die Familie Patterson, worüber sich das Miststück natürlich ganz besonders freute. Danach kam ein selbsternannter Terrorexperte zu Wort, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorraussagte, dass die Terroristen Hearst Castle in die Luft sprengen würden, ähnlich wie sie in den letzten Monaten unersetzliche Kulturschätze im Irak und in Syrien dem Erdboden gleich gemacht hatten.

Paula widmete ihre volle Aufmerksamkeit wieder dem Notebook. Hatte Linda den Browserverlauf gelöscht? Natürlich hatte sie das nicht! Okay, sie war auf ihrem Chat und auf Facebook. Nichts Besonderes. Aber ein Eintrag weckte Paulas ganze Aufmerksamkeit: Linda hatte die Kombination 'schwul' 'Vater' 'Ratgeber' als Suchbegriffe eingegeben. Während andere Vierzehnjährige sich damit beschäftigten, welcher Lippenstift zu welchem Nagellack passte, musste sich Linda Howard mit der sexuellen Orientierung ihres Stiefvaters auseinandersetzen.

Wie hatte sie eigentlich davon erfahren? Die Schmeißfliege wollte schon aufgeben, als sie in einem Unterordner versteckt zwischen Hausarbeiten eine Textdatei fand, die schon allein dadurch auffiel, dass der Dateiname kryptisch abgekürzt war, während Linda ansonsten Klarnamen bevorzugte, die Hinweise auf den Inhalt der jeweiligen Files gaben. Paula klickte auf die Datei und - bingo – es öffnete sich ein Tagebuch! Paula spürte schon wieder dieses Kribbeln in ihrem Bauch – wie immer, wenn sie ihre Nase in die privaten Angelegenheiten anderer Leute hineinsteckte.

Der erste Eintrag lag ein halbes Jahr zurück. Linda hatte in einem sehr ausdrucksstarken, blumigen Stil geschrieben, sodass das Geschehene plastisch im Kopfkino des Miststücks abzulaufen begann:

»Tut es noch sehr weh?« Angeline deutete auf das Piercing, das erst seit einer halben Stunde Lindas Nase zierte. Die beiden Freundinnen hatten sich auf eine Parkbank in den Schatten gesetzt.

»Frag lieber nicht«, kam als Antwort.

»Meine Mutter würde total ausrasten«, meinte Angeline.

»Das wird meine sicher auch, aber das ist mir egal. Um ehrlich zu sein, Angeline, ich freue mich schon auf ihr blödes Gesicht. Seitdem sie mit diesem Ron zusammen ist, bin ich ihr sowieso egal.«

»Sag mal, ist er das nicht, dort hinten auf der Bank?«

»Wer?«, fragte Linda verdutzt.

»Na Ron!« Angeline deutete auf eine der Bänke am gegenüberliegenden Ende des Parks. »Wer ist denn da bei ihm?«

Jetzt erkannte Linda ihren Stiefvater. »Ja, Du hast Recht! Der hat mir jetzt gerade noch gefehlt!«

»He, kann das sein, dass der neue Lover Deiner Mom schwul ist?«

»Quatsch, wie kommst Du darauf?«

»Bist Du blind, Linda! Schau doch mal genau hin!«

Jetzt erhoben sich die beiden Männer und umarmten sich freundschaftlich zum Abschied. Kurzentschlossen zoomte Angeline mit ihrer Handykamera heran. Klick!

»Na, ich weiß nicht«, kommentierte Linda die Szene.

»Du willst ihm doch eine reinwürgen. Stimmt's?«

»Ja schon, aber ….«

»Linda, das ist DIE Gelegenheit!«

»Dieses kleine Luder!«, dachte Paula. Bei ihrer Recherche im Hause Herbert hatte sie Angeline als eher zurückhaltend erlebt. War Ron Patterson am Ende gar nicht schwul? Hatten die beiden Gören dieses Gerücht in die Welt gesetzt, sodass es selbst in der Nachbarschaft die Runde machte? Und sie hatte das ungeprüft übernommen und in ihrer Reportage verwendet! Sie las weiter:

Als Linda nach Hause kam, würdigte ihre Mutter sie keines Blickes. »Ron kommt heute Abend zum Essen. Deck also bitte für drei!«

Im ganzen Haus roch es aromatisch nach mediterraner Küche. Wie lange stand ihre Mutter schon in der Küche? Eins, zwei oder drei Stunden? Wenn sie zu zweit waren, gab es immer nur Tiefkühlfraß aus der Mikrowelle. Und was sie anhatte! Ihr buntes Sommerkleid mit dem tiefen Ausschnitt! Dazu die Halskette, die sie von Lindas Vater geschenkt bekommen hatte. Linda kochte vor Wut.

»Sei vorsichtig mit dem Geschirr!«, mahnte Annie, nachdem sie mitbekommen hatte, wie ihre Tochter die Teller recht unsanft und geräuschvoll auf dem Tisch platzierte.

Jetzt reichte es! Linda ließ das Besteck einfach fallen. Der Griff eines der Messer prallte am Rand eines Tellers ab. Ein Splitter löste sich.

»Ihr könnt Euren Fraß alleine fressen! Ich habe keinen Hunger! Ich bin oben im Zimmer und werde Euch nicht stören! Das ist Dir doch lieber so!«

»Linda!«, rief Annie hinter ihr her, aber da knallte bereits im oberen Stockwerk eine Tür ins Schloss.

Sekunden später stand Annie im Türrahmen. Lindas Zimmerschlüssel hatte sie auf Grund ähnlicher Vorfälle bereits konfisziert. Erst jetzt blickte sie in das Gesicht ihrer Tochter und entdeckte das Piercing.

»Wo hast Du das machen lassen?« Annie war außer sich. »Du bist noch nicht volljährig! Den Typen zerre ich vor Gericht! Erst die schwarzen Haare und jetzt das!«

»Wie viele Minuten bin ich jetzt schon zu Hause? Ein Wunder, dass Du das überhaupt bemerkt hast!«, kreischte Linda.

»Eine notgeile Mutter und ihre pubertierende Zickentochter«, dachte Paula, »gut, dass mir das erspart geblieben ist.«

»Pass auf, dass sich das nicht entzündet!« Mit diesen Worten schloss Ron seinen medizinischen Vortrag ab, in dem er versucht hatte, seine Stieftochter in spe über die medizinischen Risiken eines unsachgemäß in den Nasenflügel gebohrten metallischen Fremdkörpers aufzuklären.

»Pass auf, dass sich bei Dir nichts entzündet!«, antwortete Linda trotzig.

Ron hatte Lindas Zimmer schon fast wieder verlassen, als er sich auf der Schwelle umdrehte: »Wie meinst Du das?«

Linda grinste überlegen, als sie ihm das Foto zeigte, dass Angeline ihr via Bluetooth auf ihr Handy geschickt hatte.

»Lass die Finger von meiner Mutter, Du schwule Sau!«, raunte sie Ron so leise zu, dass ihre Mutter sie unten in der Küche nicht hören konnte.

Zu gern hätte Paula diese für sie überaus interessante Lektüre weitergelesen, aber jetzt wurde das Fernsehprogramm unterbrochen.

Ihre Kollegin Viola Lowe blickte mit betroffener Miene in die Kamera: »Wir unterbrechen das Programm wegen einer wichtigen Meldung. Die Terroristen auf Hearst Castle haben eine weitere Geisel getötet und dazu ein Video im Internet verbreitet. Bei dem Opfer handelt es sich um Ron Patterson, ein Arzt und Familienvater aus Santa Barbara. Offensichtlich haben die Islamisten ihn wegen seiner homophilen sexuellen Orientierung getötet. Sie haben ihr wehrloses Opfer von einem der Türme des Schlosses geworfen.«

»Ach Du Scheiße! Und ich war nicht auf Sendung!«, dachte Paula, während auf dem Bildschirm ein Bild von Ron Patterson neben der verpixelten Aufnahme einer Leiche erschien, die in verrenkter Haltung in einer Blutlache lag.

Sie musste nicht lange suchen, bis sie das Originalvideo, das im Fernsehen natürlich nicht gezeigt wurde, im Internet fand.

»Männer, die Männer lieben, sind wertlos!«, verkündete Abdul Sahir, alias Daniel Slatkin, dessen Name seit gestern so bekannt war wie Osama Bin Laden oder Wladimir Putin. »Ron Patterson hat kein Recht zu leben!«

Während dieser Worte wurde Ron Patterson gezeigt, wie er mit angstverzerrtem Gesicht auf einem der Türme des Hearst Castles stand. Die nächste Einstellung zeigte, wie ein Körper aus der Luke unterhalb der Turmspitze gestoßen wurde. Der langgezogene Schrei verstummte, als der Oberkörper gegen die Brüstung schlug, die eine Plattform auf halber Turmhöhe umrahmte. Der Körper fiel über das Geländer und klatschte auf die Pflastersteine auf dem Vorplatz des Schlosses. Ohne die Aufnahme zu stoppen, eilte der Kameramann zu der Leiche. Fasziniert und zugleich mit flauem Magen betrachtete Paula die ungeschnittene Filmsequenz, die Ron Pattersons zerplatzten Schädel formatfüllend zeigte.

Routiniert und gefühlskalt lud Paula das Video auf die Festplatte ihres Rechners. Erfahrungsgemäß wurden solche Videos zwar immer weiter auf verschiedenen Portalen verbreitet, aber genauso schnell auch wieder gelöscht.

Sie konnte nicht anders, sie musste sich das Video immer und immer wieder anschauen. Beim dritten Mal hatte sie sich an den markerschütternden Todesschrei und den Anblick des zerschmetterten Kopfes gewöhnt. Die Terroristen hatten diesen wehrlosen Mann vom Turm geworfen, aber letztendlich hatte Linda ihren Stiefvater auf dem Gewissen. Aber das wusste nur sie! Sie alleine! Oh, wie sie ihren Job liebte!

Nun klickte das Miststück auf die Pausentaste delektierte sich an einem Standbild, das Ron Patterson Sekunden vor seinem Sturz in die Tiefe zeigte. So also sieht ein Mensch aus, der den sicheren Tod vor Augen hat! Dann entdeckte sie eine Gestalt im Halbdunkel neben dem Todgeweihten. Sie speicherte das Standbild und öffnete ein Bildbearbeitungsprogramm. Mit dem Helligkeitsregler erhellte sie den Hintergrund. Dies erhöhte zwar das Bildrauschen, aber nun war deutlich eine verschleierte Frau zu erkennen. Bisher war nur von Abdul Sahir und drei Männern aus der islamistischen Terrorszene die Rede gewesen. Paula zoomte in das Gesicht der jungen Frau. Das war doch nicht Linda, oder?

 

***

Rons gellender Todesschrei war bis in das Gästehaus vorgedrungen, in dem die übrigen Geiseln gefangen gehalten wurden. Clive Osbourne und Lynn Holford mussten Annie Patterson festhalten. Kaum war der Schrei verstummt, war Annie aufgesprungen und kreischend gegen die Wand gerannt. Mehrmals schlug sie mit dem Kopf gegen die Holztäfelung, bis sie aus einer Platzwunde an der Stirn blutete.

»Annie, ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Hilflos strich Lynn über ihre blutverschmierten Haare. »Vielleicht wollen sie uns nur erschrecken und haben ihn gar nicht umgebracht. Vielleicht war es auch Martin oder JJ, der so geschrien hat.«

»Es war Ron! Er ist tot! Ich weiß es!«, schluchzte Annie. »Diese Schweine haben ihn umgebracht! Und Linda auch!«

»Alle stellen sich an die Wand!«, brüllte Abdul, als die Tür erneut entriegelt und aufgerissen wurde. »Los, ihr Hunde, macht schon!«

Die beiden Söldner hieben mit den Kolben ihrer Gewehre auf die Geiseln ein und verliehen dem Befehl ihres Anführers den nötigen Nachdruck. Selbst der bisher so auf Widerstand bedachte Clive Osbourne stand willenlos zusammen mit dem Ehepaar Holford und Randy Stephens an der Wand. Annie Patterson hatten sie auf der Couch zurückgelassen.

Abdul stellte einen Stuhl in die Mitte des Raumes und nickte seinen Helfern zu. Diese packten die zitternde Annie Patterson und drückten sie auf den Stuhl. Was passierte jetzt? Die übrigen Geiseln waren auf das Schlimmste gefasst, als Abdul eine Schere zückte und damit vor Annies Augen herumfuchtelte. Sie waren fast schon erleichtert, als Abdul damit begann, 'nur' Annies Haare abzuschneiden. Festhalten brauchten sie Annie nicht, denn sie befand sich in einer Art Schockstarre, während ihre leicht gewellten, schwarzen Haarsträhnen neben dem Stuhl zu Boden fielen. Die Schere war unscharf, sodass manche Haarbüschel einfach herausgerissen wurden. Annie schrie nicht. Sie heulte nicht. Am liebsten hätte sie einfach aufgehört zu atmen. Nach wenigen Minuten zierte Annies Schädel ein unregelmäßiges Muster aus kahlen Stellen und kurzen, schütteren Haarbüscheln.

Wortlos rissen die Männer die kahlgeschorene Frau nach oben und stellten sie auf die Beine. Dabei erweiterte sich der Riss im Hemd, den der Peitschenhieb in der letzten Nacht verursacht hatte. Annies linke Brust lag frei. Niemand nahm Notiz davon. Annie wurde abgeführt. Jetzt waren die verbliebenen Geiseln nur noch zu viert.

Die Nachmittagssonne blendete Annie, als sie aus dem abgedunkelten Gästehaus nach draußen geschleift wurde. Ihre Knie versagten. Diese Schweine hatten Ron getötet und sie war die Nächste! Hatten sie schon die Grube ausgehoben, um auch sie zu steinigen, so wie sie es heute Morgen mit Moira gemacht hatten? Salziger Schweiß rann von ihrer Stirn und brannte in den Augen. Nur verschwommen sah sie das Pflaster des Schlosshofes unter ihr weggleiten. Schließlich hielten die Männer an und richteten Annie auf.

»Sieh genau hin!« Abduls Hand packte Annies Kinn und drehte ihren Kopf gewaltsam und gegen ihren Widerstand nach links. Der Anblick weckte Annie aus ihrer fatalistischen Lethargie. Die Männer waren wohl selbst überrascht, als sich diese zierliche Frau aus ihren Griffen wandte, und sich kreischend auf den am Boden liegenden Körper stürzte.

»Ron! Ron! Was haben sie mit Dir gemacht!«

Der Rest ihrer Worte ging in ein wimmerndes Wehklagen über. Rons Beine lagen unnatürlich verrenkt übereinander. Seine Hände waren hinter seinem Rücken gefesselt. Hatten sie ihn vom Turm gestoßen? So wie es aussah, musste er mit dem Kopf zuerst aufgeschlagen sein. Annie hatte sich auf dem Boden abgestützt. Nun hob sie ihre Hand, die mit Blut und Hirnmasse verschmiert war. Wie hypnotisiert starrte sie auf den zähen Brei, der zwischen ihren Fingern der Schwerkraft folgte, um wenig später erneut zur Besinnung zu kommen.

»Wo ist Linda! Was habt Ihr mit meiner Tochter gemacht! Ich will sie sehen – jetzt sofort!«

Annie war aufgesprungen und auf Abdul zugerannt. Sie trommelte gegen seine Brust, bis die beiden anderen Männer sie wegzogen.

»Deiner Tochter geht es gut – besser als je zuvor. Dein Mann hat seine gerechte Strafe erhalten. Mehr brauchst Du nicht zu wissen, Du dummes Weib!«, herrschte Abdul sie an und verpasste ihr einen kräftigen Schlag ins Gesicht.

»Schafft sie ins Schloss!«, befahl er seinen Gefolgsleuten.

Ein penetrantes Surren erfüllte die Luft über ihnen. Alle blickten nach oben, auch Annie.

»Eine Drohne!« Wild gestikulierend zeigte einer der Männer in den Himmel Richtung Süden.

»Das ist nur eine Aufklärungsdrohne. Schießt sie ab!«, befahl Abdul.

Die Salve aus dem Maschinengewehr kam zu spät. Das ferngesteuerte Fluggerät drehte ab und verschwand hinter der Krone eines der großen Parkbäume.

»Sie haben sie hingerichtet! Mein Gott, sie haben sie hingerichtet!«, schrie Lynn. Die Schüsse waren auch im Gästehaus zu hören.

»Nein«, antwortete Clive, »für Frauen verschwenden diese Leute keine Kugeln.«

 

»Das war knapp!« Ethan Crawford war ins Schwitzen gekommen.

Von einer Konsole in der Einsatzzentrale steuerte er die Drohne, die mit drei hochauflösenden Videokameras bestückt war. Zwar übertrugen die Kameras in Echtzeit, die wirklich hochauflösenden Bilder wurden jedoch nur auf einem Speicher in der Drohne gesichert. Daher war es unbedingt erforderlich, dass die Drohne unversehrt wieder zurückkehrte. Diese Mission war gefährdet, als Ethan über eine der Kameras sah, dass einer der Terroristen den Lauf seines Gewehres auf die Drohne richtete. Geistesgegenwärtig hatte er die Drohne abdrehen lassen und den Einsatz abgebrochen.

»War das Annie Patterson?«, fragte Georgina, die die Livebilder der Drohne ebenfalls verfolgt hatte. »Die haben der armen Frau die Haare abgeschnitten!«

»Eine Demütigung kurz vor der Hinrichtung«, kommentierte Barbara, die als Psychologin für sich in Anspruch nahm, jede Handlung dieser Geistesgestörten vorhersagen und richtig interpretieren zu können.

»Wenn das Annie war, dann war der Tote vor dem Schloss ihr Mann Ron – und sie musste sich ihn ansehen!« Georgina war angewidert.

In diesem Moment surrte die Drohne über die halb hochgeklappte Dachluke der Einsatzzentrale und setzte direkt neben dem Truck zur Landung an. Georgina konnte es kaum erwarten, bis der Inhalt der Speicherkarte auf ihren Rechner übertragen war. High-Definition-Videos mit hundert Bildern pro Sekunde – das dauerte!

»Die nächste Exekution sollte doch erst bei Sonnenuntergang stattfinden!«, wunderte sich Stephen Morris. »Warum verflucht nochmal wurde sie vorverlegt?«

»Weil sie genau wissen, dass wir ihre Forderungen nicht erfüllen werden«, mutmaßte Crain.

»So schockiert man die Geiseln zusätzlich«, meinte Barbara Watts. »Keiner kann sich sicher fühlen. Jederzeit kann jemand aus der Gruppe herausgegriffen und getötet werden.«

»Heißt das, dass bei Sonnenuntergang noch eine Exekution stattfindet?«, fragte Harvey.

»Ist durchaus möglich«, entgegnete Barbara emotionslos.

»Daran ist nur diese verfluchte Reporterin schuld!«, ereiferte sich Morris. »Sie hat Ron Pattersons Homosexualität öffentlich gemacht! Wir müssen herausfinden, woher sie diese Information hat.«

»Das ist doch jetzt vollkommen nebensächlich«, wiegelte Crain ab. »Wir haben hier wichtigeres zu tun!«

»Meine Aufgabe als FBI-Special Agent ist es, herauszufinden, wer hinter dem Anschlag steckt. Fernando Llorente ist in Gewahrsam der Homeland Security. Im Gegensatz zu Georgina, die nicht weiß, welche Datenanalyse sie zuerst durchführen soll, sitze ich hier nur rum. Director Crain, lassen Sie mich der Sache bitte auf den Grund gehen.«

Georgina blickte erstaunt auf. Zum ersten Mal seit sie ihn kannte, hatte Stephen das Wort 'bitte' in den Mund genommen. Soviel Arschkriecherei hatte sie ihrem Kollegen gar nicht zugetraut.

»Sie wollen in allen Richtungen ermitteln, Morris?«, sagte Crain in sachlichem Ton, »dann tun Sie das. Aber in zwei Stunden sind Sie wieder hier!«

Ohne weitere Worte zu verlieren, verließ Stephen die mobile Einsatzzentrale. Nach über vierundzwanzig Stunden im Dienst war er froh, endlich aus diesem stickigen Container rauszukommen, wenn auch nur für zwei Stunden.

Inzwischen hatte Georgina die Dateien aus der Speicherkarte der Drohne auf ihre Festplatte übertragen und begann damit, das Videomaterial nach brauchbaren Standbildern zu sichten. Nachdem sie fündig geworden war und die Bilder mittels einer Gesichtserkennungssoftware mit der FBI-Datenbank abgeglichen hatte, stand fest: Muhamed Said und Sanel Abdalla waren Daniel Slatkins Terrorhelfer. Sie waren auf dem Video deutlich zu erkennen. Lamin Jammeh, der dritte, musste demnach zu diesem Zeitpunkt den Wachposten auf dem Turm bezogen haben.

Die Erkenntnisse, die die Behörden über die beiden zusammengetragen hatten, beunruhigten Georgina zutiefst. Muhamed Said war amerikanischer Staatsbürger und hatte wegen Nötigung und Freiheitsberaubung eine fünf-jährige Haftstrafe verbüßt. Mit achtzehn Jahren hatte er eine Fünfzehnjährige geheiratet – jedenfalls war in seiner Glaubensgemeinde eine entsprechende Zeremonie vollzogen worden. Danach hatte er das Mädchen wie eine Sklavin gehalten. Nach einem Jahr verschwand das Mädchen spurlos. Said behauptete, sie hätte ihn verlassen. Die Ermittlungsbehörden gingen davon aus, dass er seine minderjährige Frau totgeprügelt hatte oder sie bei einer Fehlgeburt gestorben war. Für eine Anklage wegen Mordes reichten die Beweise damals nicht aus.

Wie Said so stand auch Sanel Abdalla auf der No-Fly-Liste. Bis heute vermuteten die Behörden den gebürtigen Iraker in Syrien. Dort war er nachweislich an der Ermordung von zwei westlichen Geiseln beteiligt. Stolz und unmaskiert präsentierte er sich auf Bildern im Internet mit den abgeschlagenen Köpfen seiner Opfer. Irgendwie musste es ihm gelungen sein, unbemerkt in die Vereinigten Staaten einzureisen. Aus Erfahrung wusste Georgina, das dies meist über Kanada erfolgte. Die Grenze zu Mexiko war zu gut überwacht. Und diese brandgefährlichen Fanatiker hatten wehrlose Amerikaner in ihrem eigenen Land in Geiselhaft genommen und versuchten, die ganze Nation zu erpressen!

Auch in Bezug auf die weibliche Geisel, die von der Drohne aufgenommen worden war, hatte Georgina nach einem elektronischen Bildabgleich Gewissheit. Es war, wie vermutet, Annie Patterson – und sie war augenscheinlich in einem fürchterlichen Zustand. Dabei waren die abgeschnittenen Haare und das zerrissene Hemd nur die sichtbaren Zeichen der Tortur. Aber was mochte in dieser Frau vorgehen? Man hatte sie zu einer Leiche geführt. Dass es ihr Ehemann Ron war, konnte Georgina nur vermuten. Das, was von seinem Gesicht noch übrig war, eignete sich nicht für einen Abgleich. Annie war physisch und psychisch am Ende, das konnte man auf den Bildern deutlich erkennen. Ihre Gesichtszüge zeugten von einer Todesangst, die Georgina bisher nur von Bildern von Leichen kannte, denen das Entsetzen und die Panik unmittelbar vor ihrem Ableben buchstäblich ins Gesicht gebrannt worden war.

»Es wird höchste Zeit, dass wir diesem Spuk heute Nacht ein Ende machen«, seufzte sie.

 

***

Nach seinem Rauswurf aus dem Pallace Hotel hatte Warren Boyle noch in drei weiteren Hotels gearbeitet. Anstatt Karriere zu machen, rutschte Warren immer tiefer ab, was die Kategorie des Hotels und sein Gehalt anbelangte. Der einzige Lichtblick war Eleonore Carter, die treu zu ihm hielt und ihm folgte, als er beschloss, der Stadt den Rücken zu kehren.

Auf halbem Weg zwischen San Francisco und Los Angeles hatte sich der steinreiche Verleger William Randolph Hearst einen Kindheitstraum verwirklicht und in einer dünn besiedelten Gegend unweit der Küste ein Traumschloss errichten lassen. Zur Unterhaltung dieses Anwesens und zur Bewirtung der illustren Gäste wurde jede Menge Personal gesucht. Spontan hatte Warren sich beworben, als er davon in der Zeitung gelesen hatte. Über den Erfolg dieser Bewerbung hatte er sich keine Illusionen gemacht. Umso überraschter war er, als er bereits eine Woche später als Verwalter eines der drei Gästehäuser anfangen konnte. Angesichts der anhaltenden Weltwirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre war dies keine Selbstverständlichkeit.

Als das Paar nach San Simeon umzog, war Eleonore schwanger. Sechs Monate später erblickte die kleine Patricia das Licht der Welt. Solange sie noch in San Francisco wohnten, hatte Warren einen Großteil seiner knappen Freizeit in öffentlichen Bibliotheken zugebracht und Dokumente zum Untergang der Lusitania zusammengetragen. Damit war jetzt Schluss – dachte Eleonore. Hier auf dem Land fernab jeder Großstadt gab es keine Bibliothek. Dabei ahnte sie nicht, dass der neue Arbeitgeber ihres Mannes über die größte private Büchersammlung des Landes verfügte. Warren verheimlichte seiner jungen Frau, dass die meisten Überstunden nichts mit seinem Beruf zu tun hatten.

Bereits zu Beginn seiner Studien in San Francisco war in Warren Boyle der Verdacht aufgekeimt, dass offizielle Stellen in den Vereinigten Staaten wie auch in Großbritannien sich große Mühe gegeben hatten, die wahren Hintergründe der Lusitania-Katastrophe zu verheimlichen. In einem Schauprozess hatte man versucht, Kapitän Turner die alleinige Schuld an dem Untergang in die Schuhe zu schieben. Laut Zeugenaussagen hatte die Lusitania keine Flagge gehisst und ihr Name am Rumpf war überpinselt worden – beides klare Verstöße gegen geltendes Seerecht.

Immer wieder tauchte der Name eines gewissen Winston Churchill auf, der damals den Posten des Marineministers inne hatte. Mehr oder weniger offen wurde gemutmaßt, die Admiralität hätte die Lusitania absichtlich vor die Rohre des Deutschen U-Bootes gelotst, um angesichts der zu erwartenden Opfer mit amerikanischer Staatsbürgerschaft die USA zum Kriegseintritt zu bewegen. Fast wäre diese Rechnung aufgegangen, aber Präsident Wilson hatte gezögert. Erst nach seiner Wiederwahl und zwei Jahre nach dem Untergang der Lusitania erklärten die Vereinigten Staaten Deutschland den Krieg.

Unter den eintausendeinhundertachtundneunzig Todesopfern waren einhundertachtundzwanzig Amerikaner. Warren kochte vor Wut, als er herausfand, dass sein Bruder Leonard gar nicht mitgezählt worden war. Schließlich hatte er lebend das Land erreicht, um kurze Zeit später unter mysteriösen Umständen ums Leben zu kommen. Ein einfacher Dorfpolizist, ein Constable namens Dylan McNamara, hatte den Fundort von Leonards Leiche und die eines zweiten, bis dato nicht identifizierten Mannes inspiziert und ohne weitere Ermittlungen die Bestattung in einem Armengrab in Poulmounty angeordnet.

Als Warren versuchte herauszufinden, zu welchem Zweck sein Bruder Leonard auf der Lusitania nach England reiste, stieß er auf eine Mauer des Schweigens. In San Francisco gab es ein Archiv, in dem alle Angehörigen der Streitkräfte verzeichnet waren. Einen Leonard Boyle gab es dort nicht. Über Umwege gelangte Warren an eine Abschrift der Passagierliste – alle Passagiere und Besatzungsmitglieder auf der letzten Fahrt der Lusitania, alphabetisch geordnet. Die Liste war vollständig mit einer Ausnahme: Seite drei endete mit Bigelow, Anne, danach kam Seite fünf beginnend mit Butler, Charles. Wenn man diesen Dokumenten Glauben schenkte, hatte sein Bruder nie existiert.

»Ihr Bruder war im Auftrag der Regierung unterwegs«, hatte ihm Präsident Harding bestätigt. Diese Worte klangen wie ein Echo in Warrens Ohren – immer und immer wieder. Im gleichen Atemzug hatte der Präsident ihn zum Stillschweigen aufgefordert. Keine sechs Stunden später war Harding verstorben. Warren verbiss sich in die Vorstellung, dass das kein Zufall sein konnte.

Die Anschriften von insgesamt zwanzig überlebenden Amerikanern hatte Warren ausfindig gemacht und alle angeschrieben. Er erhielt vier Antworten. In drei Briefen verbat man sich alle weiteren Versuche einer Kontaktaufnahme. Ein Lichtblick war die Antwort von Carmen Novak aus Cambridge. Sie war in derselben Klasse wie Leonard unterwegs gewesen und konnte sich an ihn sogar erinnern. Leonard war ihr im Gedächtnis geblieben, denn er hatte ihr Avancen gemacht, die sie jedoch unbeantwortet ließ, da sie auf dem Weg zu ihrem Verlobten nach England war. Sie hatte gesehen, wie sich Leonard und ein ihr unbekannter Mann an den Rettungsbooten zu schaffen gemacht hatten.

»He, das dürfen Sie nicht!«, hatte ein Matrose gerufen.

Carmen Novak, die nach dem Mittagessen über das Deck flanierte, hatte sich umgeschaut. Zuerst dachte sie, sie wäre gemeint. Erst jetzt erkannte sie ihren heimlichen Verehrer zusammen mit einem anderen Mann neben dem Rettungsboot.

Sie erinnerte sich deswegen noch so genau an diese Begebenheit, da kurz darauf die Lusitania von dem Torpedo getroffen wurde. Nachdem sie den Ruf des Matrosen gehört hatte, war sie ein paar Schritte von der Reling weg zur Mitte des Decks gegangen. Immer und immer wieder hatte sie sich gefragt, ob sie diesem Umstand ihr Leben verdankte, denn der Torpedo war genau unterhalb der Stelle eingeschlagen, wo sie eben noch gestanden hatte.

Der nun folgende Schriftwechsel gestaltete sich sehr zähflüssig. Während Warren auf jeden von Carmens Briefen innerhalb weniger Tage antwortete, musste er Wochen und Monate auf eine Antwort warten. Dieser zweite Mann war ein entscheidender Hinweis, der Warren aufhorchen ließ. War dies der unbekannte Tote, der in der Nähe von Leonards Leiche unterhalb des Leuchtturms gefunden worden war? Und warum waren die Männer bereits vor dem Torpedoeinschlag an den Rettungsbooten?  Fragen, auf die Carmen Novak auch keine Antwort wusste. Den zweiten Mann beschrieb sie als hochgewachsen, größer als Leonard und dunkelhaarig. In den Tagen zuvor sei er ihr an Deck nicht aufgefallen. Möglicherweise reiste er in einer anderen Klasse oder gehörte zum Personal, mutmaßte Carmen.

Nach fünf Briefen war die Korrespondenz eingeschlafen und Warren Boyle musste resigniert feststellen, dass er mit seinen Recherchen auf der Stelle trat. Das änderte sich schlagartig, als im Jahre 1930 ein neuer Gast dem Hearst Castle seine Aufwartung machte – Winston Churchill.

 

***

Aus der Sache mit der verbrannten Katze hatte 'Mausgesicht', wie die pubertierende Paula in der Schule genannt wurde, gelernt, etwas vorsichtiger zu sein. Mittlerweile war sie vierzehn und musste mit einer Haftstrafe oder der Einweisung in eine Irrenanstalt rechnen, würde sie erneut erwischt werden. Die Geldgeschenke der letzten beiden Geburtstage und von Weihnachten hatte sie auf die Seite gelegt und nun war sie stolze Besitzerin einer handlichen Videokamera.

Diese umwickelte sie mit Klebeband und befestigte sie an einem Baumstamm unweit einer Brücke, die über den Highway führte. Nachdem sie die Aufnahmetaste gedrückt hatte, musste sich beeilen, denn der Akku hielt nur für etwa eine halbe Stunde. Da sie vorher ganz unauffällig eine Schnur von der Brücke hängen ließ, kannte sie die Höhe der Brücke. Dementsprechend hatte sie die Schnur abgeschnitten und einen Ziegelstein daran befestigt. Jetzt galt es nur noch, das andere Ende der Schnur am Brückengeländer so zu befestigen, dass der Stein in Höhe einer Windschutzscheibe über der Mitte der Fahrbahn hing. Sie schaute sich um. Sie hatte Schmetterlinge im Bauch, so erregt war sie. Niemand war zu sehen. Kaum hatte sie den Stein losgelassen, rannte sie los und stolperte neben der Brücke den Abhang herunter. In diesem Moment quietschten Reifen, Blechteile kreischten, Glas splitterte und Menschen schrien. Das verfluchte Stück Dreck riss die Videokamera vom Baum und rannte in den Wald, bevor die Polizei eintraf. Die Bilanz: zwei Tote, drei Schwerverletzte und eine psychisch gestörte, pubertierende Göre, die nie für ihre Tat zur Rechenschaft gezogen wurde und das Video hütete wie einen geheimen Schatz. Nur nachts, wenn alle schliefen, schaute sie sich dieses Video an, immer und immer wieder. Mit der linken Hand betätigte sie auf der Fernbedienung abwechselnd die Pausentaste und den Vorlauf per Zeitlupe, während sie mit der rechten Hand masturbierte. In einer dieser Nächte erwachte in ihr der Wunsch, die beste Reporterin der Welt zu werden.

Dreihunderteinundzwanzig neue e-Mails, fünfhunderteinundvierzig Direktnachrichten auf Twitter und mehr als neunundneunzig Nachrichten auf Facebook – das alles innerhalb der letzten halben Stunde! Paula Webber fühlte sich geschmeichelt. So war es also, wenn man aus dem muffigen Dunstkreis des provinziellen Lokaljournalismus heraustrat! Als das Miststück damit begann, eine Nachricht nach der anderen zu öffnen, um die Glückwünsche für ihre gelungene Reportage entgegenzunehmen, musste sie feststellen, dass sich über ihr ein gewaltiger Shitstorm zusammenbraute.

Die Islamisten hatten Ron Patterson nur deshalb getötet, weil er schwul war. Wie ein Stück Dreck hatten sie ihn von einem Turm heruntergeworfen. Das Schockvideo über diese Tat hatte weltweites Entsetzen ausgelöst. Im Netz wurde lebhaft darüber diskutiert, woher die Terroristen über die sexuelle Orientierung ihrer Geisel Bescheid wussten. Da erinnerte sich so mancher an die reißerische Reportage einer gewissen Paula Webber, die am frühen Morgen vor laufender Kamera das Privatleben der Pattersons an die Öffentlichkeit gezerrt hatte.

'Dieser Sensationsreporterin muss Einhalt geboten werden' oder 'Ist dieser Frau bewusst, was sie da angerichtet hat?' waren noch die sachlichsten Kommentare. Andere schlugen vor, Paula an die Terroristen auszuliefern oder sie in Guantanamo einzusperren. 'Hearst Castle hat zwei Türme. Vom anderen sollte man dieses Dreckstück werfen' war einer der Vorschläge, wie die Gesellschaft eine wie diese Webber entsorgen könnte. 'Nackt an die Schweine verfüttern' oder 'langsam auf dem elektrischen Stuhl grillen' waren einige der Alternativvorschläge.

Manch zartbesaitetes Wesen wäre angesichts dieser Schmähungen und Drohungen zusammengebrochen und hätte sich wimmernd unter der Bettdecke verkrochen. Nicht so Paula Webber. Sie bedauerte es lediglich, jetzt nicht die Zeit zu haben, all diese netten Worte ihrer Zeitgenossen in sich aufzusaugen.

Das Telefon summte. Auf dem Display erkannte Paula die Nummer ihres Chefs. Dreimal hatte sie mit ihm ins Bett steigen müssen, bis sie endlich den Job als TV-Reporterin bekam. Die einzige Bedingung war, dass sie immer frontal in die Kamera schauen musste. Das Mausgesicht war einfach nicht telegen genug.

»Hi, Jon!« Paula versuchte betont locker rüberzukommen.

»Paula, ich mache mir Sorgen um Dich. Hast Du gesehen, welchen Shitstorm Deine Reportage ausgelöst hat?«

»Das gibt mir die Bestätigung, dass ich meine Arbeit richtig gemacht habe«, antwortete die Dreckschleuder selbstbewusst.

»Brauchst Du Polizeischutz?«, fragte Jon besorgt.

»Das einzige, was ich jetzt brauchen könnte, wäre ein Vanilla-Donut und ein Exklusivinterview mit einem der Geiselnehmer.«

»Paula, Du bist unverbesserlich! Aber genau das liebe ich an Dir! Ich hoffe nur, die Pattersons werden uns nicht verklagen.«

»Verklagen? Wer soll uns denn verklagen?«, fragte Paula kaltschnäuzig, »Ron Patterson ist tot und die Überlebenschancen seiner Frau Annie liegen bei Null, wenn Du mich fragst.«

»Und was ist mit der Tochter?«, wollte Jon wissen.

»An der bin ich gerade dran«, hauchte Paula verschwörerisch mit leicht süffisantem Unterton ins Telefon.

»Wie meinst Du das?«

»Du wirst schon sehen. Lass mich nur machen.«

In diesem Moment klirrte neben Paula die Scheibe ihres Wohnzimmerfensters und ein Stein schlug gegen einen Bilderrahmen an der gegenüberliegenden Wand.

»Paula? Paula, bist Du okay? Paula!«

 

***

Nachdem man Annie die geschundene Leiche ihres Mannes gezeigt hatte, war sie nicht wieder zu den anderen Geiseln gebracht worden. Die anderen Geiseln wollte man im Unklaren darüber lassen, was mit Annie geschehen war. Nun saß sie im großen Speisesaal im Hauptgebäude des Schlosses, wo früher William Randolph Hearst mit seinen illustren Gästen ausgiebig diniert hatte. Irgendwo hatte sie mal gelesen, dass sich die Designer-Crew der Harry-Potter-Filme von der Ausstattung genau dieses Saales hatten inspirieren lassen, als sie den Speisesaal von Hogwarts entwarfen.

Warum dachte sie gerade jetzt an so etwas? Versuchte ihr Gehirn zu verdrängen, was sie gerade gesehen hatte? Leicht gebückt saß sie auf einem der bequemen Polsterstühle. Ihren Kopf hatte sie auf ihre blutverschmierten Hände aufgestützt. Ron's Blut klebte nun auch in ihrem Gesicht. Ihre verheulten Augen blickten starr auf den Teppich mit den bogenförmig geschwungenen Mustern. Die Geiselnehmer hatten sie nicht gefesselt. Sie hätte sich also frei im Raum bewegen können. Sie tat es nicht.

Sie ließ die kurze, aber intensive Beziehung mit Ron Revue passieren. In letzter Zeit stand es nicht gut um ihre Ehe. Aber war Ron wirklich homosexuell? Das Gerücht hatte die Runde gemacht. Über zwei Ecken hatte sie erfahren, dass schon in der Nachbarschaft darüber getuschelt wurde. Und dann war da noch ihre Tochter Linda. Sie hatte sich zurückgesetzt gefühlt und den neuen Mann an ihrer Seite nie als ihren Stiefvater akzeptiert. Dabei hatte sich Ron so viel Mühe gegeben.

»Gib's auf! Ich bin nicht bestechlich«, hatte Linda nur spöttisch gesagt.

Linda! Seit über vierundzwanzig Stunden hatte sie ihre Tochter nicht gesehen. Diese Ungewissheit trieb sie in den Wahnsinn. Dann musste sie an Timmy Holford denken. Vor ihren Augen lief der Film ab, wie der Junge mit einer kaltblütigen Selbstverständlichkeit Steine gegen den Kopf von Moira Marnell geworfen hatte. Hatte er unter Zwang gehandelt oder konnten diese Islamisten Kinder in so kurzer Zeit einer Gehirnwäsche unterziehen?

Annie musste an Berichte aus Nigeria denken. Hunderte von Schulmädchen waren entführt, vergewaltigt und zwangsverheiratet worden. Linda war vierzehn. War sie noch Jungfrau? Welche Mutter einer Vierzehnjährigen wusste das heutzutage schon? Sie verbrachte die meiste Freizeit mit Angeline Herbert, einem gleichaltrigen Mädchen aus der Nachbarschaft. Anfangs mochte Annie dieses Mädchen nicht. Aber diese Freundschaft schien Linda gut zu tun. Sie hatte sich von ihrem hässlichen Gothic-Style verabschiedet, ihr Nasenpiercing entfernt und sich die Haare schneiden lassen, damit sie in ihrer natürlichen Farbe wieder wachsen konnten.

Nach einem Nervenzusammenbruch hatte Frank Howard, ihr erster Mann, drei Monate in einem Sanatorium zugebracht. In dieser Zeit hatte Annie Ron Patterson kennengelernt und kurzerhand die Scheidung eingereicht. Danach hatte Annie darauf bestanden, dass auch Linda keinen Kontakt zu ihrem Vater unterhielt. Diese Kontaktsperre war vom Richter bestätigt worden. Dennoch nistete sich in Annies Gehirn der Verdacht ein, Linda würde dieses Kontaktverbot umgehen. Während Linda in der Schule war, hatte sie ihr Notebook durchsucht und war auf ein Chatprotokoll gestoßen. Sie hatte Kontakt zu einem gewissen 'shyboy123'. Aber als sie Linda zur Rede stellen wollte, reagierte diese mit einem Tobsuchtsanfall und danach war ihr Computer verschwunden. Angeblich wäre er kaputt und ein Technikfreak aus ihrer Klasse würde ihn reparieren.

Aus Gesprächen in ihrem Bekanntenkreis wusste sie, dass Probleme zwischen Müttern und ihren pubertierenden Töchtern normal waren. Aber dennoch hatte Annie das Gefühl, in Bezug auf ihre Familie auf ganzer Linie versagt zu haben. Und jetzt das! Sobald wieder eine der Türen geöffnet würde, würde sie erneut nach ihrer Tochter fragen. Bisher hatte sie für jede dieser Fragen Schläge bekommen. Das war ihr nun egal. Ron war tot. Sie musste wissen, wie es Linda ging.

Geistesabwesend nickte Annie stereotyp mit dem Kopf, während diese Gedanken in ihren Hirnwindungen kreisten. Ihre Arme hatte sie vor ihrer Brust verschränkt, mit der rechten Hand hielt sie das zerrissene Hemd zu. Ihre Knie waren angewinkelt, ihre nackten Füße ruhten auf dem Sitzpolster. Sie zitterte. Sie weinte. Ihre düsteren Gedanken versetzten sie in eine Art Trance, als ob sie auf diese Weise das Geschehene besser verarbeiten könnte. So bekam sie gar nicht mit, als der eine Flügel der großen Eingangstür zum Speisesaal leise geöffnet wurde.

»Mom!«

Wie in Zeitlupe drehte Annie den Kopf und erblickte die Gestalt, die wie aus dem Nichts plötzlich neben ihr stand. Die junge Frau trug ein blaues orientalisches Gewand und einen schwarzen, mit Goldrand verzierten Schleier.

»Linda?« Erst jetzt erwachte Annie aus ihrer Lethargie. Ihr Puls beschleunigte sich. »Linda, was haben sie mit Dir gemacht?«

»Es ist alles in Ordnung, Mom.«

»Alles in Ordnung?« Annie war fassungslos. »Nichts ist in Ordnung, mein Schatz! Wir sind hier gefangen und Dein Vater ist tot!«

»Mein Stiefvater«, beeilte sich Linda zu verbessern, »ich weiß. Sie haben ihn vom Turm gestoßen.« Linda formte den letzten Satz mit ruhiger Stimme, sachlich und emotionslos.

»Hast Du das mitansehen müssen?«, rief Annie entsetzt.

»Ja.«

»Oh, mein Gott! Mein armer Schatz!« Annie versuchte nach der Hand ihrer Tochter zu greifen.

»Mom, bitte!«, wehrte Linda energisch ab. »Ron war schwul. Er hat Dich betrogen und er hat seine gerechte Strafe bekommen.«

Annie war einfach nur noch sprachlos und entsetzt. Nicht nur, dass diese Leute ihre Tochter in dieses Gewand gesteckt hatten, sie hatten ihr auch noch eine Gehirnwäsche verpasst.

»Haben diese Verbrecher Dir etwas angetan?«, fragte Annie besorgt.

»Ich bin immer noch Jungfrau, wenn Du das meinst«, antwortete Linda abweisend.

»Du weißt ja nicht, wozu diese Leute fähig sind«, ereiferte sich Annie. »Wir mussten es mit ansehen!«

»Was musstet Ihr ansehen!«, keifte Linda zurück. »Die Bitch ist gesteinigt worden, weil sie sich nackt fotografieren ließ und in Pornofilmen mitgemacht hat. Im Übrigen warst Du es, der Abdul darauf aufmerksam gemacht hat, was auf der Speicherkarte von Randy Stephens Kamera zu sehen ist.«

»Weil er mich bedroht hat! Und weil ich eine Scheißangst hatte! Ich war als erstes Hinrichtungsopfer ausgewählt worden! Vergiss das nicht!« Annie verstand überhaupt nichts mehr. Warum eigentlich musste sie sich vor ihrer Tochter rechtfertigen?

»Tja, und dann war da noch der Ausbruchsversuch der Männer – Total unnötig, wenn Du mich fragst. Und wenn Du danach die Peitsche etwas kräftiger geschwungen hättest, wäre die Strafe für Ron und Dich nicht ganz so heftig ausgefallen.«

»Du warst dabei?«, fragte Annie nach einer Pause fassungslosen Schweigens.

»Klar doch! Das wollte ich mir nicht entgehen lassen.«

Soweit die Situation es zuließ, dass Annie überhaupt einen klaren Gedanken fassen konnte, so dämmerte es ihr langsam, dass ihre Tochter sich unter den Geiselnehmern frei bewegen konnte. Betrachteten sie sie nicht als Gefangene? Hatten sie ihr wirklich nichts angetan?

»Warum hast Du denen erzählt, Ron sei schwul?«, fragte sie schließlich.

»Habe ich gar nicht. Dafür hat schon so eine Reporterin vom 'Santa Barbara Channel Six' gesorgt. Die muss unsere ganze Nachbarschaft ausgefragt haben. Die wusste alles über uns! Das kam heute Morgen im Frühstücksfernsehen kurz bevor bekannt wurde, wer hingerichtet wird. Es sollte sozusagen die Vorstellung der Todeskandidatin werden. Ich glaub', diese Bitch war richtig enttäuscht, dass es am Ende doch nicht Du warst, die gesteinigt wurde.« Linda versuchte, zwanghaft zu lachen.

»Wäre Dir das etwa lieber gewesen?«

»Damit Du es genau weißt: ich war es, die Dir den Arsch gerettet hat.«

Annie blieb der Mund offen stehen. »Linda?«

»Linda gibt es übrigens nicht mehr. Ich heiße jetzt Aishe!«

Mit diesen Worten machte sie kehrt und verließ grußlos den Speisesaal. Zurück blieb Annie, die ihr Gesicht in ihren Händen vergrub und erneut in hoffnungsloser Lethargie erstarrte.

 

***

In Panik rannte Fernando Llorente den Abhang hinunter. Dornige Zweige schlugen in sein Gesicht.

»Fernando, gleich haben wir Dich!« »Fernando bleib stehen, Du Feigling!«

Aber der Junge rannte weiter. Sie durften ihn nicht erwischen – auf gar keinen Fall!

»Gleich haben wir Ihn!«

Die Rufe kamen näher. Fernandos Puls raste. Als er über einen Baumstumpf stolperte, knallte er mit dem Kopf gegen einen Stein und verlor kurz das Bewusstsein. Das nächste, woran er sich erinnern konnte, waren die Druckschmerzen und den Würgereiz, die er fühlte, als Juan mit dem Fuß seinen Hals zu Boden drückte.

»Du perverser kleiner Spanner!«, schrie Juan. »Hat Dich das angemacht?«

Jetzt erinnerte Fernando sich wieder. Er war in Juans kleine Schwester Rosita verknallt. Immer wieder war er abends um das Haus der Familie Olmedo herumgeschlichen und hatte Rosita heimlich beobachtet. Das Haus auf dem Nachbargrundstück war leer und halb verfallen. Von hier aus hatte Fernando einen ungehinderten Blick in Rositas hellerleuchtetes Zimmer – bis sie die Vorhänge zuzog. Dann fuhr Fernandos Phantasie Achterbahn bis zu dem Moment, als das Licht erlosch.

Aber heute hatte das Mädchen den einen Vorhang nur unvollständig zugezogen. Nachlässigkeit oder Absicht? Für Fernando gab es jetzt kein Halten mehr. Er verspürte ein nervöses Kribbeln im Bauch, als er sein Versteck verließ, zum Fenster eilte, eine Holzkiste aus dem Hof holte und unter das Fenster stellte. Aber der Raum war leer. Wo war Rosita? Durch den Spalt konnte er nur einen kleinen Teil des Raumes überblicken. Lag sie bereits im Bett, das direkt unter dem Fenster stand?

Er musste wohl so zehn Minuten gewartet haben, als unversehens die Tür aufging und Rosita den Raum betrat. Sie hatte ein Badehandtuch unter ihren Achseln geschlungen. Ein zweites Handtuch war um ihre nassen Haare gewickelt. Sie hatte gebadet oder geduscht. Und außer dem Handtuch hatte sie nichts an! Allein der Anblick der entblößten Schultern erregten Fernando – bis die alte Holzkiste unter ihm zusammenbrach.

Nachdem Fernando sich wieder aufgerichtet hatte, musste er erkennen, dass Rositas Vorhänge nun vollständig zugezogen waren. Aus dem Haus waren die Stimmen mehrerer Personen zu vernehmen. Fernando rannte los.

Jetzt hatten Juan und ein weiterer Junge, den er nicht kannte, ihn eingeholt und drückten ihn zu Boden. Mit einer Taschenlampe leuchteten sie in sein Gesicht und blendeten ihn.

»Los, drück ihm die Kehle zu!«, schrie der Andere.

»Ich hab eine bessere Idee«, antwortete Juan und lockerte den Druck auf Fernandos Hals. »Ich halte ihn fest. Zieh ihm seine Hose aus!«

Fernando strampelte, aber jede Gegenwehr war zwecklos. Seine Widersacher waren größer und kräftiger. Zudem war es dunkel, die Taschenlampe war erloschen. Er spürte, wie einer der beiden seinen Oberkörper zu Boden drückte, während der andere sich auf seine Unterschenkel setzte. Danach durchfuhr ein stechender Schmerz seine Beckenregion, als seine Weichteile umfasst und fest zusammengedrückt wurden. Wenig später verlor er das Bewusstsein.

Als Fernando wieder erwachte, dämmerte es bereits. Er war allein. Er fasste sich zwischen die Beine und spürte seine geschwollenen Hoden, die immer noch höllisch schmerzten. Ferner roch es penetrant nach Urin. Hatte er sich eingenässt oder hatten die beiden sich über ihm entleert? Fernando unterdrückte den aufkommenden Würgereiz. Panisch blickt er zur Seite, als es im Gebüsch neben ihm raschelte. Als sich das Geäst teilte, erschien Abdul Sahir. Er beugte sich über Fernando und setzte ein Messer an seinem Hals an.

»Fernando! Mr. Llorente, aufwachen!«

Fernando fuhr herum, als er eine Berührung an seiner Schulter spürte. Er blickte sich um. Er lag auf einer Pritsche in einem Raum, in den er nach dem Verhör gebracht worden war. Verflucht, hörten diese Alpträume denn nie auf?

»Mr. Llorente, stehen Sie auf! Die Vernehmung wird fortgesetzt.«

Wer war diese Frau, die sich anmaßte, ihn derart dominant anzuherrschen? Fernando war noch viel zu benommen, um darüber nachzudenken. Er stand auf und folgte der Frau ohne Widerspruch in den Nebenraum.

»Was geschah, nachdem Sie die Grube im Raubtiergehege ausgehoben hatten und wieder zum Castle zurückgebracht worden waren?« Barbara Watts verschwendete keine Zeit damit, sich Fernando namentlich vorzustellen.

»Wir wurden wieder auf die Gästehäuser verteilt – Männer und Frauen getrennt.«

»Waren Sie allein in dem Gästehaus eingesperrt oder waren Sie ständig unter Beobachtung?«

»Nein, wir waren allein. Die Tür war verriegelt. Wir konnten nicht fliehen.«

»Und da haben Sie den Ausbruch geplant!«

»Wie ich schon sagte: es war Clive Osbournes Idee. Ich habe lediglich den Hinweis auf die Bodenklappe gegeben.«

»Wie war die Stimmung in der Gruppe?«, wollte Barbara nun wissen, »was haben Sie gemacht, wenn die Geiselnehmer nicht im Raum waren?«

»Eigentlich gar nichts«, antwortete Fernando etwas verunsichert. »JJ Berson, unser Busfahrer hat in der Ecke gesessen und in einer Bibel gelesen und gebetet. Er ist sehr religiös – wissen Sie?«

Als Psychologin interpretierte Barbara dieses 'wissen Sie?' als Unsicherheit. Ihr Gegenüber erwartete von ihr ein zustimmendes Nicken. Sie aber zeigte keinerlei Regung. Eiskalt blickte sie in Fernandos Gesicht. Dieses Würstchen würde sie auch ohne Spritze kleinkriegen.

»Ja, und dann war da noch Martin – Martin Frazer, der die Touristen durch das Schlossgelände führt. Der hat alle Bücherschränke ausgeräumt.«

»Wie darf ich das verstehen?«

»So, wie ich es sage. Vor dem Fluchtversuch stapelten sich die Bücher auf dem Tisch und auf dem Boden vor den leeren Regalen.«

»Auch eine Art der Beschäftigungstherapie«, dachte Barbara. Als Psychologin kannte sie das Phänomen, dass Menschen auf Gefahrensituationen und Stress mit irrationalen Übersprunghandlungen reagieren. »Und wie haben die Geiselnehmer darauf reagiert?«, wollte sie wissen.

»Die haben ihn angeschrien, aus dem Raum gezerrt und nach zehn Minuten zurückgebracht. Sie haben ihn grün und blau geprügelt.«

»Hat er etwa versucht, sich einen Schutzwall aus Büchern zu bauen?«

»Also wenn Sie mich fragen«, begann Fernando etwas zögerlich, nachdem er aufgehört hatte, sich über diese Frage zu wundern, »Martin hat einen ganz eigenartigen Bezug zu Büchern. Er ist studierter Historiker und für den Job als Touristenführer reichlich überqualifiziert. Er mochte es überhaupt nicht, wenn man ihn darauf angesprochen hat. Er würde lieber gelangweilte Besucher durch das Schloss führen, als selbst arbeitslos zu Hause herumzusitzen. Angeblich hat er seine Abschlussarbeit an der Universität über Hearst Castle geschrieben. «

»Lassen Sie uns über Ihre Flucht reden!« Abrupter Themenwechsel gehörte zu Barbaras Verhörstrategien. Ihrer Meinung nach erhöhte das die Chance, dass ihr Gegenüber sich in Widersprüche verwickelte. »Erzählen Sie bitte genau und der Reihe nach, was Sie und die anderen Geiseln gemacht haben.«

»Clive Osbourne hat die Kommandos gegeben. Mich hat er als Erster durch die Bodenklappe geschickt, weil ich mich auskannte. Aber unter der Klappe ging es tiefer herunter als ich das in Erinnerung hatte. Als ich mich mit den Ellenbogen an den Kanten der Öffnung abstützte, hatten meine Füße noch keine Bodenberührung. Ich habe mich dann einfach fallen lassen.«

»Hat das keine Geräusche verursacht?«, unterbrach Barbara seine Schilderung.

»Ja, das hat es. Da war jede Menge Geröll und Geäst unter der Plattform des Gästehauses. Dieser Bereich liegt genaugenommen außerhalb des Schlossgeländes, daher pflege ich dieses Gelände nicht.«

Barbara nickte verständnisvoll. Warum meinte der Gärtner sich rechtfertigen zu müssen? »Sind die anderen auch durch die Klappe gesprungen?«

»Nach mir kam Ron Patterson und danach Henry Holford, der Lehrer. Als nächstes war Randy Stephens dran, aber da gab es wohl Probleme. Er war zu dick. Er sollte seine Hose ausziehen und seine Arschbacken einseifen.«

Erneut verriet Barbaras Gesichtsmimik keine Regung. Sie irritierte Fernando, indem sie unbeirrt in seine Augen starrte.

»Aber dann hörten wir Rufe und Schritte. Die Männer hatten unseren Ausbruch bemerkt. Ich bin dann einfach losgerannt – immer nur den Abhang hinunter.«

Fernandos Stimme begann zu zittern. In seinem Kopf verschmolzen die Erinnerungen von der letzten Nacht mit der Hatz, die Juan und dessen Bruder auf ihn veranstaltet hatten, als er noch ein pubertierender Junge war und in Rosita verknallt war.

»Ich habe mich dann versteckt und gewartet, bis es dämmerte. Ich bin dann noch etwa eine Meile gelaufen, bis Ihre Männer mich gefunden haben.«

»Haben Sie mitbekommen, was mit den anderen passiert ist?«

»Nein«, antwortete Fernando tonlos. Sollte er sich wie ein Feigling fühlen und jetzt ein schlechtes Gewissen haben?

Aber Barbara Watts hatte keineswegs vor, ihm mitzuteilen, dass der Fluchtversuch für die anderen gescheitert war und eine üble Züchtigung zur Folge gehabt hatte. Stattdessen verunsicherte sie ihn. »Ich unterbreche jetzt das Verhör. Sie gehen zurück in Ihre Zelle.«

»Meine Zelle?« Bis zu diesem Zeitpunkt war dem Gärtner gar nicht bewusst gewesen, dass er verhaftet worden war. Niemand hatte ihm seine Rechte vorgelesen!

»Sie haben schon richtig gehört!«, entgegnete die Psychologin schroff, als einer der uniformierten Wärter bereits in der Tür stand.

 

***

Warren Boyles Puls raste. Nach Jahren der Suche wähnte er sich endlich am Ziel. Er hatte sich in das 'Haus der Meere' geschlichen und belauschte von einem Nebenzimmer aus das Gespräch zwischen Ex-Präsident Coolidge und Ex-Minister Churchill. Sie sprachen über die Lusitania! Das war weit mehr als er jemals zu träumen gewagt hatte.

»Steht alles da drin. Damit wird Ihre Rolle in der Lusitania-Affäre in einem ganz anderen Licht erscheinen. Die Historiker kommender Generationen werden verstehen, warum Sie so gehandelt haben und warum es zur Versenkung der Lusitania keine Alternative gab. Aber Winston, ich gebe Ihnen einen Rat: lassen Sie den Umschlag versiegelt, sonst behauptet noch jemand, das Dokument sei gefälscht. Die Nachwelt wird es Ihnen danken. «

»Ich werde nur im Notfall davon Gebrauch machen«, antwortete Churchill erleichtert und legte den Umschlag auf den antiken Schreibtisch, der Teil der gediegenen Einrichtung seines Gästezimmers war.

»Haben Sie Dank, lieber Freund«, fuhr er fort und blickte dabei auf seine Taschenuhr. »Es ist Zeit. Wir sollten ins Schloss gehen.«

Kaum hatten die Männer das Gästehaus in Richtung Speisesaal verlassen, wagte sich Warren aus seinem Versteck und betrat den Salon. Dort auf dem Tisch! Mit zitternder Hand griff er nach dem Umschlag. Dieser war verschlossen und trug das Siegel des Präsidenten. Von 'Pandora' hatte Coolidge gesprochen und Churchill wusste sofort, was er meinte. Warren hatte diesen Begriff in Zusammenhang mit der Lusitania noch nie gehört. War das der Schlüssel, um das Rätsel von Leonards Tod zu lösen? Warren musste unbedingt wissen, was in dem Dokument stand.

Aber was sollte er tun? Das Siegel des Präsidenten aufzubrechen wurde als Spionage geahndet. Er musste vorsichtig sein! Mit der Spitze des Brieföffners sondierte er den Rand des Siegels. Er suchte eine Stelle, an der der Siegellack nicht  in das Papier des Umschlags eingedrungen war. Warrens Absicht war, das Siegel vom Papier zu lösen, das Dokument zu lesen und anschließend das Siegel wieder mit Klebstoff auf dem Papier zu fixieren.

Schnell wurde er fündig. Behutsam führte er die Spitze des Brieföffners in den kaum sichtbaren Zwischenraum und schon war es passiert: der spröde Siegellack zersplitterte! Panik stieg in Warren auf. Jetzt gab es nur noch eines: er musste das Dokument an sich nehmen. Hastig kehrte er mit der Hand die Brösel des Siegels zusammen.

Das Dinner im Hearst Castle erstreckte sich über mindestens zwei Stunden. Danach würde Churchill das Fehlen des Dokuments bemerken und Alarm schlagen. Warren hatte nicht viel Zeit. Er entnahm dem Kuvert das Dokument.  Zu seiner Enttäuschung war der Text knapp und äußerst kryptisch abgefasst.

Sein Bruder Leonard war nicht namentlich erwähnt. Es war nur von einem Agenten und der Geheimsache 'Pandora' die Rede. Entscheidend war nur der Satz: 'In Absprache mit dem Ersten Lord der Admiralität wurde der Verlust der Lusitania billigend in Kauf genommen, um die Geheimoperation Pandora zu unterlaufen. Ausschlaggebend für diese Entscheidung war die Abwägung der zu erwartenden Todesopfer.'

Warren las den Text Wort für Wort immer und immer wieder. Welche Todesopfer sollten da abgewogen werden? Was um Himmelswillen war die Geheimoperation Pandora und wieso hätte sie mehr Todesopfer gefordert als die Versenkung der Lusitania?

 

***

Eine schwarze Flagge mit arabischen Schriftzeichen verunzierte die weißen Marmorsäulen der klassizistischen Kolonnaden des Neptun-Pools neben dem Hearst Castle. Eine Weile hielt Muhamed Said mit der Kamera auf die Flagge, ehe er auf Abdul Sahir schwenkte, der neben der Flagge stand und in ein Mikrophon sprach:

»Die amerikanische Regierung hat bisher keine einzige unserer Forderungen erfüllt. Unsere Märtyrer sind immer noch in Guantanamo gefangen, die Folterknechte aus Abu Greib und Guantanamo sind nicht an uns ausgeliefert worden. Five-O-Seven wird sich in das Gedächtnis der Amerikaner einbrennen wie Nine-Eleven! Wie angekündigt wird hier und jetzt eine weitere Geisel sterben!«

Abdul Sahir nickte Muhamed zu, der die Kamera weiter nach links schwenkte. Am Rande des Pools kniete Jean-Jacques Berson. Hinter ihm stand Lamin Jammeh, der auf jegliche Maskierung verzichtete. Offen zeigte er seine grinsende Fratze. Kurz zoomte die Kamera auf das verängstigte, schweißnasse Gesicht des Busfahrers, um danach noch weiter nach links zu schwenken. Hier standen am Rande des Schwimmbeckens aufgereiht und aneinander gekettet die übrigen Geiseln. Akustisch untermalt wurde die Szene von einigen unverständlichen islamischen Gebetsfloskeln.

Annie Patterson war in sich zusammengesunken und musste von Randy Stephens und Clive Osbourne gestützt werden. War sie überhaupt bei Bewusstsein? Lynn Holford zitterte am ganzen Körper. Die schweren Ketten an ihren Handgelenken hinderten sie nicht daran, ihr Gesicht in den Händen zu vergraben. Ihr Mann Henry hatte das Bedürfnis, sie zu umarmen. Die Ketten ermöglichten ihm nur, dass er ihr unter den Arm griff. Das von zahllosen Schlägen gezeichnete Gesicht Martin Frazers starrte teilnahmslos ins Leere.

Nun traten zwei weitere Personen hinter den Säulen hervor: die mit einem Kopftuch verhüllte Linda im blau-schwarzen Hijab und Timmy, gekleidet in einen schwarzen Kaftan.

»Timmy!« Jetzt erkannte auch Lynn ihren Sohn. »Timmy! Was haben Sie mit Dir gemacht?« Verzweifelt zerrte sie an ihren Ketten. Fast wäre sie in das Becken gestürzt und hätte die anderen Geiseln mitgezogen.

»Schweig, Du blödes Weib!«, herrschte Abdul sie an.

Wie zwei willenlose Kreaturen schritten die Kinder am Beckenrand entlang und stellten sich rechts und links hinter Lamin Jammeh auf. Dieser erhob nun seine Stimme zu einem gebetsmühlenartigen Singsang, packte Berson am Kragen und zückte eine Machete.

»Oh Mutter Gottes Maria, die Du bist ….«, stammelte der Delinquent, während er sich vor Angst einnässte. Der Rest seines Stoßgebetes ging in einem animalischen Gurgeln unter, als die Klinge des Scharfrichters die Seite seines Halses öffnete. Der Blutschwall aus der Halsschlagader ergoss sich direkt in das Wasser des Neptun-Pools, wo sich eine rosarote Wolke bildete. Bersons Körper sackte leblos zu Boden. Der Unmensch kniete auf dem Rücken seines Opfers, während er den Kopf an den Haaren packte und nach oben verdrehte. Dreimal musste er ansetzen, bis die Machete sich einen Weg zwischen den Halswirbeln bahnte.

Jetzt gab es für die übrigen Geiseln kein Halten mehr. Entsetzt schrien sie auf, zerrten an ihren Ketten und versuchten, sich abzuwenden. Einige übergaben sich.

»Hört auf zu heulen, Ihr elenden Feiglinge!« Abdul war auf die andere Seite des Pools gerannt und traktierte seine noch übrig gebliebenen Gefangenen mit der Peitsche. »Schaut hin, oder ich schlage Euch tot!«

Aber auch einer wie Daniel Slatkin alias Abdul Sahir musste einsehen, dass sich Todesangst und Hysterie nicht mit Peitschenhieben ersticken ließen. Mittlerweile lagen alle Geiseln am Boden, nachdem sie über ihre Ketten gestolpert waren. Alle schrien durcheinander und keiner schaute hin, als Timmy mit ernster und eiskalter Miene den abgetrennten Kopf in die Höhe hielt. Linda stand neben ihm und klatschte in die Hände.

 

***

Paula Webber hatte vor Schreck ihr Telefon fallen lassen. Verärgert fielen ihre Blicke zuerst auf die zerbrochene Scheibe und danach auf den Stein, der neben ihr auf dem Teppich gelandet war. Draußen hörte sie einen Wagen davonrasen.

»Blöde Wichser!«, fluchte sie und hob das Telefon auf. »Jon, bist Du noch dran?«

»Was hast Du gerade gesagt?«

»Nein, damit habe ich nicht Dich gemeint«, beschwichtigte sie ihren Boss. »Irgendein Idiot hat mir einen Stein ins Wohnzimmer geschmissen. Hier liegen überall Scherben.«

»Bist Du verletzt?«

»Nein, ich glaube nicht.«

»Dann komm jetzt bitte in die Redaktion!«

»Ich muss erst die Polizei rufen wegen der Versicherung.«

»Vergiss es! Den Schaden übernehmen wir. Aber wir brauchen Dich jetzt hier und zwar dringend! Die Situation im Hearst Castle spitzt sich zu. Es sind Gerüchte im Umlauf, dass ein Zugriff durch eine Spezialeinheit unmittelbar bevorsteht.«

Das passte dem Miststück jetzt so gar nicht in den Kram. Sie war es gewohnt, selbständig zu arbeiten. Aber Jon war nicht der Typ von Boss, mit dem man sich auf Diskussionen einließ. Geschickt tippelte sie zwischen den Glasscherben zum Schreibtisch, klappte Lindas Notebook zu, griff nach dem Autoschlüssel und eilte zur Haustür.

Als sie die Haustür öffnete, erlitt sie den nächsten Schock. Die Gestalt vor der Tür entlockte ihr einen erstickten Schrei. War der Steinewerfer zurückgekommen?

»Ms. Webber? Paula Webber?«

Das Miststück versuchte die Tür zuzuschlagen, aber da hatte der Eindringling bereits einen Fuß über die Schwelle gesetzt.

»Was wollen Sie? Ich rufe die Polizei!« Paula bekam es mit der Angst zu tun.

»Nicht nötig. Ich bin Special Agent Morris.«

Vor der Nase der Dreckschleuder baumelte eine FBI-Dienstmarke.

»Das ist jetzt sehr ungünstig. Ich muss zur Arbeit.« Paula versuchte sich an dem Mann vorbeizudrängeln.

»Arbeit nennen Sie das, was Sie da machen? Wessen Notebook ist das?«

»Meines natürlich! Wessen denn sonst?«

Dieser Morris hatte offensichtlich den richtigen Riecher. Selbst eine derart unter der Gürtellinie recherchierende Reporterin wie diese Paula Webber beklebte kaum ihr Notebook mit glitzernden Aufklebern und schon gar nicht mit den Initialen 'LH'.

»Wissen Sie, was ich vermute, Ms. Webber?«, konterte Morris, während er die überrumpelte Frau durch einen Schritt nach vorne ins Haus drängte, »LH steht für Linda Howard. Sagt Ihnen der Name etwas?«

»Linda Howard? Nein, der Name sagt mir rein gar nichts. Bitte verlassen Sie mein Haus. Ich muss zur Arbeit.«

»Das sagten Sie bereits. Linda Howard ist die Tochter von Annie Patterson. Ron Patterson ist ihr Stiefvater. Oder haben Sie den Namen Patterson auch schon vergessen?«

Der sarkastische Ton dieses Agents machte das Miststück sichtlich nervös. Das Notebook hielt sie sich schützend vor die Brust – vergeblich.

»Der Computer ist hiermit beschlagnahmt!« Mit diesen Worten entriss Morris der verdutzten Reporterin das Gerät und schritt weiter in Richtung Wohnzimmer.

»Was ist denn hier passiert?«, fragte er, als unter seinen Sohlen eine Glasscherbe knackte.

»Die Fensterscheibe«, stotterte die sonst so selbstbewusste Paula, »jemand hat einen Stein dagegen geworfen.«

Morris ging nicht weiter darauf ein. Wortlos blickte er sich um. Er suchte nach Anhaltspunkten sowie nach weiteren Gegenständen, die er beschlagnahmen könnte. Ein Notizbuch fiel ihm ins Auge. Er blätterte es durch.

»Sie haben kein Recht, hier zu sein! Ich möchte, dass Sie jetzt gehen!«

Morris grinste, während er sich nach Paula Webber umdrehte. Aber dieses Grinsen erstarb, als er sah, dass die Frau eine Glasscherbe vom Boden aufgehoben hatte und sich damit eine Schnittwunde auf der Innenseite des Unterarmes zufügte.

»Verflucht, was machen Sie da?« Eilig legte Morris das Notizbuch zur Seite, und rannte Richtung Ausgang. »Legen Sie sich hin!« Er rannte zu dem Dienstwagen, mit dem er hierher gekommen war, um einen Notruf abzusetzen. Seiner Erfahrung nach, konnte er über das Funkgerät schneller Hilfe herbeirufen, als über die neun-eins-eins von einem normalen Telefon – in San Francisco war das jedenfalls so.

Kaum hatte er einen Krankenwagen zu Paulas Adresse beordert, lief er zurück ins Haus, um erste Hilfe zu leisten und die Schnittwunde zu versorgen. Irritiert schaute er sich um, als er wieder im Wohnzimmer stand.

»Fuck!«, rief Morris. Es dauerte eine Weile, bis er feststellte, dass dieses raffinierte Weib ihn ausgetrickst hatte. Sie war über den Hintereingang getürmt. Und das Notebook hatte sie mitgenommen!

 

***

»Damit fällt Jean-Jacques Berson als Verdächtiger ja nun aus«, stellte Director Crain nüchtern fest, als das eben veröffentlichte Video von dessen Hinrichtung allen Anwesenden gezeigt wurde.

»Nicht unbedingt«, gab Harvey zu Bedenken, »wenn er es war, der den Terroristen geholfen hat, dann haben sie ihn nicht mehr gebraucht. Vielleicht sind sie ihn auf diese Weise losgeworden.«

»Wer von den Angestellten ist jetzt noch übrig?«, fragte Crawford.

»Martin Frazer, der die Führungen durch das Schloss organisierte«, antwortete Georgina.

»Was haben Sie über ihn herausbekommen?«

»Noch gar nichts. Ausgerechnet ihn habe ich mir bis zum Schluss aufgehoben«, rechtfertigte sich Georgina. »Wir hatten uns bisher auf den Gärtner und den Busfahrer konzentriert – und auf Gina Hines.«

»Gina Hines ist immer noch verdächtig – durch ihren Selbstmord erst recht!«, mischte sich Barbara Watts ein.

Georgina ging drauf nicht ein. Sie hatte diese Frau von Anfang an nicht gemocht. Seit sie Ohrenzeugin davon geworden war, wie diese angebliche Psychologin mit Gina umgegangen war, empfand sie nur noch Hass für Barbara.

»Ich werde mich sofort um Frazer kümmern«, sagte sie stattdessen.

»Nein, Georgina, das können Sie verschieben.«, intervenierte Crain. » Haben Sie auf dem Video sein Gesicht gesehen? Er ist brutal verprügelt worden. Ferner steht der Zugriff unserer Leute unmittelbar bevor. Überwachen Sie lieber die Satellitenbilder! Sobald es losgeht, brauche ich laufend einen Lagebericht in Echtzeit.«

»Aber bis es soweit ist, kann ich die Zeit doch nutzen!«, widersprach Georgina.

»Georgina«, meinte Crain mit einem Anflug von väterlicher Fürsorglichkeit, »Sie sind seit über vierundzwanzig Stunden im Dauereinsatz. Und die Sache ist noch lange nicht vorbei. Ruhen Sie sich etwas aus!«

»Wo denn? In einer Zelle im Container nebenan? So wie Gina Hines?«, entgegnete Georgina trotzig.

»Ms. May!« Jetzt wurde der Director förmlich. »Ich bin Director beim FBI in Los Angeles und Sie arbeiten in San Francisco. Aber solange wir hier in diesem verfluchten, stickigen Einsatzmobil zusammenarbeiten, bin ich Ihr Vorgesetzter!«

Jetzt hatte Georgina wirklich eine Pause nötig. Wütend verließ sie den Truck. Sie erklomm eine kleine Anhöhe neben dem Parkplatz. Tiefrot war die Sonne über dem Pazifik untergegangen. Die kalte Seeluft umwehte ihr Gesicht. Sie atmete tief durch. Wie gern hätte sie jetzt Mike angerufen. Aber sie hatte schon genug Ärger am Hals. Das kleinste Dienstvergehen und sie würde womöglich von diesem Fall abgezogen werden. Womöglich wäre dann auch ihre Beförderung zum Special Agent in Gefahr. Als ihr Diensthandy klingelte, war sie fast schon erleichtert, dass es nicht Mike war. Stephens Nummer erschien auf dem Display.

»Stephen?«

»Georgina, kannst Du reden?«

»Ja, ich bin außerhalb des Trucks.«

»Ich war bei dieser Paula Webber, der Skandalreporterin.«

»Und?«

»Sie hat mich gelinkt! Sie ist abgehauen!«

»Was!« Georgina musste lachen. »Stephen, wirst Du langsam zu alt für den Job?«

»Das ist nicht witzig, Georgina.« Wow! Da war einer am anderen Ende der Leitung so richtig sauer! »Sie hat den Laptop von Linda Howard, der Tochter von Annie und Ron Patterson. Ich weiß nicht, wie sie da herangekommen ist, aber das Gerät scheint ihr sehr wichtig zu sein. Ich hatte es ihr abgenommen, aber sie hat es mitgenommen, als sie vor mir geflohen ist. Du musst versuchen, Dich in ihren Computer zu hacken.«

»Das würde ich gerne, Stephen, aber hier drehen alle durch. Vorhin wurde ein neues Hinrichtungsvideo veröffentlicht. Den Busfahrer haben sie geköpft. Jetzt steht der Zugriff unmittelbar bevor. Ich wollte gerade damit anfangen, alles über Martin Frazer zu recherchieren, aber Crain lässt mich nicht.«

»Was heißt das, er lässt Dich nicht?«

»Ich soll während des Zugriffs die Satellitenbilder überwachen und mich vorher ausruhen. Klingt nach einem Vorwand, wenn Du mich fragst. Andererseits kann ich etwas Ruhe gebrauchen. Ehrlich gesagt, gehe ich hier auf dem Zahnfleisch.«

»Na, wer ist denn hier zu alt für den Job?«

Georgina gluckste wie ein Teenager. So eine ironische Frage hatte sie von ihrem coolen Kollegen Morris gar nicht erwartet.

»Das Problem ist, Stephen, wenn diese Paula mit Lindas Notebook auf der Flucht ist, ist dieser wahrscheinlich offline. Ich kann höchstens schauen, ob Linda Howard in den einschlägigen Social Networks unterwegs war.«

»Genau, Georgina! So gefällst Du mir schon besser!«

»Tja, und so nebenbei die Satellitenbilder überwachen und alles über Martin Frazer herausbekommen ….«, seufzte sie.

»Wozu sonst hast Du so viele Bildschirme an Deinem Arbeitsplatz?«

»Wie wäre es, wenn Du Deinen Arsch wieder hierher bewegst und Crain etwas ablenkst, damit er mich nicht so genau beobachtet?«

»Ich weiß zwar nicht wie ich das anstellen soll, aber ich werde mein Bestes tun. Ich bin sowieso schon wieder unterwegs. So in einer halben Stunde bin ich da.«

»Ms. May! Georgina, wo sind Sie denn?« Das war Crain, der quer über den Parkplatz brüllte.

»Ich komme ja schon!«, antwortete Georgina, die schnell ihr Handy verschwinden ließ.

»Es geht los, beeilen Sie sich!«

»Ich dachte, ich sollte mich ausruhen?« Provokant stolzierte die schwarze Datenanalystin an dem Director vorbei in Richtung der kleinen Treppe, die zur Eingangstür der mobilen Einsatzzentrale führte.

 

***

Zugern hätte Sanel Abdalla die Hinrichtung miterlebt. Am liebsten hätte er selbst das Messer am Hals dieses verfluchten Christen angesetzt. Schließlich hatte er Übung darin. Noch vor einem halben Jahr hatte er in Mossul an der Hinrichtung mehrerer regierungstreuer Soldaten teilgenommen. Dieses erhabene Hochgefühl, den abgetrennten Kopf eines Feindes hochzuhalten, hätte er gerne ein weiteres Mal erlebt.

Stattdessen musste er hier Wachdienst auf dem Turm schieben. Wofür eigentlich? Mittlerweile war es stockdunkel. Anrückende Truppen würden wohl kaum mit eingeschalteten Helmscheinwerfern den Hügel zum Schloss erklimmen. Und wenn schon! Er und seine Kumpanen hatten Sprengstoff unter ihren Westen. Im Falle eines Angriffs würden sie nicht zögern, den Zündknopf zu drücken, um so viele Feinde wie möglich mit in den Tod zu reißen.

Sanel war gerade erst zwanzig geworden. Er und seine Eltern im Irak waren arm, an die Gründung einer Familie war nicht zu denken. In Mossul hatte er einige Frauen getroffen, die sich freiwillig den Rebellen angeschlossen hatten, um für einen unabhängigen Islamischen Staat zu kämpfen. Aber sie waren den Kommandeuren vorbehalten. Niemand sonst durfte sie auch nur anschauen oder gar berühren.

Mit seinen zwanzig Jahren war Sanel daher noch ein Jüngling. Er hatte noch nie eine Frau unverschleiert oder gar unbekleidet gesehen – bis zur vergangenen Nacht. Da war diese blutjunge Aishe, eine der Geiseln. Von vornherein hatte Abdul den Jungen und sie von den erwachsenen Geiseln getrennt und gefügig gemacht. Während dem Jungen die Ehre zu Teil wurde, den ersten Stein gegen diese Hure zu werfen, war die jungfräuliche Aishe dazu auserkoren, die Gotteskrieger zu beglücken.

Sie hatten im Schloss auf dem Boden zusammengesessen, als Abdul die Jungfrau in ihre Mitte führte. Ohne ein Wort zu sagen, hatte sie ihren Schleier abgelegt und anschließend ihr Gewand zu Boden gleiten lassen. Sie streckte sich auf dem kühlen Fliesenboden aus und Lamin, Muhamed und er durften sie berühren. Er hatte ihre weichen Haare gefühlt, ihre kleinen Brüste gestreichelt und war mit der Hand über ihre Oberschenkel gefahren.

»Wenn unsere Mission hier beendet ist, werde ich entscheiden, wer von Euch diese Jungfrau bekommt«, hatte Abdul gesagt.

Danach hatte sich Aishe wortlos wieder erhoben, ihre Kleidungsstücke genommen und war aus dem Raum gegangen. Sanel hatte dieser Jungfrau nachgesehen, wie ihre schwingenden Hüften, ihr blasser Rücken und ihre kleinen Pobacken im Halbdunkel verschwanden. Seitdem musste er immerzu an dieses Mädchen denken.

Für den Bruchteil einer Sekunde wurde Sanel aus seinen süßen Erinnerungen gerissen, als ein durchdringendes Zischen die Luft zerschnitt. Von der Absicht, seinen Raketenwerfer in Anschlag zu bringen, blieb nur ein Zucken übrig. In diesem Moment zerbarst der Turm des Hearst Castle und Sanel Abdalla verdampfte in einem Feuerball.

Bereits seit zwanzig Minuten hatte eine Kampfdrohne hoch über Hearst Castle unbemerkt ihre Kreise gezogen und mit ihrer Zieloptik den Turm ins Visier genommen. Der Einschlag des abgefeuerten Lenkflugkörpers war das Signal zum Angriff durch eine Spezialeinheit. Wie aus dem Nichts näherte sich ein Hubschrauber und schwebte über dem Busparkplatz, während sich Soldaten abseilten, um bei Bodenkontakt unverzüglich hinter den Mauern in Deckung zu gehen. Keine dreißig Sekunden später drehte der Hubschrauber wieder ab. An mehreren Stellen im Schlossgarten explodierten Blendgranaten, die ebenfalls von Drohnen abgeschossen worden waren.

Nun brach das Chaos los. Hektisch gerufene Befehle, kurze Salven aus Maschinenpistolen, zerberstende Granaten und gellende Schreie von Menschen in Todesangst.

»Verdammt nochmal, ich brauche Informationen!«, schrie Commander Bryan Leaper in das Mikrophon seines Headsets. »Wo sind die anderen Geiselnehmer?«

»Ich weiß es nicht!«, antwortete Georgina genauso hektisch, »der Satellit ist ausgefallen. Ich habe kein Bild mehr!«

»Der Satellit ist ausgefallen? Lady, Sie machen Witze!«

Georgina raufte sich die Haare. Als Datenanalystin war sie hohe Arbeitsbelastung und Zeitdruck gewohnt. Aber das hier? Sie sollte die gelben und roten Männchen auf den Bildern, die der Satellit in  Echtzeit übermittelten, im Auge behalten und den Einsatzleiter dirigieren. Zuhause am Bildschirm wurde sie schon nervös, wenn Supermario über brennende Lava springen musste. Aber hier ging es um Menschenleben. Die Satellitenübertragung hatte perfekt funktioniert. Warum versagte sie ausgerechnet jetzt im entscheidenden Moment?

»Möglicherweise hat der grelle Feuerball die empfindlichen Sensoren beschädigt«, mutmaßte Ethan Crawford, der die Drohne ferngesteuert hatte, dessen Rakete Sanel Abdalla pulverisiert hatte.

»Das kann gar nicht sein«, entgegnete Georgina. »Wir haben die Infrarot-Sensoren kurz vor dem Einschlag abgeschaltet.«

»Dann schalte sie halt wieder ein!«

»Blödmann!«, war Georginas einzige Antwort auf Ethans Patentlösung. Für wie doof hielt er sie eigentlich!

»Leute, jetzt bloß nicht die Nerven verlieren!«, mahnte Crain.

»Die Kollegen in Langley sind gerade dabei, die Software neu zu booten.« Ethan versuchte, betont sachlich zu bleiben.

»Bis dahin sind die Geiseln tot und die Terroristen über alle Berge«, stellte Georgina verärgert fest.

Der ferne Donner der Schüsse und Explosionen drang durch die geschlossene Tür bis in die Einsatzzentrale.

»Wir werden angegriffen!«, hörten die Anwesenden Leaper durch den Lautsprecher. »Wir schießen jetzt auf alles, was sich bewegt!«

Obwohl das Mikrophon des Headsets so ausgesteuert war, das es nur Geräusche in wenigen Zentimetern Entfernung aufnahm, waren verzerrte Knallgeräusche und undefinierbare Schreie nun auch durch den Lautsprecher zu vernehmen.

Ein Trupp bestehend aus fünf Soldaten näherte sich dem Gästehaus, in dem sie die meisten der Geiseln vermuteten. Als sie vor einer verschlossenen Holztür standen, befestigte einer der Männer ohne zu zögern eine Haftmine mit Plastiksprengstoff unterhalb des Türschlosses. Zehn Sekunden blieben den Soldaten, um hinter der Hausecke in Deckung zu gehen.

Nachdem die wertvollen Schnitzereien der Tür sich in einem Umkreis von fünf Metern verteilt hatten, verließ der Trupp die Deckung, um ins Haus einzudringen. In diesem Moment stellte sich ihnen Lamin Jammeh in den Weg.

»Allah akbah!«, rief er, bevor er seinen Sprengstoffgürtel zündete. Sein Oberkörper zerplatzte wie eine Wassermelone. Die in den Sprengsatz eingearbeiteten Nägel trafen alle fünf Männer und blieben in deren kugelsicheren Westen stecken oder prallten an ihren Helmen ab. Lediglich Kopf und Arme des vordersten Mannes, der die Haftmine angebracht hatte, wurden durch die Wucht der Explosion abgetrennt. Die übrigen erlitten Verletzungen an den wenig geschützten Armen und Beinen.

Alarmiert durch die Explosion und die Schreie der Verletzten eilten zwei weitere Soldaten mit Maschinenpistolen im Anschlag zum Gästehaus.

»Da ist noch einer!«, rief Major Jake Arano, der stellvertretende Einsatzleiter, als er eine Gestalt mit langem Gewand aus dem Gästehaus laufen sah. Mit einem gezielten Kopfschuss streckte er den dritten Terroristen nieder, bevor dieser seinen Gürtel zünden konnte.

»Das war Nummer drei! Nummer eins war im Turm, Nummer zwei hat sich gesprengt. Einer fehlt noch!«

»Seid trotzdem vorsichtig!«, ermahnte Commander Bryan Leaper seine Leute.

Aus dem Gästehaus hörten die Männer ein leises Wimmern. Es war stockdunkel, denn vor dem Einsatz war die Stromversorgung zum Schloss gekappt worden. Ihre Helmscheinwerfer konnten sie nicht einschalten – viel zu riskant! Im Haus war die Lage zu unübersichtlich.

»Einer nach dem anderen herauskommen! Aber nehmen Sie die Hände hinter den Kopf! Wir sind Special Forces der US Army! Sie sind in Sicherheit! Ich wiederhole: nehmen Sie die Hände hinter den Kopf! Andernfalls schießen wir ohne Vorwarnung! Sobald Sie draußen sind, legen Sie sich auf den Boden!«

Diese Ansage kam von Arano. Das klang nicht gerade nach Sicherheit! Dennoch erschien unmittelbar nach dieser Ansage ein Mensch im zerstörten Türrahmen. Im fahlen Mondlicht erschien die orangefarbene Gefängniskleidung mausgrau.

»Nicht schießen! Mein Name ist Clive Osbourne, ehemals sechstes Marine Corps!«

»Dann wissen Sie, was zu tun ist, Kamerad! Hinknien! Arme oben lassen. Wie viele Personen sind noch im Haus! Wie viele Geiseln, wie viele Terroristen!«

»Zwei Frauen, zwei Männer. Keine Terroristen.«

»Wurden im Haus Sprengfallen angebracht?«

»Nein, ich glaube nicht«, antwortete Clive zögerlich.

»Okay, dann müssen die Leute hier raus.«

Einen Moment hatte Major Arano mit dem Gedanken gespielt, die Geiseln doch im sicheren Gebäude zu lassen, solange er noch keine endgültige Bestätigung hatte, dass wirklich alle Terroristen unschädlich gemacht worden waren. Jetzt musste er abwägen: außerhalb des Gebäudes waren die Menschen leichte Zielscheiben. Sollten aber doch Sprengfallen verlegt worden sein, könnte das schützende Haus zur Todesfalle werden. Auf die Mutmaßung eines ehemaligen Marines wollte er sich in dieser Situation nicht verlassen. Was immer er anordnete, es konnte genau das Falsche sein. Arano hasste das! Und dann diese verfluchte Dunkelheit!

Im Briefing vor dem Einsatz war berichtet worden, dass sich zwei Jugendliche unter den Geiseln befanden. Aus den Videos, die die Terroristen veröffentlicht hatten, war ersichtlich, dass der Junge zum Kindersoldaten umerzogen worden war. Lief er am Ende auch mit einem Sprengstoffgürtel über das Schlossgelände?

»So los, der Nächste!«, rief Major Arano in Richtung Tür.

In diesem Moment löste sich ein Schatten aus dem Gebüsch. Die Gestalt steckte ebenfalls in der Gefangenenkluft und hatte die Arme über dem Kopf erhoben.

»Wo kommen Sie jetzt her?«

»Nicht schießen!«

»Das ist einer von denen!«, schrie Clive, als er sich nach dem Mann umdrehte.

Einen Sekundenbruchteil zögerten die beiden Soldaten. Auf keinen Fall wollten sie einen Unschuldigen erschießen. Als dieser aber hektisch die Arme nach unten bewegte, gab es kein Zurück mehr. Muhamed Said wurde von zwei kurzen Salven aus den Maschinenpistolen durchsiebt und sank zu Boden.

»Bestätigen Sie! Ist das einer der Terroristen?« Für einen kurzen Moment schaltete Jake Arano seinen Helmscheinwerfer an und wies Osbourne an, näher zu kommen.

»Ja, das ist er!«

»Okay! Einer im Turm, der Selbstmordattentäter, der Mann, der vorher aus dem Haus kam und der hier! Wir haben sie alle. Wir können die Lichter anmachen!« Siegestriumph schwang in Aranos Anweisung mit.

»Commander, bitte kommen!«

»Major, ich höre.«

»Alle vier Geiselnehmer sind terminiert. Einer von unseren Männern ist tot, vier andere verletzt. Die Geiseln alle wohlauf. Wir müssen nur noch den Jungen finden.«

»Gut gemacht! Ich fordere Sanitätshubschrauber an. Generatoren anwerfen und Scheinwerfer einschalten!«

Erst jetzt, wo mehrere Strahler das Schloss in ein gespenstisches Licht hüllten, wurde deutlich, wie viele Männer hier im Einsatz waren und welches Equipment in wenigen Minuten im Schutze der Dunkelheit aufgebaut worden war.

Der Busparkplatz mutierte zum Hubschrauberlandeplatz. Eine Rauchpatrone signalisierte dem anfliegenden Piloten die Windrichtung. Auf dem größeren Parkplatz hinter dem Schloss setzte ein großer Transporthubschrauber zur Landung an. Im Laufschritt kam ein weiterer Trupp die Laderampe hinunter, um das Gelände zu sichern.

Auch Austin Harvey ließ es sich nicht nehmen, als Erster der Einsatzleitung am Tatort zu erscheinen. Jetzt war die Luft ja rein! Eine kugelsichere Weste trug er dennoch – war ja schließlich Vorschrift!

»Bringen Sie mich zu Commander Leaper und zwar schnell!«, herrschte er den erstbesten Soldaten an, der ihm über den Weg lief.

»Die sind alle vorne beim Gästehaus bei den Geiseln. Folgen Sie mir!«

Mittlerweile waren die überlebenden Geiseln aus dem Gebäude gebracht und möglichst schnell an den vor dem Gästehaus liegenden Toten vorbeiführt worden.

»Mein Name ist Austin Harvey, Homeland Security«, und blickte dabei in verstörte, geistesabwesende Gesichtszüge. »Sie werden unverzüglich in Sicherheit gebracht – sobald die verletzten Soldaten abtransportiert worden sind. God Bless America!«

»Was ist mit meiner Tochter?«, fragte Annie Patterson.

»Und mit unserem Sohn?«, stimmten die Holfords ein.

»Wir werden sie finden«, beruhigte Harvey, »wir haben jetzt genügend Einsatzkräfte hier, um das Schloss zu durchsuchen.«

»Mr. Harvey!« Es war Commander Leaper, der den Boss der Homeland Security auf die Seite zog.

»Was ist denn?«, fragte er ungehalten.

»Ich muss Ihnen etwas zeigen«, raunte der Commander. Da war etwas, was die Geiseln nicht mitbekommen sollten.

Leaper führte ihn zum Eingang des Gästehauses und leuchtete auf den Terroristen, den Major Arano eigenhändig mit einem gezielten Kopfschuss niedergestreckt hatte.

»Verflucht, wer ist das?«, rief Harvey entsetzt, als er die junge Frau erblickte. Aus dem Einschussloch über dem Ohr rann etwas Blut.

»Das kann nur Linda Howard sein«, meinte Leaper, »im Briefing war von einem vierzehnjährigen Mädchen unter den Geiseln die Rede.«

»Verdammt, passen Sie auf, dass die Mutter das nicht mitbekommt«, raunte Harvey ihm zu.

In diesem Moment war ein leises Stöhnen zu vernehmen.

»Die lebt noch!«, schrie Leaper, »eine Trage und einen Trupp Sanitäter, schnell!«

»Was meinen Sie? Wer lebt noch?« Als Harvey und Leaper sich umdrehten, sahen sie Annie Patterson, die auf sie zugerannt kam.

»Warum mussten Sie so herumbrüllen?«, rief Harvey verärgert, »schaffen Sie diese Frau hier weg!«

»Linda! Mein Gott, was ist mit meiner Tochter? Was ist ihr passiert!«, kreischte Annie, während zwei Soldaten Mühe hatten, die aufgebrachte Mutter von ihrer schwerverletzten Tochter fernzuhalten.

»Wenn dies hier eine der Geiseln ist«, gab Leaper zu bedenken, »dann bedeutet das, dass wir einen der Terroristen immer noch nicht unschädlich gemacht haben.«

Jetzt beschlich Austin Harvey ein mulmiges Gefühl. Hatte er sich doch zu früh aus der sicheren Einsatzzentrale gewagt?

 

»Kann es sein, dass ich hier was verpasst habe?«, scherzte Stephen Morris mit dem für ihn typischen trocken-sarkastischen Unterton, als er aus Santa Barbara zurückkommend die Einsatzzentrale betrat.

»Wir haben alles auf Band«, beruhigte ihn Ethan Crawford. »Der eine Turm des Castles wurde etwas in Mitleidenschaft gezogen und einer der Terroristen wurde dabei gegrillt. Und so wie es aussieht, waren unsere Jungs da oben auf ganzer Linie erfolgreich!«

»Nicht ganz!«, mischte sich Director Crain ein, »ich habe gerade die Meldung bekommen, dass nur drei Terroristen eliminiert wurden. Sicher ist bisher nur, dass Muhamed Said unter den Toten ist.« Crain deutete auf sein Bild auf einem der Monitore. »Er wurde erschossen und seine Leiche ist somit identifizierbar. Einer der Terroristen war auf dem Turm, als die Rakete einschlug, ein weiterer hat sich selbst in die Luft gejagt. Hier müssen DNA-Analysen gemacht werden und es ist mehr als fraglich, ob von dem Mann im Turm überhaupt noch DNA übrig ist.«

»Es wurde aber doch noch ein Mann erschossen!«, hakte Ethan nach.

»Das war Linda Howard. Sie wurde in ihrem dunklen Umhang für einen Terroristen gehalten. Ihr wurde in den Kopf geschossen. Sie wird gerade mit dem Rettungshubschrauber in die Klinik nach Santa Barbara geflogen. Es ist fraglich, ob sie überlebt.«

»Und was ist mit den übrigen Geiseln?«, fragte Georgina nach einer kurzen Pause betretenen Schweigens.

»Harvey ist oben im Schloss und koordiniert dort alles. Momentan fehlen noch zwei Geiseln, Timmy Holford, der Junge, und Martin Frazer, der Fremdenführer. Die Einsatzkräfte haben das Schloss umstellt und warten den Tagesanbruch ab. Dann wird der gesamte Gebäudekomplex systematisch durchkämmt. Unser Einsatz hier ist jedenfalls hiermit beendet.«

»Ich muss mal an die frische Luft«, sagte Georgina und gab ihrem Kollegen Morris mit einem unauffälligen Augenaufschlag zu verstehen, dass er ihr folgen möge.

»Was ist los?«, wollte Stephen wissen, nachdem Georgina ihn hinter eines der übrigen Fahrzeuge gelotst hatte, das am Rand des Parkplatzes abgestellt war.

»Gar nichts ist beendet, Stephen«, begann Georgina, »die Sache ist noch nicht vorbei.«

»Du hast selbst gehört, unsere Jungs haben das Gelände umstellt. Der vierte Ziegenficker wird unschädlich gemacht und die beiden übrigen Geiseln sind spätestens morgen in Sicherheit.«

»Die ganze Zeit läuft die Satellitenkommunikation einwandfrei. Mit unserer Tracking-Software konnte ich die Geiseln markieren. Ich hatte lauter gelbe und vier rote Männchen auf dem Bildschirm. Und im entscheidenden Moment während des Zugriffs kackt das System ab.«

»Bist Du jetzt unter die Verschwörungstheoretiker gegangen?«

»Das ist es ja nicht allein. Ich habe Dir am Telefon gesagt, dass dieser Director Crain meine Recherchen ausgebremst hat. Er untersagte mir, Recherchen über Martin Frazer anzustellen. So ganz zufällig wird genau der nun vermisst.«

»Das wird der Junge auch.«

»Du selbst hast am Telefon vorgeschlagen, ich sollte Nachforschungen über Linda Howard anstellen. Jetzt steckt eine Kugel in ihrem Kopf. Dann ist da noch Gina Hines, die Sicherheitschefin am Hearst Castle. Angeblich soll sie sich umgebracht haben. Ich habe bisher geschwiegen, aber ich habe gestern Nacht gehört, wie diese Barbara Watts ihr etwas gespritzt hat. Und der Leiter der Homeland Security ist ebenfalls dubios. Der Einsatzleiter der Spezialeinheit hat noch nicht einmal grünes Licht gegeben, da saß dieser Harvey schon im Hubschrauber, 'um sich persönlich ein Bild von der Lage zu machen', wie er es ausdrückte.«

»Georgina, Du bist übermüdet! Das war für uns alle etwas zu viel!«, versuchte Stephen sie zu beschwichtigen.

»Mag sein! Aber in dem Moment, in dem Crain die mobile Einsatzzentrale auflöst, ist er nicht mehr unser Boss. Dann fliegt er zusammen mit Deinem Kumpel 'Einstein' zurück nach Los Angeles und wir nach San Francisco. Und dort werde ich weiter recherchieren, glaub' es mir.«

Daran hatte Morris nicht den geringsten Zweifel. Schließlich kannte er seine fleißige Datenanalystin schon lange genug.

»Morris!« Das war Crain! »Morris, verdammt nochmal, wo sind Sie?«

Als er sich suchend umschaute, erblickte er den Gesuchten, wie er zusammen mit der dunkelhäutigen Datenanalystin Hand in Hand aus dem Schatten hinter den Fahrzeugen hervortrat. Der Director schaute die beiden fragend an. Hatten die beiden ein Verhältnis? Das war ihm noch gar nicht aufgefallen.

»Was?«, fragte Georgina verärgert und provozierend zugleich.

»Morris, Sie haben mir noch nicht erzählt, was Sie bei dieser Reporterin, dieser Paula Webber, herausbekommen haben?«

»Gar nichts! Sie hatte vor mir das Haus verlassen. Ich muss sie ganz knapp verpasst haben!«

Ohne die Antwort abzuwarten flanierte das vermeintliche Pärchen an dem verdutzt dreinschauenden Director vorbei. Georgina schaute ihren Kollegen verschmitzt an. Beim FBI hatte man ranghöheren Personen immer die Wahrheit zu sagen. War Stephens Ego so angeschlagen, dass er ein Dienstvergehen dem peinlichen Eingeständnis, von einer dummen Reporterin gelinkt worden zu sein, vorzog?

 

***

Im Alter von dreizehn Jahren diagnostizierte man bei Paula kleine Knötchen auf den Stimmbändern. Diese harmlosen Wucherungen verliehen dem Mausgesicht eine heisere, fast schon maskuline Stimme. Ihr Lachen wirkte fast schon diabolisch – wenn sie mal lachte. In der Schule hatte sie die anderthalb Jahre ältere Victoria Cabayo zu ihrer Erzfeindin auserkoren. Zwei Miststücke in einer Klasse – das konnte nicht gut gehen. Das Fass lief über, als Victoria auf einer Pool Party mit Matthew Diggins anbandelte und dieser ihre Avancen erwiderte. Dabei war sie doch unsterblich in Matthew, dem besten Kumpel ihres Bruders verliebt!

»Matthew ist beschnitten und hat drei Leberflecke, die ein kleines Dreieck bilden und zwar genau hier.« Mit diesen Worten deutete Paula bei sich auf die Einbuchtung zwischen dem Ansatz ihres linken Oberschenkels und ihrem Venushügel und blickte anschließend triumphierend in die Augen ihrer Widersacherin.

Victoria öffnete entsetzt den Mund. Sie war sprachlos! Ihr geliebter Matthew hatte sie mit Paula betrogen! Ausgerechnet mit dem hässlichen Mausgesicht!

»Nimm's locker. Du bist für ihn nur ein billiges Flittchen. Ich hab ihm gesagt, dass es für mich okay ist, wenn er Dich mal vernascht. Angeblich sollst Du steif wie ein Bügelbrett dagelegen haben. Stimmt das?« Paula schauspielerte ein gehässiges, heiseres Lachen, während Victoria vor Wut zitterte und mit den Tränen kämpfte.

Dann rannte Victoria los. Paula folgte ihr in gebührendem Abstand. Etwa eine halbe Stunde saß das Elend heulend am Seeufer und Paula befürchtete bereits, sie würde hier ihre Zeit verschwenden. Aber an diesem Abend lernte Paula, dass eine Reporterin Geduld haben musste. Und diese Geduld zahlte sich aus. Nach einer halben Stunde war Victoria mit den Nerven am Ende und schnitt sich die Pulsadern auf.

Anstatt Hilfe zu holen, zückte das Miststück ihre Videokamera, trat aus ihrem Versteck hervor und hielt drauf. Blut lief über beide Arme und versickerte neben Victoria im Boden.

»Du blödes Stück! Wenn man sich wirklich umbringen will, schneidet man nicht quer zum Arm, sondern längs. So dauert es nur länger!«

»Hau endlich ab!«, brüllte Victoria, »verschwinde aus meinem Leben!«

»Ach übrigens«, fuhr Paula fort, als Victoria bereits dabei war, in die Bewusstlosigkeit dahinzudämmern, »Matthew und mein Bruder sind im gleichen Sportclub. Nach dem Training duschen sie gemeinsam. Alles was ich über Matthews Intimbereich weiß, habe ich von meinem Bruder. Aber jetzt, wo Du nicht mehr da bist, werde ich ihn trösten.«

Bei ihrem unfreiwilligen Zusammentreffen mit dem FBI-Agenten hatte sich Paula an Victorias letzte Minuten erinnert und die Glasscherbe nur ganz oberflächlich quer zum Unterarm angesetzt. Sie blutete wie ein Schwein, was den dummen Bullen dazu veranlasst hatte, in Panik zu seinem Dienstwagen zu rennen, um über Funk Hilfe zu holen. Sie hatte sich Lindas Notebook sowie eine mit Ersatzwäsche, zwei Kokaintütchen und einem Fotoapparat bestückte Reisetasche, die eine professionelle Reporterin wie sie, immer griffbereit hatte, geschnappt und war über die Hintertür in den Garten und von dort aus zum Haus des alten McDavidson gerannt. Dieser ließ immer den Zündschlüssel in seinem alten Chevrolet stecken. Und mit diesem war das Miststück jetzt auf der Flucht. Die Blutung am Arm hatte sie mit dem Inhalt des Verbandskoffers, der im Kofferraum lag, schnell gestillt.

Mit dem 'ausgeliehenen' Fahrzeug war das Miststück in die Nähe des Städtchens San Miguel gefahren und hatte es auf einem kaum benutzten Seitenweg so abgestellt, dass es von der Straße aus nicht zu sehen war. Nach dem Wagen würde gefahndet werden. Die Polizei sollte keine Hinweise auf ihren Aufenthaltsort erhalten. Den Rest des Weges bis San Miguel hatte sie als Anhalterin zurückgelegt.

Im einzigen Motel am Ort hatte sie eine Unterkunft gefunden und nun verfolgte sie im Fernsehen, wie über die Erstürmung des Hearst Castles berichtet wurde. Ständig wurden neue Gerüchte gestreut. Zuerst hieß es, alle Geiseln seien umgekommen. Dann wurde berichtet, dass alle Terroristen tot seien. Am Ende war von einem überlebenden Terroristen und einer verletzten Geisel die Rede.

Schließlich wurde berichtet, dass ein vierzehnjähriges Mädchen mit Kopfschuss in die Klinik in Santa Barbara eingeliefert worden sei. Ironischerweise genau die Klinik, in der ihr Vater gearbeitet hatte. Linda! Der Todeskampf dieses Mädchens würde die Schlagzeilen der nächsten Tage beherrschen. Das rückte das für morgen geplante Treffen mit shyboy123 in ein ganz neues Licht. Er würde ihr, Paula Webber, ein Exklusivinterview geben und sie würde diese Information in eine reißerische Story verpacken.

Zwei Tütchen mit Kokain hatte sie in ihrer Reisetasche. Eines davon gönnte sie sich jetzt. Die Schnittwunde an ihrem Arm schmerzte nun etwas weniger – zumindest bildete sie sich das ein. Eigentlich sollte sie im Bad den Verband wechseln, aber ihre müden Beine hielten sie davon ab. Erschöpft von den Ereignissen des Tages schlief sie in ihren Klamotten vor dem laufendem Fernseher auf dem Bett ein.

 

***

Nicht viel anders erging es Georgina May. Unter heftigem Protest hatte sie die mobile Einsatzzentrale verlassen. So viel hätte sie noch recherchieren wollen, aber Director Crain beharrte darauf, den Einsatz für beendet zu erklären. Die Stromzufuhr wurde abgestellt, die Antennen und Satellitenschüsseln eingefahren und alle Datenleitungen gekappt. Morgen früh würde der Sattelschlepper den Container wieder zum FBI-Stützpunkt nach Los Angeles bringen. Dort hatte man nur drei dieser Spezialtrucks und jeder wurde dringend gebraucht, denn landesweit galt die höchste Terrorwarnstufe.

Der Hubschrauber, der Georgina und Stephen wieder nach San Francisco bringen sollte, würde nicht vor dem Morgengrauen starten. Also tat Georgina das, was sie vor wenigen Stunden noch vehement abgelehnt hatte: sie begab sich in eine der Arrestzellen im zweiten Truck und legte sich aufs Ohr. Dieser Einsatz hatte sie emotional an ihre Grenzen geführt. Sie war innerlich aufgewühlt und wälzte sich auf der Liege hin und her. Aber dennoch übermannte sie nach zehn Minuten die Müdigkeit.

Was nun folgte, war alles andere als ein erholsamer Schlaf. Die kurzen Tiefschlafphasen wurden unterbrochen von einem absurden Feuerwerk bestehend aus bizarren Gedankenblitzen und surrealen Traumsequenzen. Da wurden Menschen geköpft, Feuer regnete vom Himmel und Steine prasselten auf eine am Boden liegende Frau. In der nächsten Sequenz war sie nackt und wurde umringt von verschleierten Frauen, die mit ausgestreckten Armen immer näher auf sie zukamen. Dutzende von Händen berührten sie – überall. Bis alle gleichzeitig ihre Sprengstoffgürtel zur Detonation brachten.

Georgina saß senkrecht im Bett. Hatte sie geschrien? Sie schaute an sich herunter. Sie hatte noch alles an, aber der klebrige Schweiß auf ihrer Haut fühlte sich an wie menschliche Gewebereste. Sie schaute auf das Display ihres Smartphones. Es war halb vier Uhr morgens und sie war hellwach. Schätzungsweise anderthalb Stunden hatte das Gemetzel in ihrem Kopf gedauert. Sie musste raus aus dieser stickigen Zelle!

Noch etwas benommen erhob sie sich und schob ihre Zellentür auf. Vor dem Einschlafen hatte sie darauf geachtet, dass der Schließmechanismus deaktiviert worden war. Der schmale Gang war nur notdürftig beleuchtet. Sie hatte in der hintersten Zelle gelegen und musste vorbei an fünf weiteren Zellen, um zum Ausgang zu gelangen. Dort sollte eigentlich rund um die Uhr ein Wächter postiert sein, zumindest wenn mindestens ein Gefangener hier untergebracht war. Aber da war niemand. Das hieße ja, dass Fernando Llorente ohne Bewachung in der Zelle lag! Was, wenn er etwas benötigte? Niemand würde ihn hören.

Anstatt weiter zum Ausgang zu gehen, öffnete Georgina die nächste Zellentür. Von außen war dies jederzeit möglich. Ein mattes Blaulicht an der Zellendecke verwandelte den kargen Raum in eine Gruselkammer. Der Effekt wurde noch verstärkt durch das, was Georgina auf der Liege wahrnahm. Hier lag ausgestreckt ein menschlicher Körper eingehüllt in einen Leichensack. Sie hatte die kurze Nacht neben einer Leiche verbracht. Kamen daher ihre Alpträume? Das musste Gina Hines sein! Auf dem Boden lagen noch Reste von Einwegspritzen und Kanülen.

Selbstmord also! Barbara Watts hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Beweise für ihre Tat verschwinden zu lassen. Georgina zog aus ihrer Hosentasche einen Druckverschlussbeutel, wie ihn FBI-Angehörige immer dabei hatten, um Spuren zu sichern. Sie hob eine der Spritzen auf. Als sie sich bückte, entdeckte sie unter der Liege eine leere Spritze, die noch original verpackt war.

Unschlüssig drehte sie die Verpackung in ihrer Hand. Sollte sie? Oder sollte sie nicht? Im Gang war immer noch alles ruhig. Sie sollte! Sie öffnete den Leichensack, dem ein süßlicher Geruch entströmte. Ginas Leiche hatte ungekühlt den ganzen vergangenen Tag hier gelegen. Sie hatten ihr nicht einmal die Augen geschlossen. Sie war nur mit einem Slip bekleidet. Die Leichenstarre begann sich schon wieder zu lösen. Georgina hatte genug Ahnung von Forensik, um zu wissen, dass das Blut bereits geronnen war. Am linken Unterarm fielen ihr zwei Einstichstellen auf. Was immer diese Barbara ihr gespritzt hatte, wenn es noch nachweisbar war, dann hier. Vorsichtig setzte Georgina die Nadel genau an dem roten Punkt an, den die vermutlich tödliche Injektion hinterlassen hatte.

Als sie den Kolben nach oben zog, spülte der Unterdruck eine graugrüne, milchige Brühe in das Innere der Spritze. Georgina hatte Mühe, ihren Würgereiz zu unterdrücken. Nachdem sie den Leichensack wieder verschlossen und die Spritze zu der leeren Spritze in den Beutel gepackt hatte, verließ Georgina die Zelle und ging weiter. In einer der nächsten Zellen musste Fernando Llorente eingesperrt sein. Aber wo?

»Hallo! Ist da jemand!«, röchelte eine leise Stimme.

Georgina horchte. Die Frage hatte sich erübrigt.

»Mr. Llorente?«

»Ja!«

»Mein Name ist Georgina May«, sagte sie mit unterdrückter Stimme, wobei sie sich ganz dicht an die Tür lehnte, »ich arbeite für das FBI. Versprechen Sie mir, dass Sie vernünftig sind, wenn ich die Tür aufmache?«

»Ja! Glauben Sie mir bitte.«

Erneut schaute Georgina sich um und vergewisserte sich, dass alles ruhig war, bevor sie den Riegel zur Seite schob und die Tür öffnete. Vor ihr stand ein verstörter Mann in orangener Häftlingskleidung. Die Luft in der Zelle war genauso stickig wie in den anderen, aber hier roch es auch noch nach Fäkalien. Funktionierte die Toilettenspülung nicht richtig?

»Sie haben ja immer noch die Kleidung an, die sie in der Geiselhaft tragen mussten!« Georgina war fassungslos.

Fernando nickte.

»Setzen Sie sich bitte!« Georgina ließ sich auf den Rand der Liege nieder, Fernando tat es ihr gleich.

»Wer hat Sie verhört?«

»Zuerst ein Mann, danach eine Frau. Beide trugen Ausweise der Homeland Security.«

»Harvey und Watts«, bestätigte Georgina nickend. »Wurde ihnen etwas gespritzt?«

»Gespritzt?«

»Ja. Haben Sie Injektionen erhalten?«

»Nein.« Die Antworten kamen zögerlich. Fernando wirkte verstört.

»Was wollten die wissen? Warum wurden Sie nach dem Verhör nicht freigelassen?«

»Die haben mich zu den Sicherheitsmaßnahmen auf Hearst Castle befragt. Wer Zugang zu den Dienstfahrzeugen hat. Ob ich morgens allein zum Schloss hochgefahren bin. Ich weiß nicht mehr so genau. Kann ich jetzt gehen?«

»Es ist mitten in der Nacht«, meinte Georgina, obwohl das keine Antwort auf seine Frage war. Llorente war unter der Obhut der Homeland Security. Sie hielt es für besser, ihn nicht darüber aufzuklären, was das aus juristischer Sicht im Einzelnen bedeutete.

»Dann kam diese Psychologin«, sprudelte es auf einmal aus Fernando heraus, »die wollte alles genau wissen, was während der Geiselnahme passiert ist. Ich habe ihr von den Schikanen erzählt, von der Flucht und von Martin Frazer.«

»Martin Frazer?«

»Ja, das ist unser Fremdenführer, der die Besuchergruppen durch das Schloss leitet.«

»Ja, ich weiß, wer das ist. Was war mit Martin Frazer?«

»Er hat in dem Raum, in dem wir gefangen gehalten wurden, alle Bücherregale ausgeräumt und die Bücher auf dem Boden gestapelt. Dafür ist er von den Terroristen verprügelt worden.«

Georgina horchte auf. Austin Harvey hatte das Protokoll und die Videoaufnahme von Fernandos Vernehmung auf einen Server hochgeladen, auf den auch das FBI Zugriff hatte. Sie hatte die Dateien abgespielt. An Fragen und Aussagen, die Martin Frazer betrafen, konnte sie sich nicht erinnern. Waren diese Teile herausgeschnitten worden? Es bestärkte sie in ihrem Verdacht gegen Harvey und Watts und sie nahm sich vor, gleich morgen an ihrem Arbeitsplatz in San Francisco alles über Martin Frazer zu recherchieren. Dort würde sie nicht von Crain oder Harvey gestört werden.

»Kann ich jetzt gehen?«, drängte Fernando erneut und riss Georgina damit aus ihren Gedanken.

»Fernando, ich werde morgen mit Harvey reden und sehen, ob ich etwas für Sie tun kann«, versprach sie mit fürsorglich klingender Stimme. »Aber eine Frage hätte ich noch: wie schlimm ist Frazer von den Geiselnehmern verletzt worden?«

»Das weiß ich nicht. Sie haben ihn dazu aus dem Zimmer geschleift. Draußen haben wir ihn schreien hören. Dann wurde er zurückgebracht. Sein Gesicht war zugeschwollen.«

»Okay, Fernando. Ich lasse Sie jetzt allein. Eigentlich dürfte ich gar nicht mit Ihnen reden. Ich muss die Zellentür wieder verschließen. Aber keine Sorge – ich werde mich um Sie kümmern.« Georgina lächelte, stand auf und beeilte sich, den stinkenden Raum zu verlassen.

Anstatt, wie ursprünglich beabsichtigt, nach draußen zu gehen, begab sie sich zurück in die Zelle, in der sie vorhin geschlafen hatte, und legte sich wieder hin. Aber an Schlaf war nicht mehr zu denken.