»Wenn es nicht so nebelig wäre, könnten wir von hier aus das Schloss sehen«, murmelte Henry Holford.
»Na hoffentlich klart das noch auf«, antwortete seine Frau Lynn.
»Nur der übliche Morgennebel«, mischte sich ein Mann ein, der zumindest Fetzen dieser Unterhaltung aufgeschnappt hatte. »Wenn wir oben angekommen sind, scheint die Sonne.«
Etwas irritiert schauten Lynn und Henry den Mann an. Die Uniform wies ihn als Mitarbeiter der California State Parks aus. 'J.J. Berson' stand auf dem Namensschild.
»Danke für den Hinweis«, entgegnete Henry Holford. Aber da war der Mann schon weitergegangen – vorbei an der Schlange der Wartenden. Ihr zwölfjähriger Sohn Timmy hatte von all dem nichts mitbekommen, so sehr war er in das Spiel auf seinem Smartphone vertieft.
»Hier geht es ja zu wie am Flughafen!«, maulte Annie Patterson, die mit ihrem Mann Ron und ihrer Tochter Linda direkt hinter den Holfords stand.
In der Tat waren viele Museen und andere touristisch interessante Einrichtungen in den USA dazu übergegangen, ihre Besucher mit Metalldetektoren abzutasten – so auch das Hearst Castle.
Während das Schloss, das der super-reiche Zeitungsverleger William Randolph Hearst vor etwa hundert Jahren hatte errichten lassen, majestätisch auf den Hügeln der Southern Coast Ranges thronte, lag das Besucherzentrum mit Parkplätzen, Andenkenläden und einem Fastfood-Restaurant in der Nähe der Küstenstraße zwischen Santa Barbara und Monterey. Nur eine enge, kurvenreiche Straße führte zum Schloss. Busse brachten die Touristen gruppenweise dort hin. Für Privatfahrzeuge war diese Straße gesperrt. An diesem Morgen im Mai hielt sich der Besucheransturm noch in Grenzen.
Eine Gruppe von vier Männern passierte gerade die Sicherheitsschleuse, nachdem jeder von ihnen seine Geldbörse in einer flachen Plastikschale abgelegt hatte. Bei einem der Männer piepste der Detektor dennoch.
»Darf ich Sie bitten, den Gürtel abzulegen?«, fragte Gina Hines, eine schlanke Frau mit platinblondem Pagenschnitt in höflichem aber bestimmtem Tonfall. Ihr Namensschild und ihre Uniform wies sie für jedermann sichtbar als Sicherheitsbeauftragte des Besucherzentrums aus. Zusammen mit einem männlichen Kollegen führte sie die Personenkontrollen an der Schleuse durch.
Wortlos kam der Mann der Aufforderung nach, entledigte sich seines Gürtels mit der auffälligen metallischen Schnalle und passierte das Tor ein weiteres Mal. Kein Pieps – alles im grünen Bereich. Gina Hines lächelte zufrieden.
»Gehören Sie zusammen?«, fragte Gina den Besucher, der als nächstes an der Reihe waren.
»Nein, ich bin alleine«, nuschelte Clive Osbourne in seinen Bart und stellte damit klar, dass er weder zu den vier Männern vor ihm noch zu den Holfords gehörte, die direkt hinter ihm standen.
Gina gab dem stattlichen Mann, dessen Äußeres etwas ungepflegt wirkte, einen Wink. Im Vorbeigehen erkannte sie ein Tattoo auf dem Unterarm des Mannes.
»Aha, ein ehemaliger Marine«, dachte Gina.
»Da steht, dass es im Schloss zwei Schwimmbäder und ein Kino gibt«, sagte die vierzehnjährige Linda zu ihrer Mutter gewandt, während sie in einer Broschüre blätterte, die den Pattersons beim Kauf der Tickets ausgehändigt worden war.
»…. und ein Tennisplatz, ein Pferdestall und eine Bibliothek«, ergänzte Ron Patterson. Für ihn war es nicht selbstverständlich, dass sich ein vierzehnjähriger Teenager für eine solche Besichtigung interessierte. Er warf einen Blick auf den Jungen vor ihnen, der gebannt auf sein Smartphone stierte, und nun von seiner Mutter in Richtung der Sicherheitsschleuse dirigiert werden musste. Ron konnte nur noch den Kopf schüttelten.
»Ich bin sicher, dass Du heute Abend genügend Eindrücke gesammelt hast, um Deine Hausarbeit über das Hearst Castle anzufertigen.«
»Heißt das, wir bleiben den ganzen Tag dort oben?«, fragte seine Frau Annie genervt.
»Sei froh, dass sich Linda so sehr für amerikanische Kultur interessiert«, konterte Ron.
»Von Dir kann sie das ja nicht haben«, entgegnete Annie trocken.
Ron verdrehte die Augen und sah sich um. Wer von den anderen Menschen in der Warteschlange hatte das gehört?
Jetzt bestiegen die Holfords den Bus. Henry erkannte sofort den Mann, der ihnen Hoffnung wegen des Nebels gemacht hatte. Mr. Berson saß am Steuer des Busses und nickte freundlich.
»Los! Beeil Dich, der Bus steht schon da!« Randy Stephens mahnte seine junge Begleiterin zur Eile. »Ich will unbedingt mit dem ersten Bus oben sein.«
»Ich möchte mir noch was zu Trinken kaufen«, maulte Moira.
»Vergiss es!« Randy hatte seine digitale Spiegelreflexkamera bereits in eine der Schalen neben der Sicherheitsschleuse gelegt.
»Ich kann mit trockenem Mund nicht arbeiten«, beharrte die junge, dunkelhaarige Frau.
»Sei leise!«, raunte Randy ihr zu. »Es muss niemand wissen, warum wir zum Schloss fahren.«
»Junge Dame, ich will den Kaugummi nicht unter einem meiner Sitze wiederfinden!« Linda hatte ihren Kaugummi aufgeblasen, als sie an Mr. Berson vorbeiging.
»Meine Tochter weiß, was sich gehört«, kam postwendend die Antwort einer fauchenden Glucke, die hinter der Göre eingestiegen war.
»Unverschämtheit!«, raunte Annie ihren Mann an. »Spätestens mittags will ich wieder hier unten sein!«
»Warte J.J.! Es kommen noch zwei Leute«, krächzte es aus dem Funkgerät, das neben dem Lenkrad auf der Konsole lag.
»In Ordnung, Jim!«, antwortete Berson.
Jetzt bemerkte der Busfahrer die beiden Spätankömmlinge. Ein etwas übergewichtiger Mann mit weiter Jeans und verwaschenem T-Shirt hetzte auf den Bus zu. Um den Hals baumelte eine teure Kamera, die irgendwie nicht zu seinem ungepflegten Äußeren passen wollte. Ihm folgte eine jüngere Frau in einem leichten Sommerkleid. Ihre Brüste wippten im Rhythmus des Laufschrittes. Die Frau hatte eine große Tasche umgehängt.
»Wie ist sie damit durch die Schleuse gekommen?«, fragte sich Mr. Berson. »Da hat Jim wohl wieder nur auf die Titten gegafft.« Er schüttelte den Kopf und startete den Motor.
»Was macht diese Person hier im Bus?«, flüsterte Lynn ihrem Mann zu.
»Ich weiß es nicht!«, entgegnete Henry genervt.
Jetzt hatte auch Moira den Mann entdeckt, der mit seiner Familie bereits im Bus Platz genommen hatte. »Hallo Mr. Holford!« Mit einem überheblichen Grinsen setzte sich Moira zwei Reihen vor den Holfords neben ihren übergewichtigen Begleiter.
»Wer ist das?«, wollte Timmy nun wissen.
»Mach Dein Smartphone aus!«, entgegnete seine Mutter ausweichend und gereizt, »sonst wird Dir noch schlecht während der Busfahrt.«
»Herzlich willkommen auf Hearst Castle!«, tönte nun eine angenehme Frauenstimme aus den überall im Bus verteilten Lautsprechern. Der Fahrer hatte eine CD gestartet und erstickte damit jede weitere Konversation im Bus.
»Im Jahre 1919 begann der Zeitungsverleger William Randolph Hearst auf den Ländereien, die er von seinen Eltern geerbt hatte, mit dem Bau eines Landsitzes. Dabei orientierte er sich am Baustil spanischer Kirchen. Das Schloss umfasst über hundert Zimmer. Dazu kommen drei Gästehäuser, eine großzügige Gartenanlage sowie ein Außen- und ein Innenpool. Genaugenommen ist das Schloss bis heute nicht fertiggestellt.«
Es folgte eine Aufzählung berühmter Persönlichkeiten, die in den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts hier ein und aus gingen. Annie Patterson hörte nur mit halbem Ohr zu. Charlie Chaplin, Greta Garbo, Cary Grant und Winston Churchill hatte sie schon mal gehört. Die meisten anderen Namen sagten ihr nichts. Sie blickte seitlich zu ihrer Tochter, die unermüdlich Fotos machte, während sich der Bus über die kurvige, enge Straße hinauf zum Schloss quälte.
Ja, sie musste Ron recht geben. Linda war vielseitig interessiert. Noch vor einem Jahr hatten Probleme, wie sie bei Teenagern nun mal auftreten, mit aller Macht von ihrer Tochter Besitz ergriffen. Zuerst war es düstere Gothic-Mode, danach waren einzelne Haarsträhnen lila gefärbt. Zwei Tage, nachdem Annie Lindas schwarzen Lippenstift in einem Wutanfall zertreten hatte, war ihre Tochter mit einem Nasenpiercing nach Hause gekommen. Und das alles waren nur die nach außen sichtbaren Auswüchse dieser hormonell bedingten Heimsuchungen. Aber seit ein paar Monaten waren diese Probleme wie weggeblasen – ganz ohne Besuche beim Kinder- und Jugend-Psychiater und ohne Psychopillen. Linda hatte sich die Haare kurz schneiden lassen. Mittlerweile bedeckten ihre natürlich dunkelblonden Haare wieder die Ohren. Nur wer genau hinsah, konnte die ehemalige Einstichstelle des Piercings am linken Nasenflügel noch erkennen. Lindas schulische Leistungen waren auf dem Weg der Besserung, den Umgang mit ihrer Girlie-Clique hatte sie von selbst aufgegeben. Ihre einzige und beste Freundin war Angeline Herbert aus der Nachbarschaft. Es geschahen also doch noch Wunder!
»Hearst unterhielt den größten Privatzoo der damaligen Zeit«, fuhr die Stimme fort. »Während Zebras und Gnus frei auf dem weitläufigen Gelände grasen konnten, waren Bären, Tiger und Löwen in gesicherten Gehegen untergebracht.« Passend dazu hielt der Bus neben halb verwitterten Betonbauten unterhalb des Schlosses.
»Cool!«, entfuhr es Timmy.
Wenig später erreichte der Bus die Haltestelle neben dem Schloss. Die Gäste wurden bereits von einem hochgewachsenen Mittdreißiger erwartet.
»Hi, ich bin Martin und werde Sie durch das Hearst Castle führen«, begann Martin Frazer, nachdem alle Passagiere den Bus verlassen und sich um ihn versammelt hatten.
Die Besucher ahnten gar nicht, welches Glück sie hatten, ausgerechnet den jungen Frazer als Tourguide bekommen zu haben. Alle Guides waren besonders geschult, um auch die ungewöhnlichsten Fragen beantworten zu können. Aber Martin Frazer war besonders engagiert. Schließlich hatte er einen Universitätsabschluss in amerikanischer Geschichte und hatte eine Abschlussarbeit über das Hearst Castle geschrieben.
»Sie haben die Übersichts-Führung gebucht, die sie durch die interessantesten und historisch bedeutenden Orte im Schloss führt. Beginnen wir gleich mit einem ersten Highlight – dem Neptun Pool.«
Die Gruppe stand vor einem blau gekachelten Schwimmbecken, gesäumt von Marmorstatuen und Säulenfassaden, die griechischen Tempeln nachempfunden waren.
»Der Pool wurde mehrfach abgerissen und neu aufgebaut, bis er letztendlich den Ansprüchen des Bauherren genügte. Sie haben das seltene Glück«, fuhr Frazer fort, »dass sich Wasser im Pool befindet. In trockenen Sommern muss der Pool leider leer bleiben.«
Mr. Berson hatte jetzt zehn Minuten Pause. Während die meisten Fahrer es vorzogen, gleich nach dem Absetzen der Passagiere wieder zum Besucherzentrum zu fahren, um sich dort im Pausenraum aufzuhalten, zog er die Ruhe des Parkplatzes oben beim Schloss vor. Er nutzte die Zeit, um in der Zeitung zu lesen, die seine Kirchengemeinde wöchentlich herausgab. Jean Jacques Berson, genannt JJ, war ein tief religiöser Mensch. Das war nicht immer so gewesen. JJ hatte insgesamt fünf Jahre hinter Gefängnismauern zugebracht. Ein Tattoo an seinem Unterarm erinnerte ihn an diesen unseligen Lebensabschnitt. Das Motiv einer Schlange, die sich um einen Ast windet, hatte er so verändern lassen, dass sich nun ein Kreuz von der unteren Hälfte seines Unterarms bis zum Handrücken erstreckte.
Als er von seiner Zeitung aufblickte, war er mächtig verärgert über das, was er da sah. Zwei der Männer, die auf der Fahrt ganz hinten im Bus Platz genommen hatten, kamen auf seinen Bus zu.
»He, Sie müssen bei der Gruppe bleiben!«, rief Berson durch das offene Fenster. »Nur in Notfällen kann ich Sie zum Besucherzentrum fahren.«
Unbeeindruckt kamen die Männer näher.
»Dies ist ein Notfall«, sagte der bärtige Mann, der als Erster das Fenster erreicht hatte. »Steig' aus!«
Die Aufforderung war unmissverständlich. Berson blickte in die Mündung einer Pistole.
»Dreh den Kopf ein bisschen zur Seite! Ja, so ist es gut!«
Randy Stephens musste sich beeilen. Noch stand die Sonne an diesem Vormittag tief genug, um sein Modell optimal auszuleuchten. An einer normalen Location hätte er mit Blitz und einem Reflektorschirm nachgeholfen. Hier, im Garten des Hearst Castle hatte er nur seine Kamera. Er hatte Wert darauf gelegt, zusammen mit Moira Marnell, seinem Modell, mit der ersten Besuchergruppe zum Castle zu gelangen. Fast wären sie zu spät gekommen. In einem unbeobachteten Moment hatten sie sich von der Gruppe abgesetzt. Offiziell waren derartige Fotoshootings im gesamten Bereich des Hearst Castles untersagt – es sei denn, man hieß Lady Gaga. Vor zwei Jahren war das Schloss wegen der Produktion eines Musikvideos für mehrere Tage für Touristen gesperrt gewesen.
In ihrer übergroßen Handtasche hatte Moira Kleidung für das Shooting mitgebracht. An der Sicherheitsschleuse im Besucherzentrum war das niemandem aufgefallen. Anstelle des Sommerkleides trug sie nun nichts weiter als ein blütenweißes Hemd.
»Streif das Hemd von der Schulter!«
Randy hielt den Auslöser gedrückt, sodass die Kamera im Viertelsekundentakt eine Bilderserie schoss, während Moira Randys Aufforderung nachkam. Die blühenden Ranken und die weißen Marmorstatuen im Schlossgarten bildeten das perfekte Ambiente, um einen attraktiven Frauenkörper in Szene zu setzen. Verführerisch blickte sie in die Kamera, während sie zwei weitere Knöpfe des Hemdes öffnete, das ihr mindestens zwei Nummern zu groß war.
In Los Angeles galt der vierzigjährige Randy Stephens unter Insidern als Geheimtipp. Wer der etwas übergewichtigen, ungepflegten Gestalt auf der Straße begegnete, kam nicht auf den Gedanken, dass dieser Mann mit der alten Baseball-Mütze und dem verwaschenen T-Shirt schon viele Hollywood-Sternchen vor der Linse gehabt hatte.
Mit Randy hatte Moira schon oft zusammengearbeitet. Daher reichte eine Handbewegung und sie wusste, was sie zu tun hatte. Lasziv beugte sie sich nach vorne. Klick! Klick! Der Betrachter der Bilder konnte nun erkennen, was er bei den vorhergehenden Aufnahmen nur erahnte. Moira trug nichts unter dem Hemd. Als sie sich wieder aufrichtete, löste sie den letzten Hemdknopf und entblößte ihre linke Brust.
Sicherheitshalber blickte Randy sich um, bevor er Moira die nächste Anweisung gab: »Setz' Dich auf die Mauer und spreiz' Deine Beine!«
Randy ging in die Hocke, um seiner Kamera tiefe Einblicke zwischen Moiras Schenkel zu gewähren. Die beiden waren so in das Fotoshooting vertieft, dass sie nicht bemerkten, dass noch eine weitere Kamera auf Moira gerichtet war.
Martin Frazer war so in seinen Vortrag vertieft, dass er nicht bemerkte, dass seine Besuchergruppe deutlich geschrumpft war. Lediglich die beiden Familien, Clive Osbourne und zwei weitere, offensichtlich einzeln reisende Männer lauschten mehr oder weniger interessiert, was er über eines der Gästehäuser zu sagen hatte, in dem sie sich nun befanden.
»Das Hearst Castle verfügt über drei Gästehäuser. Wir sind hier im 'Haus der Meere'. Warum dies so heißt, können Sie unschwer erkennen, wenn Sie ein Blick aus dem Fenster werfen. Mit über fünfhundert Quadratmetern ist dies das größte Gästehaus. Im Jahre 1930 hat Winston Churchill in diesem Zimmer übernachtet.«
Auch Lynn Holford war beeindruckt, als sie aus dem Fenster sah. Der Pazifik schien zum Greifen nahe. Kurz verweilte Ihr Blick in der Ferne, bis sie im Garten eine Bewegung wahrnahm. Ein Mann versteckte sich hinter einem Busch und schien mit einer Digitalkamera zu hantieren. Sein Verhalten erregte ihre Aufmerksamkeit. Wovor oder vor wem versteckte er sich? Die Antwort bekam Lynn, als sie ihre Stirn gegen die Fensterscheibe presste, um den Teil des Gartens zu sehen, der seitlich neben dem Fenster lag.
»Diese verfluchte Schlampe!«, dachte Lynn. So viel Unglück hatte dieses junge Ding über ihre Familie gebracht! Und jetzt posierte sie halbnackt vor diesem schmuddeligen Fotografen, während ein weiterer Mann offensichtlich heimlich Fotos von den beiden machte.
***
»Calvin, ich hoffe, Sie genießen den Ruhestand.« Winston Churchill steckte sich eine Zigarre an.
»Na ja, wie man es nimmt, Winston«, murmelte Calvin Coolidge, »ich muss sehen, wie alles den Bach runter geht, was ich in sechs Jahren Präsidentschaft aufgebaut habe.«
Nach dem plötzlichen Tod von Präsident Warren G. Harding im Jahre 1923 hatte Vizepräsident Calvin Coolidge die Amtsgeschäfte übernommen und war zwei Jahre später für eine weitere Amtszeit gewählt worden. Im vergangenen Jahr war seine Präsidentschaft zu Ende gegangen, auf eine Wiederwahl hatte er verzichtet.
Nun, im Jahre 1930, hatte der in Massachusetts beheimatete Republikaner im Ruhestand die Einladung von William Hearst angenommen und war nach Kalifornien gereist. Dass Winston Churchill zu diesem Zeitpunkt ebenfalls Gast im Schloss war und im 'Haus der Meere' Quartier bezogen hatte, war für Coolidge ein zusätzlicher Ansporn, diese weite Reise auf sich zu nehmen.
»Calvin, ich war beeindruckt, wie Sie die Staatsausgaben und die Schulden gedrückt haben«, fuhr Churchill fort, »aber uns stehen schwere Zeiten bevor.«
»Haben Sie sich deshalb aus der Politik zurückgezogen, Winston?«
»Lassen Sie es mich so formulieren«, begann Churchill nach einer kurzen Pause, während er kräftig an seiner Zigarre zog, »ich selbst nenne diesen Lebensabschnitt mein inneres Exil. Meine Zeit als Marineminister und Schatzkanzler war sehr aufreibend. Ich möchte mich anderen Aufgaben widmen. Vielleicht schreibe ich ein Buch.«
»Winston, Ihre Zeit ist noch lange nicht vorbei«, lachte Coolidge, »entweder erhalten Sie den Literaturnobelpreis oder Sie werden Premierminister.«
Churchill entrang sich ein gequältes Lächeln, um seine Miene anschließend zu verfinstern.
»Calvin, Sie wissen, dass die Lusitania-Affäre ein gefundenes Fressen für meine politischen Gegner ist. Seit nunmehr fünfzehn Jahren hält sich hartnäckig das Gerücht, ich hätte die Lusitania absichtlich vor die Rohre der deutschen U-Boote geleitet, um die Vereinigten Staaten dazu zu bewegen, in den Krieg gegen Deutschland zu ziehen.«
»Einhundert-vierundzwanzig Amerikaner waren unter den Opfern«, bestätigte Coolidge, »aber Amerika hat Deutschland erst später den Krieg erklärt.«
»Wir beide wissen nur zu genau, dass die Lusitania nicht nur ein Passagierdampfer war.«
Coolidge nickte.
»Nach dem Einschlag des Torpedos gab es eine zweite Explosion. Die gesamte eingelagerte Munition war mit einem Schlag in die Luft geflogen. Nur deshalb konnte die Lusitania so schnell sinken.«
»Ja, diese zweite Explosion lässt sich nicht leugnen«, stimmte Coolidge zu, »die Überlebenden haben das übereinstimmend bezeugt und einige Bewohner der damals noch dünn besiedelten Südküste Irlands konnten das bestätigen. Die offizielle Version lautet, die Deutschen hätten einen zweiten Torpedo abgefeuert.«
Während er sprach, zog der ehemalige Präsident der Vereinigten Staaten einen versiegelten Umschlag aus einer Mappe und legte ihn vor Churchill auf den Tisch. Dieser schaute ihn fragend an.
»Dies ist eine Abschrift eines Geheimpapiers, das mein Vorvorgänger Wilson versiegeln und im Geheimarchiv des US-Schatzamtes einlagern ließ. Das Schreiben wird sie rehabilitieren, Winston. Hätte die Lusitania unbeschadet im Hafen von Liverpool angelegt, hätte es wesentlich mehr Tote gegeben. Ich sage nur ein Stichwort: 'Pandora'.«
»Sie wissen davon?«, fragte Churchill überrascht.
»Steht alles da drin. Damit wird Ihre Rolle in der Lusitania-Affäre in einem ganz anderen Licht erscheinen. Die Historiker kommender Generationen werden verstehen, warum Sie so gehandelt haben und warum es zur Versenkung der Lusitania keine Alternative gab. Aber Winston, ich gebe Ihnen einen Rat: lassen Sie den Umschlag versiegelt, sonst behauptet noch jemand, das Dokument sei gefälscht. Die Nachwelt wird es Ihnen danken. «
»Ich werde nur im Notfall davon Gebrauch machen«, antwortete Churchill erleichtert und legte den Umschlag auf den antiken Schreibtisch, der Teil der gediegenen Einrichtung seines Gästezimmers war.
»Haben Sie Dank, lieber Freund«, fuhr er fort und blickte dabei auf seine Taschenuhr. »Es ist Zeit. Wir sollten ins Schloss gehen.«
Sein Gesprächspartner wusste, worauf Churchill anspielte. William Hearsts Gäste konnten sich tagsüber auf dem Gelände des Schlosses frei bewegen und alle Annehmlichkeiten in vollen Zügen genießen. Aber ihr Gastgeber legte großen Wert darauf, dass sich alle Gäste zum Abendessen pünktlich im großen Speisesaal einfanden.
»Calvin, manchmal habe ich den Eindruck, dass der amerikanische Präsident nur noch eine Marionette ist und andere einflussreiche Männer im Hintergrund die Fäden ziehen.«
»Da muss ich Ihnen zustimmen«, pflichtete Coolidge bei, während er Churchill die Tür aufhielt. »Ich war umzingelt von einer Meute von Beratern, die alles besser wussten. Ein selbstständig denkender Präsident ist unerwünscht. Das ist der eigentliche Grund, warum ich auf eine Kandidatur für eine weitere Amtszeit verzichtet habe. Die ursprüngliche Aufgabe des Präsidenten war es, die Kolonien entlang der Ostküste zu verwalten. Nun, wo die Vereinigten Staaten auf dem besten Wege sind, eine Weltmacht zu werden, meinen gewisse Leute, der Präsident sei mit dieser Aufgabe überfordert.«
»Ich weiß nicht, ob wir beide das noch erleben werden«, orakelte Churchill, »aber eines Tages werden die Amerikaner einen Hollywoodschauspieler zum Präsidenten wählen. Einen, den die Leute mögen und der ihnen die Entscheidungen der Hintermänner lächelnd als seine eigenen verkaufen kann.«
»An wen haben Sie da gedacht?«, lachte Coolidge, »Charlie Chaplin oder Buster Keaton?«
»Buster Keaton lächelt doch nie! Wie wäre es mit Stan Laurel?«, witzelte Churchill, verzog die Mundwinkel bis zu den Ohrläppchen und kratzte sich am Kopf.
»Ja, und Oliver Hardy wird Außenminister!«, ergänzte Coolidge mit gedämpfter Stimme. Die beiden Herren hatten mittlerweile den Haupteingang zum Schloss erreicht und wieder war es Coolidge, der die Tür aufhielt.
***
Mit aller Kraft stemmte sich Martin Frazer gegen die schwere Eingangstür. Staunend betraten die Schlossbesucher das stilvoll eingerichtete Foyer des Schlosses. Das Gästehaus war ja schon beeindruckend. Aber das hier! Die Blicke der meisten Gäste richteten sich zuerst auf das Gewölbe mit dem riesigen Kronleuchter.
Nur Annie Patterson schaute nach links und bemerkte als Erste zwei der Männer, die sie zuletzt im Bus gesehen hatte und die sich nach dem Ausstieg von der Gruppe abgesetzt hatten. Ihre Augen mussten sich erst an das schummrige Licht im Schloss gewöhnen und so glaubte sie, sich getäuscht zu haben. Waren diese Männer tatsächlich bewaffnet? Die Frage beantwortete sich von selbst.
»Die Führung ist hiermit beendet!«, rief einer der Männer und richtete seine Pistole auf die kleine Gruppe. Alle waren wie paralysiert. Jetzt lösten sich zwei weitere Männer aus der Gruppe und nahmen von den beiden Angreifern weitere Waffen in Empfang. Sie gehörten demnach dazu!
»Sie!«, der Wortführer mit dem ungepflegten Vollbart deutete auf Martin Frazer, »Sie sind der Guide, stimmt's?«
Frazer nickte.
»Rufen Sie im Besucherzentrum an. Ich will keine weiteren Busse hier oben sehen. Hearst Castle ist ab sofort in den Händen der Islamistischen Union zur Befreiung Amerikas!«
Die drei anderen Männer salutierten zu den Worten ihres Anführers. Die Geiseln wimmerten und zitterten vor Angst.
Bereits seit drei Jahren pflegte Fernando Llorente die Gärten rund um Hearst Castle. Die Saison hatte gerade erst begonnen, aber die Frühjahrsblüher mussten schon wieder zurückgeschnitten werden. Fernando liebte seinen Job - besonders heute. Er hatte zwei Touristen entdeckt, die sich von der ersten Besuchergruppe dieses Morgens abgesetzt hatten. Normalerweise hätte er diese Leute sofort beim Sicherheitsdienst gemeldet, denn es war Unbefugten strengstens untersagt, sich ohne Aufsicht auf dem Gelände zu bewegen. Das wurde ihnen am Anfang jeder Führung eindringlich mitgeteilt.
Fernando hatte bereits sein Funkgerät gezückt, als er sah, wie die junge, dunkelhaarige Frau ihr Sommerkleid auszog. Die Digitalkamera, die Fernando stets bei sich trug, um den aktuellen Zustand in seinem Garten zu dokumentieren, leistete ihm nun gute Dienste. Der betätigte den Telezoom bis zum Anschlag und hatte trotz der Entfernung von geschätzten sechzig Metern die Frau formatfüllend auf dem Bild. Nach Feierabend würde er sich diese perfekt gerundeten Brüste in Ruhe auf dem Bildschirm ansehen. Er zwang sich, die Kamera ruhig zu halten, während er ein Bild nach dem anderen schoss. Im Sichtschutz der Hecke hatte sich die Frau auch ihres Slips entledigt, was Fernando vollends in Erregung versetzte. Danach hatte sie sich ein weißes Hemd übergestreift und ihr fettleibiger Begleiter, wohl ein professioneller Fotograf, begann, sie in allen erdenklichen Posen abzulichten. Mit ihm hätte Fernando gerne getauscht.
Fernando war so in seine Spannerei vertieft, dass er nicht bemerkte, wie ihn eine Besucherin durch eines der Fenster im Gästehaus beobachtete.
Nach der Fotosession mit dem weißen Hemd trug das Model nur das Unterteil eines Bikinis, während sich ihr nahtlos brauner Körper an die Marmorstatuen im Garten schmiegte. Auf Anweisung des Fotografen öffnete sie die seitliche Schleife des Höschens. In wenigen Augenblicken würde sie ihren vollkommenen Körper nackt präsentieren. In diesem Moment piepte das Funkgerät, das alle Bedienstete stets auf Empfang geschaltet hatten.
»Fernando! Hier ist Martin! Komm bitte zum Haupteingang, es ist dringend!«
»Mist! Ausgerechnet jetzt!«, dachte Fernando. Auch das Model und der Fotograf hatten das Krächzen des Funkgerätes gehört. Hastig schlüpfte die Frau in ihr Sommerkleid, während der Fotograf seine Ausrüstung in einer Tasche verstaute. Fernando machte sich auf den Weg zum Castle. Gerne hätte er noch mehr Fotos geschossen.
»Ich glaube, jemand hat uns gesehen«, zischte Randy sichtlich verärgert. »Zieh' Dich wieder an! Ich hätte gerne noch die Fotos mit den anderen Kleidern gemacht, aber die Führung muss gleich zu Ende sein. Wir sollten rechtzeitig beim Bus sein.«
»Ich bin schon gespannt, wie die Bilder geworden sind«, meinte Moira, die sich wieder das Sommerkleid überstreifte, das sie anhatte, als sie mit dem Bus hier her kamen.
»Das Display der Kamera ist zu klein. Mein Notebook ist im Wagen. Dort zeige ich Dir die Bilder«, versprach Randy und meinte anerkennend: »Du warst Klasse! Wie immer!«
»Danke!«, entgegnete Moira sichtlich geschmeichelt.
Fernando Llorente blickte in die Mündung einer Pistole, als er das Foyer des Schlosses betrat. Im selben Moment öffnete sich eine der Seitentüren, durch die zwei der Geiselnehmer Mr. Berson schleiften.
»Es fehlen noch zwei« stellte der bärtige Mann, der die Gruppe offensichtlich anführte, sachlich fest. »Da war noch fetter Mann in Begleitung einer jungen Hure.«
»Sollen wir sie suchen?«, fragte einer seiner Helfer.
»Das dauert zu lange. Zuerst kümmern wir uns um die Gefangenen.«
Mit diesen Worten wandte er sich an die Gruppe.
»Mein Name ist Abdul Sahir. Die Namen meiner drei Soldaten tun nichts zur Sache. Ich werde Forderungen an Eure Regierung stellen. Eure Leben hängen davon ab, ob diese Forderungen erfüllt werden oder nicht.«
»Und was sind das für Forderungen?«, fragte Annie Patterson. Sie schien die Einzige zu sein, die es wagte, überhaupt einen Laut von sich zu geben. Die anderen Geiseln starrten wie geistesabwesend ins Leere. Auch J.J. Berson, der Busfahrer, und der Gärtner waren zur Gruppe gebracht worden.
Abdul Sahir schritt auf die Fragestellerin zu, baute sich bedrohlich vor ihr auf und schlug ihr blitzschnell ins Gesicht. Die anderen wichen erschrocken zurück.
»Frauen haben zu schweigen. Frau reden nur, wenn sie etwas gefragt werden«, kommentierte er seine Aktion.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht hielt sich Annie die Backe. Hasserfüllte Blicke trafen den Schläger. Die anderen zogen es vor, auch weiterhin zu schweigen. Die beiden Kinder wimmerten verängstigt. Abdul grinste.
»Wir trennen die Männer von den Frauen. Die Männer kommen in das Haus der Meere, die Frauen in das Haus der Sonne.«
Mit gezückten Waffen umkreisten die drei Helfershelfer die verängstigten Geiseln.
»Worauf wartet Ihr noch?«, schrie Abdul. »Du, Du und Du!« Dabei deutete er nacheinander auf Annie Patterson, ihre Tochter Linda sowie auf Lynn Holford.
Die beiden Frauen klammerten sich an ihre Männer, Linda suchte verängstigt Deckung zwischen ihren Eltern. Lynn war die Erste, die von den Terroristen gepackt und aus der Gruppe gezerrt wurde. Sie kreischte lauthals, bis Abdul sie mit einer Ohrfeige zum Schweigen brachte. Danach waren Linda und Annie an der Reihe. Die verbliebenen Geiseln, sechs Männer und der zwölfjährige Timmy, wurden von den drei Gehilfen abgeführt. Zurück blieb Abdul mit den drei Frauen.
Nach wenigen Minuten betrat einer der Terroristen wieder das Foyer. Wortlos nickte er Abdul zu. Die Männer waren sicher untergebracht. Keine besonderen Vorkommnisse. Keiner hatte es gewagt aufzubegehren – wie Schafe, die man zur Schlachtbank führt.
Abfällig musterte Abdul die drei verbliebenen Frauen.
»Du bleibst hier!«, sagte er unvermittelt und zeigte dabei auf die vierzehnjährige Linda.
»Sie ist meine Tochter!«, schrie Annie. »Sie bleibt bei mir!«
Mit einer Hand packte Abdul sie am Hals und drückte ihre Kehle zu.
»Was habe ich Dir gesagt? Du schweigst! Wenn das erste Ultimatum abläuft, wirst Du die Erste sein, die stirbt. Du bist eine schmutzige Hündin, aber Deine Tochter ist rein. Daher bleibt sie bei mir.«
Er nickte seinem Helfer zu, der ihn sofort verstand. Er packte die beiden Frauen und führte sie ab. Während Lynn sich widerstandslos abführen ließ, versuchte Annie sich selbst in dieser ausweglosen Situation zur Wehr zu setzen.
»Schau zu Boden!«, befahl Abdul dem völlig verängstigten Mädchen.
Randy und Moira nutzten die Deckung der Sträucher und Hecken aus, um möglichst ungesehen zu dem Platz zu gelangen, wo die Busse hielten. Hier würde es ein Leichtes sein, sich unbemerkt wieder der Besuchergruppe anzuschließen. Zwar hatten sie nichts Unrechtes getan, aber sie hatten gegen die Besucherordnung verstoßen und wollten keinen Ärger - zumindest Randy nicht. Vielleicht würde er mit einem anderen Model diese Location ein weiteres Mal aufsuchen.
Als sie den Platz zwischen dem Neptun Pool und dem Haupthaus überqueren wollten, hielten sie inne. Die Luft schien rein zu sein. Gerade wollte Randy dazu ansetzen, die Deckung zu verlassen, als eine Tür des Schlosses aufgestoßen wurde. Ein Mann zerrte zwei Frauen an den Haaren über den Platz zu einem der Gästehäuser. Eine der Frauen kreischte unaufhörlich.
»Die beiden waren mit uns im Bus!«, stellte Moira erschrocken fest.
»Bist Du sicher?«, flüsterte Randy.
»Ja. Eine der Frauen heißt Holford. Ihr Mann war früher Lehrer – mein Lehrer.«
»Oh je!«, flachste Randy, »Du warst mal in der Schule?«
»Frag lieber nicht!«, würgte Moira ihn ab. »Irgendetwas stimmt hier nicht.«
»Ja. Und so lange wir nicht wissen, was hier los ist, bleiben wir hier versteckt.«
Abdul betrat das Haus der Meere mit einem Stapel orangefarbener Kleidungsstücke. Die Männer blickten ihn fragend an.
»Du! Vortreten!« Abdul zeigte auf einen der männlichen Geiseln. Zwei seiner Helfer hielten die übrigen Geiseln mit ihren Pistolen in Schach.
Zögerlich trat der Genannte aus der Gruppe.
»Name?«
»Henry … Henry Holford.«
»Beruf?«
»Lehrer. Ehemals Lehrer. … jetzt arbeitslos … genaugenommen.«
»Handy, Geldbörse, Uhr. Alles hier auf den Tisch!«
Henry gehorchte.
»Ausziehen!«
»Na los!«, brüllte Abdul, als Henry der Aufforderung nicht unverzüglich nachkam.
»Alles!«, schrie er noch lauter das Häufchen Elend an, als dieses nur noch mit der Unterhose bekleidet war.
»Mund auf!«, brüllte er den Nackten an.
Einer der beiden Komplizen übernahm die Inspektion der Mundhöhle.
»Bücken und Arschbacken auseinander!«
Jetzt hatte sich Abduls Gehilfe ein Paar Gummihandschuhe angezogen.
»Ja, schaut ruhig hin«, wandte sich Abdul an die anderen. »So geht es zu in Guantanamo und anderen Militärgefängnissen. Warum soll es Euch besser gehen?«
Erst jetzt fiel Abduls Blick auf den Jungen, der heulend hinter den andern Männern stand. Er winkte den zweiten Wächter heran.
»Schaff' den Jungen hier raus!«
»Was passiert mit ihm?« Henry Holford richtete sich auf, obwohl der Finger seines Peinigers immer noch in seinem Enddarm steckte.
»Das hängt von Euch ab«, antwortete Abdul kurz. »Los anziehen!«
Mit diesen Worten warf er Henry zwei Kleidungsstücke vor die Füße, eine Hose und ein weites Hemd, beides in grellem Orange. Danach mussten die übrigen Männer nacheinander die gleiche peinliche Prozedur über sich ergehen lassen.
»Das Tattoo eines Marines«, sagte Abdul verächtlich, als Clive Osbourne an der Reihe war. »Warst Du im Irak oder in Afghanistan im Einsatz?«
»Sowohl als auch«, antwortete Clive kurz und knapp.
»Damit stehst Du auf unserer Exekutionsliste auf einem der vorderen Plätze«, grinste Abdul.
Auch das Kreuz auf J.J. Bersons Unterarm erregte Abduls Aufmerksamkeit. »Ein gläubiger Christ?«
»Ja«, antwortete Berson leise.
»Ich kann Dich nicht verstehen! Sprich gefälligst lauter!«
»Ja!«
»Noch lauter, Du Hundesohn!«
»Ja!«
»Einer von Euch beiden stirbt zuerst«, stellte Abdul fest.
Danach wurden zwei Müllsäcke bereitgestellt. In den einen mussten die Geiseln ihre Kleidung, in den anderen ihre Wertgegenstände entsorgen.
»In einer Reihe aufstellen! Ich laufe mit einer Videokamera an Euch vorbei. Jeder sagt laut und deutlich seinen Namen, sein Geburtsdatum und seinen Wohnort, wenn die Kamera auf ihn zeigt!«
»Hallo?«, flüsterte Randy in sein Mobiltelefon. »Hallo! Ist dort der Notruf?«
»Sie sind mit der Notrufzentrale in San Luis Obispo verbunden. Nennen Sie Ihren Namen und Ihren Standort«, meldete sich eine routinierte, weibliche Stimme.
»Mein Name ist Randy Stephens und ich bin im Garten von Hearst Castle.«
»Können Sie etwas deutlicher sprechen? Sagten Sie 'Hearst Castle'?«
»Ja!«
»Sind Sie eine der Geiseln?«
»Nein, wir haben uns im Garten versteckt.«
»Bleiben Sie in der Leitung. Ich verbinde Sie mit der Einsatzzentrale.«
Dem Knacken in der Leitung folgte eine unerträgliche Stille. Durch einen Blick auf das Display vergewisserte sich Randy, ob die Verbindung noch aufgebaut war.
»Mr. Stephens, hören Sie mich? Hier spricht Chief Officer Wheeler vom San Luis Obispo Police Department. Ich bin ganz in Ihrer Nähe, unten im Besucherzentrum.«
Die Polizei war also schon vor Ort. War das nun eine gute oder eine schlechte Nachricht?
»Helfen Sie uns bitte?«
»Uns? Wer ist noch bei Ihnen?«
»Moira Marnell. Sie ist Fotomodel. Ich bin Fotograf. Wir waren hier für eine Fotosession.«
»Wie viele Geiselnehmer sind im Schloss?«
»Das weiß ich nicht. Schicken Sie uns einen Hubschrauber, verdammt noch mal!«
»Sind die Leute bewaffnet?«
»Ich glaube schon.«
»Was heißt, Sie glauben?« Wheeler wurde ungeduldig.
»Wir haben nur gesehen, wie ein Mann zwei Frauen ….«
»Hallo! Sind Sie noch dran? Hallo!«
Jemand nahm Randy das Telefon ab. »Sie hören von mir ….«
Randy blickte auf und sah in die Mündung einer Pistole. Ein zweiter Mann hatte Moira von hinten gepackt und hielt ihr den Mund zu.
»Wo ist meine Tochter? Ich will sofort meine Tochter sehen!«
Annie Patterson hatte gar nicht vor zu schweigen. Und Abdul hatte nicht vor, ihr diese Frage zu beantworten, als er das Gästehaus betrat, in dem die Frauen gefangen gehalten wurden.
Lynn Holford und Annie Patterson hatten mittlerweile ebenfalls die orangene Häftlingskleidung anziehen müssen. Jetzt schleifte Abdul eine dritte Gefangene an den Haaren in den Raum – Moira Marnell. Er versetzte ihr einen kräftigen Stoß, der sie vor die Füße der anderen beiden Frauen schleuderte.
»Mit der verbringe ich keine einzige Minute in einem Raum!«, rief Lynn, die sich bis zu diesem Moment ruhig und besonnen verhalten hatte.
»Schweig, Du dummes Weib!«, kam als Antwort gefolgt von einem Stockschlag auf den Rücken. Schmerzerfüllt krümmte sich Lynn auf dem Boden.
»Los, ausziehen!«, befahl Abdul der dritten Geisel.
Wortlos erhob der zweite Geiselnehmer den Stock, mit dem er eben Lynn geschlagen hatte. Verängstigt gehorchte Moira, streifte ihre Sandaletten ab und ließ die dünnen Träger ihres Sommerkleides von ihren Schultern gleiten.
»Du verdammte Hure! Schämst Du Dich nicht, so in der Öffentlichkeit herumzulaufen?«, schrie Abdul Moira an, die unter dem Kleid nur einen knappen Slip getragen hatte. Mit verächtlichem Blick umkreiste er sie einmal, um ihr anschließend ins Gesicht zu spucken.
»Zieh' die Sachen an!«, brüllte Abdul, während er mit der Hand seinen Speichel über Moiras Hals verteilte und dabei leicht zudrückte.
»Keine Kontrolle der Körperöffnungen?«, fragte sein Komplize mit unterwürfigem Unterton.
»Willst Du Dir die Hände an einer Hure schmutzig machen?«
Moira hatte es eilig, sich die Hose und das Hemd überzustreifen. Sich vor Männern nackt zu zeigen, hatte ihr noch nie etwas ausgemacht, aber die menschenverachtende Art dieser Typen stellten alles in den Schatten, was sie bisher erlebt hatte.
»Jetzt, wo wir Euch alle haben, müssen wir das Video nochmal aufnehmen. Also nochmal in einer Reihe aufstellen! Ihr sagt nacheinander laut Namen, Geburtsdatum und Wohnort.«
***
»Das Dinner war ja wieder ausgezeichnet«, lobte Winston Churchill das kulinarische Highlight des heutigen Abends.
»Ja, nur für meinen Geschmack hört sich unser Gastgeber allzu gerne selber reden.« Coolidge unterdrückte seine Stimme. Niemand außer Churchill sollte es hören.
»Ach Calvin, Essen zu schnell in sich hinein zuschaufeln, ist ungesund. Ich bevorzuge es, wenn sich ein so vorzügliches Dinner über mehrere Stunden hinzieht.«
»So wie die Franzosen es zelebrieren?«, wunderte sich Coolidge.
»Nicht alles, was auch Frankreich kommt, ist schlecht, Calvin.«
»Darf ich Sie gegebenenfalls zitieren?«, scherzte Coolidge.
»Mmh, lieber nicht«, lächelte Churchill. »Aber lassen Sie uns diese Konversation morgen fortführen. Ich werde mich jetzt zur Ruhe begeben. Und nochmals vielen Dank für den Umschlag!«
»Passen Sie gut darauf auf, Winston!«, verabschiedete sich Coolidge mit einem Handschlag.
»Das werde ich!«, nickte Churchill zustimmend und verschwand in seinem Appartement, das an die Gemächer von Coolidge angrenzte.
Kaum hatte er die Tür geschlossen, fiel sein Blick auf den antiken Tisch. Churchill erschrak! Der Umschlag war verschwunden! Dabei war er sich sicher, dass Coolidge ihn genau dort hingelegt hatte, bevor sie zum Dinner aufgebrochen waren. Wie in Trance blickte er auf die Tischplatte. Zwei winzige rote Splitter erregten seine Aufmerksamkeit. Mit der Zunge befeuchtete er seinen Zeigefinger, nahm die Splitter auf und betrachtete seine Fingerkuppe.
»Siegellack«, murmelte Churchill, »jemand hat das Siegel gebrochen und das Dokument gelesen! In diesem Schloss kann man niemandem trauen!«
***
»Hier kommt ein Video rein!«, rief ein Mitarbeiter des Besucherzentrums. »Es wurde an unsere e-Mail-Adresse geschickt.«
Officer Wheeler war aufgesprungen und starrte auf den Monitor, auf dem das Video abgespielt wurde.
»Kann man das lauter stellen?«, fragte er ungeduldig.
»Seit heute Morgen befindet sich Hearst Castle in der Hand der Islamistischen Union zur Befreiung Amerikas«, sagte der Sprecher. »Mein Name ist Abdul Sahir. Wir haben folgende Personen als Geiseln genommen.«
Nun folgten zwei Videosequenzen, die durch die Reihen der Geiseln schwenkten, Männer und Frauen getrennt. Jede Geisel, die gerade im Bild war, sagte ihren Namen, das Geburtsdatum und den Wohnort. Die Menschen wirkten verängstigt, ihre Stimmen waren gebrochen und es fiel ihnen offensichtlich schwer, in die Kamera zu blicken. Danach erschien wieder das Bild mit dem Sprecher, der sich als Abdul Sahir vorgestellt hatte. Im Gegensatz zur vorherigen Einstellung, war er nun flankiert von zwei mit Maschinenpistolen bewaffneten Männern. An der Wand hinter ihnen war eine schwarze Fahne mit arabischen Schriftzeichen aufgehängt worden.
»Wie Sie sehen, tragen die Geiseln eine orangene Kleidung ähnlich der, die Ihr unseren Glaubensbrüdern in Guantanamo verpasst habt. Wir verlangen die Freilassung aller Guantanamo-Häftlinge und Einbürgerung derjenigen, die dies wünschen. Ferner verlangen wir die Auslieferung von zehn Personen, die in Guantanamo und Abu Greib an Folterungen und Misshandlungen unserer Glaubensbrüder beteiligt waren. Unsere dritte Forderung beläuft sich auf einhundert Millionen Dollar zur Deckung unserer Auslagen. Des weiteren ist uns ein vollgetankter Learjet auf dem Flugplatz des Hearst Castles zur Verfügung zu stellen. Ich erwarte eine Antwort bis morgen früh. Fällt diese Antwort nicht in unserem Sinn aus, wird im Morgengrauen die erste Geisel hingerichtet.«
Damit war das Video beendet. Alle Anwesenden atmeten tief durch.
»Verdammt«, schrie Wheeler und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Wie zum Teufel haben diese verdammten Terroristen die Waffen und die Ausrüstung dort hoch gebracht? Die sind doch alle kontrolliert worden!«
»Unser Security Gate funktioniert einwandfrei«, glaubte Gina Hines, die Sicherheitsbeauftragte des Hearst Castles, sich verteidigen zu müssen. »Wir checken den Metalldetektor einmal die Woche.«
***
Der schwere Vorhang hielt die Frühlingssonne nur unzureichend ab und tauchte das Schlafzimmer in ein mattes Dämmerlicht. Bereits vor einer Stunde war Georgina May neben Mike aufgewacht. Zu sehr war ihr Biorhythmus auf ein frühes Aufstehen programmiert. Eine halbe Stunde lang hatte sie versucht, noch einmal einzuschlafen. Unmöglich! Mike schnarchte. Schließlich hatte sie kapituliert, war aufgestanden und hatte ihren roten Tanga angezogen. Rote Unterwäsche passte perfekt zu ihrer schwarzen Haut, meinte jedenfalls ihr Lebensgefährte Mike.
Nun saß sie auf der Couch im Wohnzimmer und fühlte die angenehme Kühle des weichen Leders auf ihrer Haut. Eigentlich wollte sie das 'Handbuch der modernen Ermittlungsmethoden' bis zum Wochenende durchgepaukt haben. Nach zwanzig Minuten hatte der innere Schweinehund ihre Arbeitsmoral besiegt und sie blätterte in einem Reiseführer über die Hawaii-Inseln.
Mit Mike wollte sie dahin. Und das nicht erst, wenn sie beide das Rentenalter erreicht hatten. Georgina May hatte heute ihren freien Tag. Nächtelang hatte die afroamerikanische Datenanalystin in der FBI-Zentrale in San Francisco Überstunden angesammelt, die es nun abzufeiern galt. Da passte es gut, dass Mike erst heute Nachmittag zur Arbeit musste. Seit einem halben Jahr besuchte sie Lehrgänge, um den Rang eines Special Agents zu erlangen. Nicht allen gelang dieser Karrieresprung. Insgeheim hoffte sie, dass ihre schwarze Hautfarbe ihr dabei eher behilflich als hinderlich sein würde. Mit der damit verbundenen Gehaltserhöhung würde ein Hawaii-Urlaub in greifbare Nähe rücken.
»Georgina!« Das war Mike.
»Ich bin hier, Darling!«
»Warum bist Du schon aufgestanden? Liest Du schon wieder im Handbuch oder im Reiseführer? Komm wieder ins Bett!«
Georgina musste lächeln, als sie das Buch zur Seite legte. Wie gut er sie doch kannte! Mit grazilen Schritten ging diese hochgewachsene Frau zurück ins Schlafzimmer und kletterte auf allen Vieren geschmeidig wie ein schwarzer Panther in ihr Liebesnest. Als Mike sich an sie schmiegte und seine Hände ihre schwarzen Brüste streichelten, spürte Georgina seinen erigierten Penis an ihren Schenkeln.
Sie drückte Mikes Schultern zur Seite, so dass er auf dem Rücken lag, während sie sich über ihn beugte. Sie spürte seinen heißen Atem, als ihre Hand ihren Tanga zur Seite streifte und sein steifes Glied in ihre Scheide einführte. Sein Dreitagebart kitzelte auf ihren Lippen, während ihre Zunge seine Mundhöhle erkundete. Sie ließ ihre Beckenmuskulatur spielen und genoss das Funkeln in Mikes Augen. Seit langem hatten sie wieder Zeit für einander. Heute Morgen würde sie das Vorspiel ausdehnen und den gemeinsamen Höhepunkt herauszögern so lange es ging.
Doch mit einem Schlag machte das Summen von Georginas Mobiltelefon alles zunichte.
»Geh' jetzt bloß nicht ran, Liebes!«, mahnte Mike.
»Es ist mein Diensthandy. Wenn das klingelt ist es dringend.« Georgina hatte ihren linken Arm bereits ausgestreckt und ihre Hand ertastete schließlich das penetrant vibrierende Smartphone auf dem Nachttisch. Gerade als sie auf das Display schauen wollte, erlosch dieses und auch der Summton verstummte.
»Na also!« Mike fühlte sich bestätigt. »Es gibt jetzt Wichtigeres. Und einen vibrierenden Gegenstand brauchst Du doch nicht, oder?«
»Wer weiß?«, antwortete Georgina schnippisch und leicht provokant.
Mike drückte seine Freundin fest an sich – eine zärtliche Maßnahme, jeden Widerspruch im Keim zu ersticken. Aber Georginas Diensthandy meldete sich erneut. Diesmal war sie flink genug, um einen Blick auf das Display zu werfen. Ihr ungutes Gefühl hatte sie nicht im Stich gelassen. Ihr Kollege Stephen Morris, Special Agent beim FBI, versuchte sie zu erreichen.
»Mein Boss, ich muss rangehen«, knurrte Georgina, löste sich endgültig aus der Umarmung und richtete sich auf.
»Wir haben erhöhte Alarmbereitschaft«, meldete sich Morris ohne ein Wort der Entschuldigung. »Geiselnahme im Hearst Castle. Wird als terroristischer Anschlag eingestuft.«
»Im Hearst Castle?«, fragte Georgina verwundert. »Warum kümmern sich die Kollegen in L.A. nicht darum?«
»Weil es genau in der Mitte zwischen Frisco und L.A. liegt, darum!«, maulte Morris ungehalten. »Es wird eine Task Force gebildet. Die Kollegen aus Los Angeles sind mit an Bord. Ferner ist die Homeland Security involviert.«
»Ein terroristischer Hintergrund also«, schlussfolgerte Georgina und seufzte: »Okay, Stephen. Du hast gewonnen. Ich bin in einer halben Stunde im Büro.«
»Nein Georgina, das dauert zu lange. Ich bin in einem Einsatzwagen bereits auf dem Weg zu Dir. Der Fahrer bringt uns direkt zum Flughafen. Wir fliegen mit dem Helikopter. Der Truck mit der mobilen Einsatzzentrale ist bereits unterwegs.«
Kaum hatte Morris aufgelegt, hörte Georgina bereits die Sirenen eines Streifenwagens und wenig später die quietschenden Reifen direkt vor dem Haus.
»Woher weiß dieser Stephen eigentlich, wo Du bist?«, wollte Mike wissen.
»Dieses Handy kann jeder Zeit geortet werden«, antwortete Georgina in sachlichem Ton, während sie ihren ebenfalls roten BH verschloss.
»Richte Deinem Boss einen schönen Gruß von mir aus! Ich bringe ihn um.«
»Bedrohung eines Bundesbeamten«, lächelte Georgina gequält, »dafür wanderst Du in den Knast. Was ich viel mehr hasse, ist, mich nach dem Sex nicht duschen zu können.«
»Welcher Sex? Habe ich das was nicht mitbekommen?«, fragte Mike sichtlich frustriert über den Coitus interruptus, während er seiner attraktiven Freundin zusah, wie sie sich fertig ankleidete.
»Ein andermal«, vertröstete Georgina ihren in einem ganz offensichtlich immer noch erregten Zustand auf dem Bett liegenden Mike und hauchte ihm ein Küsschen zu. Auf eine Umarmung verzichtete sie. Er hätte sie nicht wieder losgelassen.
Eine Minute später saß sie neben Stephen Morris auf dem Rücksitz eines Zivilfahrzeuges des FBI, der mit auf dem Dach befestigtem Blaulicht unter Missachtung aller Verkehrsregeln in Richtung Flughafen raste.
»Ich hoffe, ich habe Dir Deinen freien Tag nicht versaut«, meinte Stephen mit leicht süffisantem Unterton.
»Nein, überhaupt nicht!«, antwortete Georgina mit unüberhörbarem Sarkasmus, »ich war gerade dabei, unseren Hawaii-Urlaub zu planen.«
»Du hast hoffentlich noch keine Tickets gekauft!«
»Nein, wir sind noch in der Planungsphase«, lachte Georgina, »jetzt will ich erst mal meine Ausbildung zum Special Agent abschließen.«
»Sehr gut!«, antwortete Stephen anerkennend.
***
Symone hatte ihre langen, schwarzen Haare mit einem Haargummi fixiert. Dennoch wehten ihr einzelne Strähnen ins Gesicht. Durch die offene Luke des Hubschraubers spürte sie, wie der Rotor über ihr die Luft verwirbelte.
»Du bist gleich auf Sendung! Drei – zwei – eins – los!« Die Stimme dröhnte über die Ohrhörer des Headsets.
»Hier ist Symone Sorana live für CBS News vom Hubschrauber über dem Hearst Castle«, brüllte die junge Reporterin in das Mikrophon, das direkt vor ihren Lippen hing. »Heute Vormittag wurde diese berühmte Sehenswürdigkeit und beliebte Touristenattraktion von einer noch unbekannten Anzahl von Terroristen überfallen. Eine ebenfalls noch unbekannte Anzahl von Touristen und Mitarbeitern des Schlosses wurden als Geiseln genommen.«
Mit einer Handbewegung gab sie Ben, dem Kameramann, ein Zeichen, die Kamera aus der Seitenluke auf Hearst Castle zu schwenken. Jeder Zuschauer konnte sehen, dass diese Bilder live ausgestrahlt und authentisch waren und kein billiges Archivmaterial gesendet wurde. Landesweit sollten die Bilder direkt übertragen werden. An der Ostküste bekamen die Frühaufsteher die Breaking News zum Frühstück serviert. Das einzige, was die Kamera einfing, war ein Schloss, dessen weiße Wände die späte Vormittagssonne reflektierten. Keine Blutlachen, keine Einschusslöcher. Ungewöhnlich war nur diese beklemmende Leere. Der Vorplatz vor dem Haupteingang war genauso verwaist wie die Gartenanlagen und der Weg um den Neptun Pool. Nur ein Bus stand einsam und verlassen an der oberen Haltestelle.
»Aus zuverlässiger Quelle wissen wir, dass es sich bei den Geiselnehmern um Islamisten handelt. Das von Zeitungsverleger William Hearst vor hundert Jahren errichtete Schloss steht symbolisch für die Macht der Pressefreiheit. Wir müssen davon ausgehen, dass dieses Ziel nicht zufällig ausgewählt worden ist. Bisher waren US-Bürger nur im Ausland dem Risiko ausgesetzt, von Islamisten als Geisel genommen zu werden. Seit heute gilt das nicht mehr. Im eigenen Land sind arglose Touristen, Familien mit Kindern vor diesen Verrückten nicht mehr ….«
Vom linken Turm des Hearst Castles zischte eine Boden-Luft-Rakete himmelwärts und verwandelte den Hubschrauber in einen Feuerball.
Gina Hines war gerade dabei, das Video der Geiselnehmer erneut abzuspielen, als ein dumpfer Knall die Glasscheiben des Besucherzentrums erzittern ließ. Auch der hartgesottene Officer Wheeler konnte seine Reflexe nicht kontrollieren und zuckte zusammen. Als er sich wieder aufrichtete und fassungslos aus dem Fenster starrte, sah er eine schwarze Rauchwolke unweit des Schlosses aufsteigen.
»Oh mein Gott! Oh mein Gott!«, schrie Gina Hines und deutete hysterisch auf einen anderen Bildschirm, auf dem das aktuelle Fernsehprogramm lief. »Die haben gerade einen Hubschrauber von CBS abgeschossen! Der war gerade live auf Sendung!«
Über dem Schriftzug 'Breaking News' war eine sichtlich geschockte, leichenblasse Moderatorin zu sehen, der die Worte im Halse steckengeblieben waren. Im Hintergrund schneiten weiße und schwarze Pixel, bevor ein Standbild des Hearst Castles eingeblendet wurde. Der Terroranschlag hatte die ersten Todesopfer gefordert.
»Die haben also nicht nur Handfeuerwaffen«, schlussfolgerte Wheeler mit versteinertem Gesicht, »sondern verfügen über Boden-Luft-Raketen. Wie um Himmelswillen haben sie solche Waffen auf das Schloss gebracht?«
»Jedenfalls nicht durch unsere Sicherheitsschleuse«, beeilte sich Gina Hines zu rechtfertigen.
»Es wird allerhöchste Zeit, dass das FBI und die Homeland Security hier auftauchen«, murmelte Wheeler.
»Nur mal so unter uns«, sagte Stephen Morris verschwörerisch, während der Hubschrauber bereits zur Landung ansetzte, »Deine Beförderung zum Special Agent ist auf gutem Weg.«
»Woher weißt Du das?«, wollte Georgina May wissen.
»Was man so hört. Es sind Deine Leistungen, die ausschlaggebend sind.«
»Und ich dachte schon, ich werde bevorzugt, weil ich eine Frau bin und weil ich schwarz bin.«
»Noch mehr Minderheitenbonus könntest Du bekommen, wenn Du lesbisch und behindert wärst«, kam als sarkastische Antwort.
Ja, so war er, der Morris! Die schwarze Datenanalystin grinste und ließ ihre weißen Zähne aufblitzen.
»Jetzt aber mal Spaß beiseite. Ich habe Dich mitgenommen, weil Du die Beste bist, wenn es darum geht, Datenbanken anzuzapfen und im digitalen Sumpf zu wühlen. Aber so lange Du noch nicht den Rang eines Special Agents hast, möchte ich, dass Du Dich darauf beschränkst. Auch wenn es Dir schwer fällt.«
Die beiden kannten sich schon lange genug, sodass Georgina genau wusste, worauf ihr Kollege anspielte. »Ich werde mir Mühe geben«, entgegnete sie mit gespielter Unterwürfigkeit und ganz und gar unverbindlich.
Stephen Morris beschlich so eine Ahnung, dass seine Kollegin sich nicht an diese Abmachung halten würde. In diesem Moment ließ ein lauter Knall die Kabine des Hubschraubers erzittern. Stephen und Georgina krallten ihre Fingernägel in die Armlehnen, als der Hubschrauber eine scharfe Wendung nach rechts vollzog. Als sie aus dem linken Seitenfenster schauten, sahen sie einen riesigen Feuerball.
»Was ist das?«, schrie Georgina.
»Eine Explosion über Hearst Castle«, meldete sich der Pilot über Lautsprecher. »Keine Sorge. Wir sind in weniger als einer Minute am Boden.«
Wer, wie die Familie Hearst, ein eigenes Schloss besaß, der verfügte auch über einen privaten Flugplatz. Dieser lag unweit des Visitor Centers. Dennoch wurde der Hubschrauber mit Stephen Morris und Georgina May an Bord direkt zum Parkplatz des Besucherzentrums gelotst. Hier war ein provisorisches Lagezentrum errichtet worden, zumindest bis die Trucks mit den mobilen Einsatzzentralen vor Ort waren. Gleich nach Bekanntwerden des Überfalls waren alle verfügbaren Einheiten der Polizei aus San Simeon und San Luis Obispo zum Hearst Castle beordert worden. Der Parkplatz war bis auf wenige Fahrzeuge geräumt und die einzige Zufahrtsstraße abgeriegelt.
Georgina und Stephen waren erleichtert, als der Hubschrauber sicher aufsetzte.
»Wer ist der ranghöchste Beamte vor Ort?«, wollte Morris wissen, kaum dass er den Wind der noch laufenden Rotorblätter hinter sich gelassen hatte.
»Chief Officer Wheeler vom SLOPD«, antwortete der Polizist, der ihm am nächsten stand.
»SLOPD?«
»San Luis Obispo Police Department.«
Da hätte Morris auch selbst darauf kommen können.
»Special Agent Morris, FBI. Was ist da gerade explodiert?«, fragte er.
»Der Hubschrauber mit einem Kamerateam von CBS. Offensichtlich wurde er abgeschossen.«
»Abgeschossen? Mit was?«
»Das kann nur eine Boden-Luft-Rakete gewesen sein.«
»Die Geiselnehmer haben Raketen?« Morris war fassungslos.
»Sieht so aus.«
»Wem gehören die Fahrzeuge, die noch auf dem Parkplatz stehen?«, wechselte Morris das Thema.
»Alle Besucher, die sich im Besucherzentrum aufhielten, sind evakuiert, die Bediensteten parken auf einem separaten Parkplatz«, antwortete Wheeler dienstbeflissen. »Wir müssen davon ausgehen, dass die noch auf dem Parkplatz befindlichen Fahrzeuge den Geiseln oder den Gangstern gehören. Wir überprüfen gerade die Kennzeichen.«
»Hatten Sie schon Kontakt zu den Geiselnehmern?«
»Martin Frazer, einer der Mitarbeiter, die oben im Schloss die Führungen organisieren, hat angerufen. Hearst Castle befinde in den Händen der ...« Wheeler schielte auf einen Zettel »... 'Islamistischen Union zur Befreiung Amerikas'« Wheeler betonte den Namen, als wolle er diese Organisation der Lächerlichkeit preisgeben. »Die Verwaltung hat den Busverkehr sofort gestoppt und uns alarmiert. Und gerade eben haben die Schweine ein Video gesendet.«
»Das ist übrigens Georgina May, unsere Datenanalystin«, stellte Morris dem Chief Officer seine Kollegin vor. »Georgina, hast Du schon einmal etwas von einer Islamistischen Union zur Befreiung Amerikas gehört?«
Georgina verdrehte die Augen. »Ich kann unmöglich jeden durchgeknallten Spinner zwischen Kalifornien und Maine kennen.«
Gedankenversunken blickte Morris zu dem Hügel, auf dem das Schloss in dem von der Sonne durchfluteten Dunst des späten Vormittags lag. Die Rauchwolke, die vom Wrack des abgeschossenen Hubschraubers aufstieg, war das einzige, was diese Idylle störte.
»Für einen durchgeknallten Spinner geradezu genial!«, meinte er.
»Wie meinst Du das?«
»Nur eine einzige schmale Straße führt zum Schloss. Die Straße ist von den Türmen aus leicht einsehbar. Eine Piste, von der ein kleiner Jet starten kann, ist auch in der Nähe. Östlich des Schlosses ist nichts als bewaldetes Hügelland. Keine Wege, keine Straßen. William Hearst, der Erbauer des Castles, war ein Zeitungsverleger. Symbolträchtiger kann eine solche Aktion kaum sein.«
***
Die drei Frauen waren allein im Gästezimmer. Die Tür war verschlossen, die Fensterläden von außen zugeklappt und mit einer Kette gesichert worden. Sie mussten davon ausgehen, dass zumindest einer der Männer vor der Tür Wache hielt. Annie tigerte aufgeregt im Zimmer auf und ab, während Lynn auf dem Bett lag und die Decke anstarrte. Moira saß zusammengekauert in einer Ecke und zitterte.
»Was sollte das vorhin?«, durchbrach Annie die Stille.
»He, ich rede mit Ihnen!«, erhob sie die Stimme in Lynns Richtung, nachdem diese auf die Frage nicht reagiert hatte. »Was sollte der Ausspruch: 'Mit der verbringe ich keine einzige Minute in einem Raum!' ?«
»Fragen Sie doch das Flittchen!«, kam als tonlose Antwort. Lynn ließ die Zimmerdecke dabei nicht aus den Augen.
Annie schaute fragend zuerst auf Lynn, um danach ihren Blick auf Moira zu richten.
»Ihr Mann war mein Lehrer«, begann Moira zu stottern. »Er hat mich auf einem Schulausflug begrabscht.«
»Das behauptet sie!«, zischte Lynn.
»Ich habe Zeugen!«
»Du bist auf einem Wanderweg hingefallen und Henry hat Dir aufgeholfen.«
»Er hat mein Hemd zerrissen und meine Brüste umfasst!«
»Wahrscheinlich bist Du absichtlich vor ihm hingefallen. Deine Freundinnen hatten ja schon vorher ihre Handys gezückt und filmten eifrig.«
»Also unsere Situation ist schon unangenehm genug«, resümierte Annie. »Ich habe keine Lust, diesen Raum für die nächsten Stunden oder Tage mit zwei streitenden Weibern zu verbringen. Meine Tochter und Ihr Sohn sind in der Hand dieser Terroristen. Ich möchte mir nicht ausmalen, was sie mit ihnen machen. Darüber sollten wir uns Sorgen machen!«
»Henry hat wegen dieser Schlampe seinen Job als Lehrer verloren!«
»Jetzt reicht es!«, schrie Annie dazwischen.
»Nein, es reicht nicht! Haben Sie gesehen, wie diese Göre rumläuft? Sie trug unter ihrem Kleid nicht einmal einen BH. Als wir die Führung im anderen Gästehaus hatten, habe ich zufällig aus dem Fenster geschaut. Sie und ihr Begleiter sind nicht zur Besichtigung hier hoch gekommen. Sie und dieser Fotograf hatten sich gleich nach der Ankunft von der Gruppe abgesondert und er machte Fotos von ihr im Garten. Sie hat aufreizend posiert und war vollkommen nackt. Und übrigens: der Gärtner hat aus einem Versteck heraus ebenfalls Fotos von ihr gemacht.«
Jetzt war es Moira, die überrascht aufblickte.
»Es sind nur vier Männer!«, murmelte Clive Osbourne.
»Soll das heißen, Sie planen einen Ausbruch?«, fragte Henry Holford überrascht.
»Würde ich auch, wenn ich ganz oben auf der Todesliste stehen würde«, meinte Randy Stephens.
Osbourne tat so, als hätte er diese Bemerkung überhört. »Ich bin ein ehemaliger Marine und ich habe geschworen, nie wieder eine Waffe anzufassen. Aber wenn ich die Pistole einer dieser Mistkerle in die Finger bekomme, puste ich ihm ohne zu zögern das Hirn weg. Ist jemand von Ihnen Arzt? Ich frage das nur, falls es Verletzte gibt.«
»Ja, ich«, antwortete Ron Patterson, »aber mit meinen bloßen Händen kann ich wenig ausrichten.«
»Was meinen Sie, was man mit bloßen Händen alles anstellen kann«, lachte Osbourne mit einem Anflug von Sarkasmus. »Ich habe zwar nicht Medizin studiert und kann keine Herztransplantation vornehmen, aber ich habe etliche Kurse in erster Hilfe nach Schussverletzungen absolviert.«
»Es gibt noch eine andere Möglichkeit«, mischte sich Fernando Llorente, der Gärtner, in das Gespräch ein und hatte damit im Nu die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich gezogen. »Der westliche Bereich des Gästehauses ragt etwas über den Abhang und steht auf Stelzen. Neben dem Abflussrohr im Bad ist eine Klappe in Boden.«
»Und wir werden abgeknallt wie die Hasen«, gab Berson zu bedenken.
»Nicht, wenn wir das nachts durchziehen«, konterte Llorente.
»Wir können doch unsere Frauen nicht zurücklassen!« empörte sich Henry Holford.
»Wer nicht mitkommen will, kann ja hier bleiben«, stellte Osbourne sachlich fest. »Wir schleichen uns nachts ins Bad und versuchen zu entkommen. Sollte nur einer der Wächter hier aufkreuzen, werde ich ihm die Waffe entreißen und dann rennen wir los.«
»Martin, was meinst Du dazu?«, fragte Berson sichtlich verunsichert.
Der Fremdenführer hatte sich an der bisherigen Diskussion nicht beteiligt. Vielmehr war er dabei, die Bücherregale im Gästezimmer zu durchsuchen.
»Darf ich fragen, was Sie hier vorhaben?«, fragte Ron Patterson erstaunt und verärgert zugleich.
»Ich hasse es, tatenlos herumzusitzen«, entgegnete Martin Frazer, nahm ein weiteres Buch aus dem Regal und ließ die Seiten durch seine Finger gleiten.
»Suchen Sie etwas Bestimmtes?«
»Ich bin eigentlich Historiker«, begann Martin zu erklären. »Ich habe meine Abschlussarbeit über das Hearst Castle geschrieben. Die Wandschränke in all den verschiedenen Räumen enthalten unzählige Bücher. Besonders in den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts waren viele bedeutende Persönlichkeiten hier zu Gast. Die meisten waren nur zum Vergnügen und wegen des guten Essens hier. Andere haben diese Bücher in den Händen gehalten, gelesen und den einen oder anderen Notizzettel als Lesezeichen in den Büchern zurückgelassen.«
»Ihre Nerven möchte ich haben«, mischte sich Henry Holford ein.
»Arbeiten Sie deshalb im Hearst Castle?«, fragte Ron Patterson.
»Für einen arbeitslosen Geisteswissenschaftler nicht die schlechteste Option«, antwortete Martin Frazer etwas schmallippig.
***
»Ich hoffe, der Truck kommt bald!« Georgina May wurde langsam ungeduldig.
Die Aufzeichnungen der Überwachungskameras mussten nachbearbeitet werden, bevor man sie sinnvoll auswerten konnte. Fest stand lediglich, dass zwei Familien mit jeweils einem Kind, sowie fünf einzelne Männer in den Bus gestiegen waren. Kurz vor der Abfahrt waren noch ein weiterer Mann zusammen mit einer jungen Frau zugestiegen.
Georgina verglich die Aufzeichnungen der Überwachungskameras mit dem Video, dass die Geiselnehmer verbreitet hatten. Darauf waren alle Geiseln zu sehen – mit Ausnahme der beiden Kinder.
Außer den Touristen waren der Busfahrer, ein Gärtner sowie die Begleitperson, die die Besucher durch das Castle führen sollte, in Geiselhaft geraten.
»Die Gewehre müssen sie schon vorher hoch geschafft haben«, mutmaßte Georgina. »Das wäre auf den Aufnahmen zu erkennen gewesen. Nur die junge Frau, Moira Marnell, hatte eine große Tasche bei sich.«
»Da hätten wohl kaum all die orangenen Anzüge, Waffen und eine Boden-Luft-Rakete reingepasst«, meinte Morris.
Jede weitere Konversation wurde übertönt vom lauten Geknatter eines Hubschraubers, der auf dem Parkplatz zur Landung ansetzte.
»Die Homeland Security«, rief Morris, »das wurde aber auch Zeit.«
»Was mich viel mehr beunruhigt«, ergänzte Georgina, als das Knattern des Hubschraubers verstummte, »wo sind die beiden Kinder? Auf den Videos waren sie nicht zu sehen.«
Drei Männer und eine Frau waren aus dem Hubschrauber ausgestiegen, überquerten den Parkplatz und betraten das Besucherzentrum.
»Stephen! Lange nicht gesehen!«, grüßte der jüngste der Männer.
»Hallo Einstein!«, erwiderte Morris den Gruß mit einem süffisanten Grinsen im Gesicht, bevor er sich an Georgina wandte, die angesichts dieses Spitznamens sichtlich irritiert war. »Georgina, das ist Ethan Crawford. Wir kennen uns noch aus der Polizeiakademie. Ethan war unser Klassenbester – außer im Polizeisport und beim Schießen.«
In der Tat wirkte der hagere Ethan Crawford wie jemand, der überwiegend mit dem Kopf arbeitete.
»Und dies ist Georgina May, sie arbeitet in meiner Abteilung als Datenanalystin«, ergänzte Stephen Morris die Vorstellungsrunde. »Sie steht Dir an Intelligenz in nichts nach!«
Ethan Crawford musterte die attraktive Afroamerikanerin von oben bis unten und ergänzte: »Sehr schön! Ich mag es, mit intelligenten Menschen auf Augenhöhe zu arbeiten.«
Nun deutete Ethan nacheinander auf die beiden älteren Herren und die blonde Frau neben ihm: »Dies ist Director Crain, mein Boss beim FBI Los Angeles. Austin Harvey leitet bei der Homeland Security die Abteilung für Terrorabwehr. Barbara Watts ist seine Mitarbeiterin und ausgebildete Psychologin.«
»Wir sechs bilden ein übersichtliches Core Team«, bestimmte derjenige, den Ethan Crawford als Austin Harvey vorgestellt hatte. »Es gilt Alarmcode Red Zero, das heißt, Sie alle schalten jetzt ihre privaten Mobiltelefone aus. Sobald die mobile Einsatzzentrale hier eingetroffen und einsatzbereit ist, können Sie Information von außen anfordern, aber kein einziges Byte verlässt dieses Team! Verstanden?«
Der preußische Befehlston gefiel keinem der Anwesenden.
»Wie ich sehe, haben Sie sich bereits eingerichtet.« Director Crain blickte sich im Sicherheitsbüro des Besucherzentrums um. »Haben Sie schon erste Erkenntnisse?«
»Wir warten noch auf die Trucks, die unsere mobile Einsatzzentrale hierher bringt«, brachte Morris die eben eingetroffenen Kollegen auf den aktuellen Stand. »Bisher haben wir nur ein Video empfangen.«
»Ein Bekennervideo?«, fragte Barbara Watts.
»Schauen Sie selbst!«, meinte Georgina und spielte die Videodatei ab.
»Freilassung aller Guantanamo-Häftlinge und die US-Staatsbürgerschaft für diese Verbrecher!« Kopfschüttelnd wiederholte Austin Harvey die Hauptforderungen der Terroristen, nachdem er sich das Video zum dritten Mal angeschaut hatte.
»... und amerikanische Staatsbürger in orangener Gefängniskleidung«, ergänzte seufzend seine Kollegin Barbara Watts. »Das Video wurde auf Youtube bereits anderthalb Millionen mal angeklickt.«
»Das Ultimatum läuft erst morgen früh ab«, ergänzte FBI-Director Crain. »Die Burschen scheinen sich sehr sicher zu fühlen.«
»Die haben wohl vergessen, dass die amerikanische Regierung grundsätzlich nicht mit Geiselnehmern verhandelt«, meinte Barbara, »für die ist das ein Himmelfahrtskommando. Und die Geiseln sind schon so gut wie tot.«
»Die Hearst-Familie war doch schon einmal das Ziel von Geiselnehmern«, erinnerte sich Crain.
»Das war vor fast vierzig Jahren, 1974.« Jetzt spulte Ethan Crawford sein Wissen als wandelndes Lexikon ab. »Die damals neunzehnjährige Patricia Hearst war von einer kommunistischen Guerilla-Truppe entführt worden. Sie verlangten von ihrem Großvater, dass er die Obdachlosen Kaliforniens mit Essen zu versorgen habe. Im Vergleich zu denen da oben …« Ethan deutete auf das Schloss, »… waren das die reinsten Chorknaben, wenn Sie mich fragen.«
»Und wie ist die Geschichte ausgegangen?«, wollte Georgina wissen.
»Patricia Hearst hat sich mit ihren Entführern verbrüdert, sich an Banküberfällen beteiligt und ist zu fünfunddreißig Jahren Gefängnis verurteilt worden, von denen sie nicht einmal zwei Jahre abgesessen hat.«
»Wie immer, wenn genug Geld im Spiel ist«, maulte Stephen Morris. »Wäre das meine Tochter gewesen, ich hätte sie übers Knie gelegt.«
»Solange unser Truck noch nicht da ist, sichte ich die Aufzeichnungen der Überwachungskameras und das Video, das die Terroristen geschickt haben«, wechselte Georgina das Thema.
»Ja, wir müssen unbedingt die Identität der Geiselnehmer klären«, bekräftigte Morris. »Ferner durchleuchten wir alle Angestellten des Schlosses.«
»Wieso das?«, fragte Director Crain sichtlich überrascht.
»Weil diese Ziegenficker mindestens einen Komplizen haben müssen«, entgegnete Morris laut und deutlich. Auf politische Korrektheit bei seinen Ausdrucksweisen hatte er noch nie besonderen Wert gelegt. »Oder hat jemand hier im Raum eine plausible Erklärung, wie als Touristen getarnte Terroristen es schaffen konnten, Ausrüstung und Waffen zum Castle zu bringen?«
»Damit kann ich gleich anfangen!« Georginas Augen leuchteten, als sie sah, dass der erste Truck mit der mobilen Einsatzzentrale vor dem Besucherzentrum vorfuhr.
»Dann fang mit der da an«, raunte Ethan Crawford ihr zu und blickte dabei unauffällig zu Gina Hines, der platinblonden Sicherheitsbeauftragten des Hearst Castles.
***
»Ich will keinen Ton hören! Keiner sagt ein Wort!«, schrie Abdul.
Alle Geiseln trugen Fußketten, sodass sie nur in kleinen Schritten einen Fuß vor den anderen setzen konnten. Zudem hatten die Geiselnehmer ihnen Ledergürtel umgeschnallt, die mit einer langen Stahlkette verbunden waren. Sie mussten hintereinander gehen. Aus der Perspektive des Schützen im Turm, der vor anderthalb Stunden den Hubschrauber mit den neugierigen Reportern abgeschossen hatte, kroch eine orangefarbene Raupe langsam auf den Bus zu.
»Im Mittelgang stehen bleiben! Die Fahrt ist nur kurz!«
»Ich will meine Tochter sehen!«, schrie Annie verzweifelt.
Wortlos ging Abdul auf sie zu und drückte ihre Kehle zu. Die anderen sahen tatenlos zu als Annie begann, zu röcheln und die Augen zu verdrehen. Erst als ihre Beine bereits einknickten, ließ Abdul von ihr ab. Annie hustete und spie blutigen Schleim.
Der Einsteigvorgang verzögerte sich, denn die Fußfesseln erschwerten das Erklimmen der Trittstufen.
»Los! Schneller Ihr Hunde!«, schrie Abdul, während einer seiner Helfer eine Peitsche auf den Boden neben dem Bus knallen ließ und ein anderer den ganzen Vorgang filmte. Amerikaner gedemütigt im eigenen Land! So sollte es sein!
Es war bereits früher Nachmittag, als sich der Bus schließlich in Bewegung setzte. Einer der Terroristen steuerte ihn auf die Straße, die abwärts zum Besucherzentrum führte. Sollten sie freigelassen werden? Wohl kaum! Dennoch klammerte sich jeder an genau diese Hoffnung. Wohin sonst sollten sie gebracht werden?
»Halt!«, befahl Abdul schon nach wenigen Metern.
Am Abhang neben der Straße hing die zerfetzte und halb verkohlte Kanzel des abgeschossenen Hubschraubers. Abdul und einer seiner Helfer stiegen aus und kehrten nach wenigen Minuten mit einem schaurigen Souvenir zurück. Sie hatten Symone Soranas halbverkohlte Leiche gefunden. Nun hielt Abdul den abgetrennten Kopf an den Haaren hoch. Einige der Geiseln schrien entsetzt auf, andere wandten den Blick ab oder mussten sich übergeben.
»Das passiert auch mit Euch, wenn unsere Forderungen nicht erfüllt werden!«, rief der nach hinten in den Bus. »Nur mit einem Unterschied: Ihr werdet noch am Leben sein, wenn ich mit meinem Messer Eure Hälse durchschneide.«
Mit diesen Worten warf er Symones Kopf zu Boden und packte den Nächstbesten. In diesem Fall war es Henry Holford. Abdul hielt mit dem Messer erst kurz vor seinem Hals inne. Henry begann zu hyperventilieren. Angstschweiß rann in Strömen über sein Gesicht. Seine Frau Lynn, die weiter hinten in der Reihe angekettet war, kreischte hysterisch und ließ sich zu Boden fallen. Die kräftigen Fußtritte, die sie dafür kassierte, spürte sie nicht. Vor und hinter ihr waren die anderen beiden Frauen angekettet, die durch ihr Verhalten ebenfalls nach unten gezogen wurden. Unaufgefordert gingen alle Geiseln im Mittelgang des Busses in die Hocke.
Schließlich ließen die Peiniger von Lynn ab, die benommen auf dem Boden liegen blieb. Erneut setzte sich der Bus in Bewegung, um nach einer viertel Meile wieder anzuhalten. Was kam jetzt? Wer bei der Fahrt zum Schloss aufgepasst hatte, wusste, dass der Bus vor den ehemaligen Raubtiergehegen gehalten hatte.
»Raus! Steigt aus, Ihr Schweine!«
Getrieben von Peitschenhieben stolperten die immer noch aneinander geketteten Geiseln aus dem Bus. Lynn wurde von Annie und Moira gestützt. Durch einen Gang und eine geöffnete Gittertür führte sie der Weg in eine Art Arena, umgeben von glatten, meterhohen Betonwänden. Einst hatten hier Bären und Raubkatzen ein trostloses Dasein gefristet.
»Du, Du und Du!«
Abdul zeigte auf die Geiseln, die am Anfang der Kette standen. Es waren Clive Osbourne, Ron Patterson und Fernando Llorente. Ihre Ketten wurden gelöst. Was passierte jetzt? Sollten alle drei hingerichtet werden? Ron Patterson wurde schwindelig. Er blickte hilfesuchend zu Annie, die noch immer mit den Folgen des Würgegriffs zu kämpfen hatte. Die beiden anderen Männer mussten ihn stützen, wobei Fernando Llorente ebenfalls kurz davor war zu kollabieren. Am standhaftesten war noch Clive Osbourne.
Als Erster bekam Ron einen Spaten in die zitternden Hände gedrückt, die beiden anderen je eine Schaufel. Abdul hantierte mit der Videokamera, seine Helfer umkreisten die drei mit ihren Pistolen im Anschlag. Nicht ansatzweise sollte auch nur einer der drei Männer auf die Idee kommen, diese Gegenstände als Schlagwaffen einzusetzen. Die verbliebenen Geiseln wurden an die Betonmauer gedrängt.
»Graben! Etwa einen halben mal einen halben Meter und mindestens einen Meter tief!«
Abdul deutete mit seinem rechten Fuß auf eine Stelle ungefähr in der Mitte des Geheges, wo das Loch entstehen sollte. Wortlos machten sich die drei an die schweißtreibende Arbeit. Der Untergrund war hart und ließ sich mit dem Spaten nur schwer lockern. Clive, der kräftigste von den Dreien, übernahm den Spaten von Ron, obwohl sie damit rechnen mussten, für diesen ungefragten Werkzeugtausch die nächste Züchtigung zu erfahren. Aber diese blieb aus. Welchen Zweck sollte dieses Loch erfüllen? Ein Grab war dies jedenfalls nicht, dafür war es zu klein.
***
Keine halbe Stunde nach ihrer Ankunft war die mobile Einsatzzentrale des FBI über Satellit mit allen Datenbanken sämtlicher Bundesbehörden verbunden. Endlich konnte Georgina die dringend benötigten Informationen abrufen und las diese den Umstehenden laut vor. »Daniel Slatkin. Geboren 1980, aufgewachsen bei Stiefeltern. Hat in Berkeley Medizin studiert und ist vor drei Jahren zum Islam konvertiert. Seitdem nennt er sich 'Abdul Sahir'. Vorstrafen wegen Verstößen gegen das Waffengesetz. Auslandsreisen nach Pakistan, Syrien, Frankreich und Deutschland. Steht seit vier Monaten auf der No-Fly-Liste.«
»Dann wird er von unseren Leuten bei der Homeland Security überwacht«, schlussfolgerte Austin Harvey, während er auf dem Bildschirm das Portrait des vollbärtigen Sahir mit Abscheu betrachtete.
»Offensichtlich nicht gründlich genug«, ergänzte Morris.
»Machen Sie Ihre Arbeit – wir machen unsere«, keifte Harvey zurück.
»Meine Herren, das bringt jetzt nichts«, versuchte FBI-Director Anthony Crain die Wogen zu glätten und jeden aufkommenden Konflikt im Keim zu ersticken.
»Sind Sie sicher, dass er es ist?«, wollte Barbara Watts wissen.
»Gesichtserkennung und Stimmenabgleich positiv«, bestätigte Georgina May.
»Und wer sind die anderen?«
»Das ist schwieriger«, begann Georgina, »auf dem Video spricht immer der Anführer. Von den anderen Terroristen haben wir nur die Aufnahmen der Überwachungskameras. Diese eignen sich nicht für eine Gesichtserkennung. Daniel Slatkin hatte vier Tickets für die erste Führung am Morgen gekauft und bar bezahlt. Wir können daher nicht auf Kreditkarten-Daten zurückgreifen.«
»Dann sind es also vier Terroristen.« Jetzt hatte Morris Gewissheit. Das deckte sich mit den Aufnahmen der Kameras.
»Einer von ihnen könnte Lamin Jammeh sein«, fuhr Georgina fort, »darauf deuten die Kontaktdaten des Mobilfunkanbieters hin. Slatkin hat gar nicht versucht, diese Kontakte zu verschlüsseln. Jammeh stammt aus einer pakistanischen Kleinstadt an der Grenze zu Afghanistan. Eigentlich dürfte er gar nicht hier im Land sein. Er hält sich illegal auf.«
»Dummes, unterbelichtetes Fußvolk«, kommentierte Morris diese Erkenntnis verächtlich.
»Das macht ihn umso gefährlicher und unberechenbarer«, ergänzte Barbara Watts. »So einer bindet sich ohne lange nachzudenken einen Sprengstoffgürtel um.«
»Gerade wurde ein neues Video hochgeladen«, unterbrach Georgina.
Sie ließ über ein Suchprogramm das Internet im Minutentakt nach neuen Dateien durchsuchen. Nun spielte sie den kurzen Film auf dem Hauptmonitor der Einsatzzentrale ab, sodass alle ihn sehen konnten.
Die Geiseln trugen immer noch ihre orangene Häftlingskleidung. Sie waren angekettet und standen vor einer Betonmauer. Der Schattenwurf deutete daraufhin, dass diese Szene im Freien aufgenommen worden war.
»Wo ist das?«, fragte Ethan Crawford.
»Schwer zu sagen«, gab Georgina zu, »die Wände des Hearst Castles sind aus Beton. Das war damals die neueste Bautechnik. Die altertümlichen Verzierungen wurden nur aufgesetzt. Das kann überall auf dem Gelände sein.«
»Wann sind denn endlich die Spionage-Satelliten in Position?«, fragte Austin Harvey ungeduldig.
Die ohnehin schon angespannte Situation wurde zunehmend unerträglich. Keine zwei Meilen von ihnen entfernt waren unbescholtene, unschuldige amerikanische Staatsbürger im eigenen Land vier unberechenbaren Islamisten hilflos ausgeliefert. Immer mehr Einsatzkräfte waren in der Region zusammen gezogen worden. Aber die Lage des Tatortes auf dem Hügel erlaubte keine genaue Beobachtung. Es würde noch Stunden dauern, militärische Spionagesatelliten mit hochauflösender Optik im Weltall so in Position zu bringen und auszurichten, dass jede Bewegung auf dem Gelände überwacht werden konnte – auch nachts mit Hilfe von Wärmebildern. In diesen Tagen waren alle verfügbaren Satelliten über Krisengebieten im Einsatz. Südkalifornien gehörte definitiv nicht dazu – jedenfalls bis jetzt nicht.
Nun schwenkte die Kamera weg von den angeketteten Geiseln zu einer frisch ausgehobenen Grube. In dem quadratischen Erdloch stand oder kauerte eine der Geiseln. Die Kamera zoomte heran. Es war eine der Frauen, ihr Gesicht starr vor Angst und totenbleich.
»Das ist Annie Patterson«, erklärte eine Stimme im Hintergrund. »Sollten unsere Forderungen nicht erfüllt werden, wird diese Frau im Morgengrauen gesteinigt.«
Anschließend beugten sich zwei Männer über die Frau und zogen sie aus dem Loch. Damit endete die Videodatei.
»Widerlich!«, entfuhr es Crain.
»Tja, so ist das bei den Ziegenfickern«, bemerkte Morris in seiner taktlosen Art, »Männer werden geköpft, Frauen werden gesteinigt.«
»Das schlimmste ist«, ergänzte Barbara Watts, »dass wir die Angehörigen gar nicht erst verständigen brauchen. Der Film ist bereits im Internet für jeden verfügbar.«
Austin Harveys Mobiltelefon klingelte. Er blickte auf das Display und eilte ins Freie.
»Wird bestimmt der Präsident sein«, mutmaßte Crain.
Der siebte Mai 2015 war dabei, neben dem elften September 2001 als ein trauriger Tag in die Geschichte der Vereinigten Staaten einzugehen.
***
Am siebten Mai 1915 lichtete sich der Nebel erst gegen Mittag. Erst jetzt wurden die Umrisse der irischen Küste erkennbar. Sechs Tage war die Lusitania seit ihrem Auslaufen aus dem Hafen von New York unterwegs – länger als üblich, da, um Kohle zu sparen, nur drei der vier Kesselräume befeuert wurden. Unter den Passagieren hatte sich Unruhe breit gemacht. Langsame Schiffe waren für deutsche U-Boote ein leichtes Ziel. Vergeblich hatte Kapitän Turner versucht, sie zu beruhigen. Ein Angriff auf ein Passagierschiff wäre ein eklatanter Verstoß gegen internationales Seerecht.
Der letzte Abschnitt der Reise bis zum Zielhafen Liverpool war der gefährlichste. Wenn der verheerende Einschlag eines Torpedos zu befürchten war, dann hier, in den Gewässern rund um die Britischen Inseln. Den Passagieren war nicht entgangen, dass Turner beide Krähennester besetzen und die Beobachter stündlich austauschen ließ. Während ihres einstündigen Dienstes waren die Wächter hochkonzentriert und suchten mit Ferngläsern permanent die Meeresoberfläche ab. Sie konnten nur hoffen, ein aufgetauchtes U-Boot rechtzeitig zu erkennen. Dabei waren die ausgefahrenen Periskope kaum auszumachen. Gefährlich wurde es, wenn sich eine geradlinige Spur aus Luftblasen dem Schiffsrumpf näherte. Dann blieben bis zum Einschlag nur wenige Sekunden.
Der britische Kreuzer 'Juno', der der Lusitania auf ihrer Fahrt entlang der irischen Küste Geleitschutz geben sollte, war nach Queenstown beordert worden. Kapitän Turner hatte einen verschlüsselten Funkspruch empfangen, ebenfalls diesen schützenden Hafen aufzusuchen. Davon hatten die Passagiere nichts mitbekommen. Sie konnten auch nicht sehen, dass die Aufschrift 'Lusitania' am Rumpf mit schwarzer Farbe notdürftig überpinselt worden war.
Der neunundzwanzig-jährige Leonard Boyle hatte für die Überfahrt ein Ticket zweiter Klasse von seinem Auftraggeber bekommen. Er reiste alleine in einer Zweibettkabine. Zwei Kabinen weiter reiste eine junge Frau ebenfalls alleine. Sie hieß Carmen und Leonard hatte gleich am ersten gemeinsamen Abendessen im Speisesaal ein Auge auf sie geworfen. In seiner Phantasie hatte er sie nach einem Drink an der Bar in seine Kabine gelockt und dort nach allen Regeln der Kunst verführt. Die Realität sah anders aus: Carmen war auf dem Weg zu ihrem Verlobten in London.
Den weiblichen Angestellten des Schiffes war es strikt untersagt, mit den Passagieren anzubandeln. So verbrachte Leonard die Tage und Nächte allein in seiner Kabine. Schließlich hatte Leonard diese Reise nicht zum Vergnügen angetreten. Er hatte ein kleines versiegeltes Päckchen, das bequem in sein Handgepäck passte und das er unter keinen Umständen öffnen durfte, bei einer ihm genannten Adresse in Liverpool persönlich abzugeben. Dort würde er den Lohn für seinen Kurierdienst bekommen, von dem er die Rückfahrt selbst bezahlen musste. Leonard nahm sich vor, den Rückweg in der dritten Klasse in einer Sechsbettkabine anzutreten. Von dem Geld wollte er nach seiner Rückkehr in die Staaten so viel wie möglich übrig haben. Seit einer Stunde war die Küste Irlands in Sichtweite. Morgen würde die Lusitania im Hafen von Liverpool einlaufen. Die Gefahr durch deutsche U-Boote war Gesprächsthema Nummer eins unter den Passagieren.
»Mr. Boyle?«
Ein energisches Klopfen an der Kabinentür schreckte Leonard aus seinen Gedanken auf.
»Wer ist da?«, fragte Leonard, bevor er die Verriegelung löste.
»Richard, der Steward.«
»Sorry, ich habe Ihre Stimme nicht erkannt«, sagte Leonard, nachdem er die Tür geöffnet hatte, zu dem Bediensteten, der die Passagiere in diesem Trakt des Schiffes während der letzten Woche betreut hatte.
»Sorry, ich bin auch nicht wirklich der Steward«, erwiderte dieser, während er den erstaunten Leonard zur Seite schob, in die Kabine eintrat und ohne Umschweife zur Sache kam. »Wo ist das Päckchen?«
»Welches Päckchen?«
»Boyle, wir haben keine Zeit! Im Moment nur so viel: meine Tätigkeit als Steward diente nur der Tarnung. Meine eigentliche Aufgabe bestand darin, Sie auf der Reise zu bewachen und gegebenenfalls zu beschützen. Also, wo ist das Päckchen?«
»Sie verlassen jetzt sofort meine Kabine!« erwiderte Leonard bestimmt.
»Nein, Boyle! Das werde ich nicht!« Der Eindringling unterstrich seine Worte, indem er die Kabinentür ins Schloss fallen ließ und sich davor aufbaute. »Es ist wichtig, dass der Inhalt des Päckchens Liverpool erreicht. Und im Moment sieht es nicht gut aus. Der Kapitän hat die Order erhalten, Queenstown anzusteuern. Bestimmt haben Sie die Kursänderung bemerkt. Ein deutsches U-Boot hat die Lusitania ins Visier genommen. In einer halben Stunde fliegt hier alles in die Luft.«
»Ein Torpedo kann vielleicht ein Loch in das Schiff sprengen«, entgegnete Leonard rechthaberisch, »aber dabei explodiert nicht gleich das ganze Schiff. Wir haben schließlich Rettungsboote.«
Der vermeintliche Steward lächelte mitleidig. »Die Lusitania untersteht dem Marineministerium und befördert nicht nur Passagiere, sondern auch Waffen, Sprengstoff und Munition. Sie behalten das Päckchen bei sich. Aber ich muss sicherstellen, dass Sie es bei sich tragen, wenn wir in eines der Rettungsboote steigen und zur Küste rudern. Der Wind steht günstig. In einer Stunde können wir es schaffen.«
»Das ist Wahnsinn!«
»Wahnsinn wäre es, einfach hier zu bleiben!« Jetzt zückte Richard eine Pistole. »Es gibt jetzt genau zwei Möglichkeiten. Sie nehmen das Päckchen, kommen mit mir mit und überleben oder ich erschieße sie auf der Stelle und nehme mir das Päckchen.«
Leonard überlegte. Im Grunde genommen hatte er keine andere Wahl. Der Mann war bewaffnet und er wusste von der Ware, die offenbar derart wertvoll war, dass nicht nur er alleine mit dem Transport von Amerika nach England betraut worden war.
»Gut«, sagte er schließlich, »ich packe meine Sachen und komme mit.«
»Dazu ist keine Zeit. Wenn die Lusitania explodiert, müssen wir weit genug weg sein. Ein sinkendes Schiff erzeugt einen gewaltigen Sog. Also nehmen Sie jetzt endlich dieses verdammte Päckchen!«
Leonard öffnete den Schrank und kramte unter dem Stapel mit der Unterwäsche eine kleine Schachtel hervor.
»Öffnen! Schnell!«
Leonard merkte, Widerspruch war zwecklos. Das Siegel zersprang, als er den Deckel anhob. Zum Vorschein kam eine schlanker, an der breitesten Stelle etwa zwei Zentimeter durchmessenden Spitzkolben aus Glas. Die Öffnung war mit einem Stopfen versehen, der ebenfalls versiegelt war. Durch das dicke Glas war ein farbloses Pulver zu erkennen.
Leonard hatte nicht die geringste Ahnung, was er da beförderte. »Jetzt zufrieden?«, wandte er sich an Richard, während er den Glaskolben wieder in die gepolsterte Schachtel legen wollte.
»Nein!«
Leonard hielt inne. Was war jetzt noch? Fragend blickte er zu Richard, der nun eine Tube in der Hand hielt.
»Reiben Sie den Glaskolben damit ein!«
»Was ist das?«
»Tun Sie, was ich Ihnen sage und zwar schnell!«
'Vaseline', las Leonard auf der Tube. »Sie meinen, ich soll mir den Kolben in den ...«
»Alter Schmugglertrick«, grinste Richard. »Zieren Sie sich nicht so. Lassen Sie die Hosen runter. Wenn es sein muss, helfe ich Ihnen dabei.« Jetzt hatte Richard wieder seine Pistole auf Leonard gerichtet.
***
Die Geiseln waren auf den Videos, die die Islamisten ins Netz gestellt hatten, zu sehen und jeder hatte gezwungenermaßen seinen Namen genannt. Damit war der in solchen Fällen übliche Schutz der Privatsphäre der Opfer ausgehebelt. Die Angehörigen der Holfords und der Pattersons waren von der Presse zu Freiwild erklärt worden. Der Fotograf Randy Stephens und sein Model Moira Marnell hatten bereits vor der Geiselnahme einen gewissen Prominentenstatus.
Das Haus der Pattersons in Santa Barbara stand unter Polizeischutz. Dies war dringend notwendig, denn die Sensationsreporter umkreisten das Anwesen wie die Aasgeier. Die Polizei konnte nicht mehr tun, als das Grundstück abzuriegeln. Nachdem die Absperrungen aus allen Perspektiven abgelichtet worden waren, fielen die Schmeißfliegen über die Nachbarschaft her.
Paula Webber arbeitete für die lokale Station von Channel Six. Sie wurde von Kameramann Terry Denton und dem Tontechniker Alec Braiden begleitet. Die meisten Anwohner öffneten nicht.
»Runter von meinem Grundstück!«, hatte ein rüstiger Rentner, der schräg gegenüber von den Pattersons wohnte, gerufen und dabei zwei Warnschüsse in die Luft abgegeben.
»Besorg' es Dir selbst, Du Schlampe!«, kam als Antwort aus dem nächsten Haus.
Aus einem Fenster im oberen Stock des Eckhauses flog ein Blumentopf, der um ein Haar die teure Kamera getroffen hätte. Schmeißfliege Paula war dies gewohnt und ließ sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Ihre langjährige Erfahrung in diesem Job sagte ihr, dass es in jeder Straße mindestens eine Person gab, die unbedingt mal im Fernsehen auftreten wollte. Man musste sie nur finden. Annie Patterson war von den Islamisten als erste Todeskandidatin ausgewählt worden. In ein paar Stunden würde eine Amerikanerin im eigenen Land gesteinigt werden. Das war der Hammer! Das musste von der Sensationspresse ausgeschlachtet werden!
Schließlich klingelte das blonde Miststück bei Laura Hard, einer unscheinbaren, etwas übergewichtigen Mittfünfzigerin, die im Gegensatz zu den übrigen Nachbarn ausgesprochen kooperativ war.
»Die Pattersons sind erst seit einem dreiviertel Jahr verheiratet«, plauderte sie aus dem Nähkästchen. »Aber wenn Sie mich fragen, das hält nicht lange.«
»Wie kommen Sie darauf?«, hakte Paula nach.
»Es wird gemunkelt, dass Dr. Patterson schwul ist«, antwortete Laura ohne Umschweife. »Eine Scheinehe! Sie hat nur sein Geld geheiratet, wenn Sie mich fragen. Und er brauchte als Arzt eine Alibifrau.«
Die Schmeißfliege nickte. Das war ja hochinteressant! Dazu musste sie unbedingt in Pattersons Praxis recherchieren. Gleich schob sie die nächste Frage hinterher: »Was wissen Sie über Linda Patterson, die Tochter?«
»Sie heißt Howard, Linda Howard«, berichtigte Laura Hard, »das arme Ding hat den Namen ihres leiblichen Vaters behalten. Früher war sie so ein hübsches Kind. Gleich nach der Hochzeit ihrer Mutter hatte sie sich die Haare schwarz gefärbt und sich schwarz geschminkt. Furchtbar sah das aus!«
»Gothic-Mode?«, unterbrach Paula Lauras Redefluss.
»Ja, so nennt man das wohl. Dazu ein Nasenring! Also wenn das meine Tochter wäre…. Vor etwa zwei Monaten hat sie ihre Haare ganz kurz geschnitten. Sah auch nicht besser aus, wenn Sie mich fragen.«
»Auf den Videos der Geiselnehmer ist Linda nicht zu sehen«, unterbrach Paula. »Denken Sie, dass Linda ihre Mutter und ihren Stiefvater zum Hearst Castle begleitet hat?«
»Ich denke schon«, mutmaßte Laura, »ihre Mutter hat sie eigentlich nie allein gelassen. Sie ist ja erst fünfzehn oder sechzehn.«
»Vierzehn«, berichtigte Paula. »Hat sie einen Freund?«
»Bestimmt hat sie das! Als sie noch ihre Haare schwarz gefärbt hatte, habe ich sie nachts einmal erwischt, als ich mit Vernon – das ist mein Hund – Gassi gegangen bin. Hinter dem Regenschutz der Bushaltestelle hat sie mit einem Typen geknutscht.«
»Kannten Sie den?«
»Nein. Der war nicht von hier.«
»Annie Patterson wurde von den Geiselnehmern als erste Todeskandidatin ausgewählt. Morgen früh soll sie gesteinigt werden. Warum gerade sie?«
»Woher soll ich das wissen?«, antwortete Laura sichtlich gereizt und zunehmend kurzatmig. »Annie hat sich noch nie mit ihrer Meinung zurückgehalten. Vielleicht hat sie die Geiselnehmer provoziert.«
»Wissen Sie zufällig, wo Annie Pattersons Eltern leben? Hat sie Geschwister?«
»Ich weiß nur, dass ihre Mutter in Maine lebt.«
Jetzt war Paula enttäuscht. Der Name Patterson war zu häufig, um die Verwandtschaft aufzuspüren. Eine am Boden zerstörte Mutter, die vor der Kamera zu den Geiselnehmern spricht und um das Leben ihrer Tochter fleht – das wäre der Aufmacher für eine Reportage! Aber ausgerechnet Maine! Das lag zu weit weg. Diesen Plan musste sie verwerfen – leider!
»Möchten Sie den Pattersons auf diesem Wege noch etwas sagen?«
»Gott sei mit ihnen«, antwortete Laura nach kurzem Zögern. Sie hatte einen Kloß im Hals.
Terry Denton zoomte auf die Tränen, die über Lauras Wangen liefen. Die Schmeißfliege ließ ihn kurz gewähren, bevor sie das Zeichen zum Aufbruch gab. Die Scheinehe mit dem schwulen Arzt, die aus der Bahn geworfene Tochter – dazu brauchte sie unbedingt noch mehr Material, das rechtzeitig bis morgen vor der Steinigung geschnitten und in Szene gesetzt werden musste. Die Hinrichtung würde sicher im Internet zu sehen sein. Bei dem Gedanken wurde das Mistvieh ganz kribbelig.
***
Endlich erschienen die ersten Satellitenbilder auf den Monitoren in der mobilen Einsatzzentrale des FBI auf. Georgina war fasziniert. Der weltweite Zugriff auf große Datenbanken und Überwachungskameras war ihr Tagesgeschäft, aber das hier war auch für sie eine Premiere. Der Arm des FBI reichte ja schon weit, aber der Einfluss der Homeland Security erstreckte sich bis ins Weltall. Für Austin Harvey hatte ein einziges Telefonat ins Pentagon ausgereicht, um Kurskorrekturen von drei Spionagesatelliten vornehmen zu lassen. Der erste war bereits in Position.
»Wenn die anderen beiden Satelliten ebenfalls ausgerichtet sind, sehen wir alles in 3D«, versprach Harvey.
Aber das, was allein der eine Satellit in Echtzeit übertrug, war schon aufschlussreich genug. Schemenhaft waren die Grundrisse der Gebäude auf dem Schlossgelände zu erkennen. Die weißen Punkte auf dem Bildschirm waren Personen.
»So wie es aussieht, sind die Geiseln in einem der Gästehäuser untergebracht«, versuchte Ethan Crawford eine erste Interpretation. »Die Terroristen halten sich im anderen Gästehaus auf. Eine ideale Gelegenheit für einen Luftschlag.«
»Ethan«, widersprach Georgina, »sehen Sie den Punkt hier?« Dabei deutete sie auf einen hellen Punkt im Schloss. »Hier ist einer der beiden Türme. Ich bin mir sicher, einer der Terroristen hat sich im Turm eingenistet. Wahrscheinlich hat er den Hubschrauber abgeschossen.«
»Und der würde bei einem Luftschlag auf das eine Gästehaus die Geiseln in dem anderen Haus töten«, meinte Morris.
»Von Geiselnahmen im Nahen Osten wissen wir, dass Islamisten ihre Geiseln nach Geschlechtern trennen«, erklärte Barbara Watts. »Dann wären diese vier Punkte hier drei weibliche Geiseln sowie einer der Bewacher. Im anderen Haus sind die Männer untergebracht.«
»Es sind aber vier weibliche Geiseln, Annie Patterson, ihre Tochter, Lynn Holford und Moira Marnell«, berichtigte Ethan Crawford.
»Die Tochter der Pattersons und der Sohn der Holfords waren nicht auf den Videos. Ich hoffe, die Kinder sind noch am Leben.« Georgina war ernsthaft besorgt.
»Bevor wir nicht mehr wissen, brauchen wir einen Luftangriff gar nicht in Erwägung zu ziehen«, stellte Director Crain fest. »Harvey, gehe ich recht in der Annahme, dass Sie vorhin mit dem Präsidenten telefoniert haben?«
Der Angesprochene schien die Frage überhört zu haben.
»Dann gehe ich sicher auch richtig in der Annahme, dass der Präsident Sie daran erinnert hat, dass die amerikanische Regierung grundsätzlich nicht mit Terroristen verhandelt«, fuhr Crain fort.
»Daran brauchte mich der Präsident nicht erinnern! Das primäre Ziel ist es, diese Bastarde unschädlich zu machen«, brüllte Harvey unvermittelt, »tot oder lebendig!«
»Und die Geiseln?«, fragte Crain. »Sind die überhaupt nichts wert?«
»Die Geiseln sind schon so gut wie tot«, entgegnete Harvey betont nüchtern und sachlich.
Damit hatte der Agent der Homeland Security lediglich das ausgesprochen, was jeder der Anwesenden in der Einsatzzentrale bereits befürchtete.
***
Leonard und Richard mussten sich beeilen. Es war kurz nach zwei Uhr und die meisten Passagiere hatten sich zur Mittagsruhe hingelegt, einige nahmen in den Speisesälen noch ihre Mittagsmahlzeit ein. Nur wenige Personen hielten sich auf dem Deck auf. Leonard erblickte Carmen, die junge Frau, die in den letzten einsamen Nächten, die er in der engen Kabine zugebracht hatte, seine Fantasien so einzigartig versüßt hatte. Sie flanierte in Gedanken versunken auf der anderen Seite des Decks und schien ihn nicht zu bemerken.
»Dieses hier!« Richard deutete auf eines der Rettungsboote auf der Backbordseite im hinteren Teil des Schiffes. »Los rein!«
Leonard, der Richards Pistole zwischen seinen Rippen spürte, gehorchte widerstandslos, kletterte über die Reling und bestieg das Boot.
»He, das dürfen Sie nicht!«, rief ein Matrose. Wo kam der jetzt her?
Richard winkte den Mann zu sich heran. »Keine Aufregung, das ist eine Übung und mit dem Kapitän abgesprochen.«
»Davon weiß ich nichts«, antwortete der Matrose, während er im Laufschritt auf die Männer zueilte.
Leonard sah darin seine Chance. Zwei Personen würde dieser Richard nicht gleichzeitig in Schach halten können. Ferner müsste jemand das Boot zu Wasser lassen.
»Helfen Sie mir! Dieser Mann ist kein Steward! Er bedroht mich!«, wollte er sagen, aber dazu kam er nicht mehr.
In diesem Moment bebte das Schiff. Holz splitterte, Metall kreischte und die Wucht einer gewaltigen Explosion ließ die Lusitania zur Seite kippen. Nur mühsam konnten sich die Männer auf den Beinen halten. Langsam balancierte sich die schwerfällige Lusitania wieder aus und lag im Wasser, als ob nichts geschehen wäre.
»Ein Torpedo!«, schrie der erste Passagier, der das offene Deck erreichte. Ihm folgten Dutzende von weiteren Passagieren, die sich in Panik durch die engen Luken drängten.
»Mein Kind! Ich gehe nicht ohne mein Kind!«, schrie eine Frau.
Richard beeilte sich, zu Leonard in das Boot zu klettern. Die ersten Passagiere hatten die Reling erreicht und taten es ihm nach.
»Frauen und Kinder zuerst!«, rief der Matrose – vergeblich. Jeder dachte nur noch an sich.
Jetzt bekam die Lusitania erneut Schlagseite. Damit waren die Rettungsboote auf der Steuerbootseite unbrauchbar, da sie nicht mehr zu Wasser gelassen werden konnten. Das Boot mit Leonard und Richard war voll besetzt und wurde von dem Matrosen und zwei weiteren Helfern zu Wasser gelassen. Es verfügte über vier Ruder, die von Leonard, Richard und zwei weiteren Männern bedient wurden. Richard konnte seine Pistole stecken lassen. Von einem ureigenen Überlebensinstinkt getrieben steuerten alle Beteiligten das Boot in Richtung Küste. Die See war ruhig. Es war kurz nach Mittag, aber mit dem vollbesetzten Boot würden sie zwei bis drei Stunden benötigen, um das rettende Ufer zu erreichen.
Jetzt erschütterte eine zweite Explosion die Lusitania. Ein zweiter Torpedo? Die Leute im Boot drehten sich um. Jetzt drehte sich die Lusitania in Richtung Steuerbord. Das Chaos brach los. Die noch in ihren Halterungen hängenden Rettungsboote schlitterten über den Rumpf, überschlugen sich und zerquetschten einige der Insassen. Die vordere Aufhängung eines der Boote löste sich. Die bereits darin sitzenden Menschen fielen aus großer Höhe in das kalte Wasser. Als sich kurz danach auch die hintere Halterung löste, wurden sie von dem Bootsrumpf erschlagen.
»Rudern! Rudern!«, schrie Richard, »Das Schiff wird uns in die Tiefe reißen!«
Wie besessen legten sich die Männer an den Rudern ins Zeug und versuchten verzweifelt, das Boot aus der Gefahrenzone zu bringen. Hinter ihnen ächzte die majestätische Lusitania, während sie sich wie zum Sterben auf die Seite legte. Die vier Männer an den Rudern brachten das Boot kaum vorwärts, zu kräftig waren die Wirbel, die sich um den sinkenden Schiffskörper formierten. Menschen, die versuchten, sich an Treibgut festzuhalten oder eines der Boote schwimmend zu erreichen, wurden von der salzigen Gischt verschluckt. Jetzt verdunkelte eine dicke schwarze Rauchwolke die Sonne und legte sich wie ein Leichentuch über die Szenerie.
Eine knappe halbe Stunde nach dem ersten Einschlag versanken die letzten Aufbauten des luxuriösen Passagierdampfers in den Fluten. Über tausend Passagiere und Besatzungsmitglieder hatten sich an Bord befunden. Die meisten befanden sich noch unter Deck. Nur den wenigsten war es gelungen, ein Rettungsboot zu besteigen oder in den kalten Atlantik zu springen. Die Unterkühlung würde weitere Opfer fordern.
Leonard musste an Carmen denken. Das letzte Bild von ihr, dass sich in sein Gedächtnis eingebrannt hatte, zeigte diese wunderschöne Frau auf der anderen Seite des Deckes. Dort war er erste Torpedo eingeschlagen.
***
Der kleine Schuppen neben dem Haus war für den siebenjährigen Daniel Tabu. Sein Vater verschwand oft für Stunden in dem Holzverschlag. Das machte ihm Angst. Seit einem Monat hatte er eine kleine Schwester.
»Pass auf die Kleine auf, Daniel! Ich bin müde.«
Immer wenn seine Mutter das übelriechende und scharf schmeckende gelbbraune Zeug getrunken hatte, das in Flaschen abgefüllt überall im Haus rumstand, veränderte sich zuerst ihre Stimme, ihr Gang wurde schwerfällig und schließlich legte sie sich hin und schlief ein. Meist schaffte sie es nicht bis ins Schlafzimmer im Obergeschoss des abgelegenen Farmhauses. Wie tot lag sie dann stundenlang auf dem Sofa.
Daniel schob den Kinderwagen auf die Veranda. Seine Schwester schlief. So konnte er auf dem Hof herum toben und gleichzeitig auf sie aufpassen. Aber die Freude währte nicht lange. Nach zehn Minuten vernahm er ein leises Quäken aus dem Wagen. Er rüttelte an der Griffleiste und drückte ihr den Schnuller in den Mund. So machte es seine Mutter auch immer. Augenblicklich war die Kleine ruhig. Ihre zahnlosen Kiefer bearbeiteten den weichen Gummi, aber nach wenigen Minuten schrie sie wie am Spieß.
Die Mutter stillte nicht. Oft genug hatte Daniel zugesehen, wie sie in einer Saugflasche weißes Pulver mit heißem Wasser aus dem Boiler mischte und kräftig schüttelte. Das konnte er auch. Als er die Nuckelflasche seiner Schwester hinhielt, tat sie einen kurzen, kräftigen Schluck, warf dann aber ihren Kopf zur Seite und schrie noch lauter als zuvor. War die Milch zu heiß? Könnte sein! Auch Daniel konnte die Flasche kaum halten, so heiß war das Glas. Er rannte zurück ins Haus, holte einen Eiswürfel aus dem Gefrierfach und schraubte den Deckel der Flasche ab. Fasziniert betrachtete er den rapide schmelzenden Eiswürfel, während seine Schwester auf der Veranda nach Leibeskräften schrie. Dann fiel sein Blick auf eine Flasche mit dem Gesöff, das seine Mutter immer so müde machte. Er entfernte den Korken und ließ etwas von der goldbraunen Flüssigkeit in die Milch rinnen, bis die Flasche randvoll war.
Wortlos betrat Daniel Slatkin alias Abdul Sahir den Raum, in dem die drei Frauen festgehalten wurden. Mit einer einfachen Handbewegung forderte er seinen Komplizen auf, das Zimmer zu verlassen und die Tür hinter sich zu schließen.
Moira kauerte in einer Ecke, Annie lag in sich zusammen gesunken neben dem Bett und Lynn hatte sich unter der Bettdecke verkrochen. Außer dem Wimmern der Frauen hatte sich eine bedrückende Stille ausgebreitet.
Schließlich war es wieder Annie, die es nicht mehr aushielt: »Wo ist Linda? Ich will sofort meine Tochter sehen?«
Abdul versetzte ihr einen Tritt gegen die Hüfte und zerrte sie in eine aufrechte Position. Dabei zerriss er ihr Hemd. All das machte Annie nur noch wütender.
»Die da!«, schrie sie hysterisch und zeigte auf Moira. »Die da hat den Tod verdient! Überprüfen Sie die Fotos auf der Kamera des Fotografen!«
Entsetzt blickte Moira auf.
»Und dann fragen Sie Lynns Ehemann. Dieses Flittchen ist schuld daran, dass er seinen Job als Lehrer verloren hat.«
Jetzt richtete sich auch Lynn auf. In dieser Extremsituation dachten sie alle nur an sich. Das war nur natürlich. Annie war da keine Ausnahme. Sie nahm den Tod einer anderen Geisel in Kauf, um der eigenen Hinrichtung zu entgehen. Abschätzend und verächtlich schaute Abdul sie an. Seine kalten Augen starrten sie an, bis er ohne Vorwarnung zu einem Schlag ausholte. Mit voller Wucht traf seine flache Hand Annies Gesicht. Annie schleuderte zu Boden.
»Komm her!«, schrie Abdul nun an Moira gewandt.
Wie in Trance erhob sich das Mädchen, blieb jedoch stehen.
»Los! Hierher!«
Langsam und unsicher setzte Moira einen Fuß vor den anderen. Ohne eine Miene zu verziehen blieb Abdul stehen, bis sie direkt vor ihm stand. Mit beiden Händen packte er den Kragen ihres Hemdes, riss es entzwei und spuckte auf ihre nackten Brüste. Danach drehte er sich um, verließ den Raum und knallte die Tür hinter sich zu.
»Verdammt, was haben Sie getan?«, schrie Moira hysterisch.
Annie schwieg, vermied den Blickkontakt und starrte durch das vergitterte Fenster.
Lynn verkroch sich wieder unter der Decke. Sie hatte sich ruhig verhalten und war von diesem Unmenschen weder beleidigt, noch geschlagen und auch nicht angespuckt worden. Würde sie am längsten von allen am Leben bleiben?
***
Multitasking! Georgina erledigte mehrere Aufgaben gleichzeitig. Mit der Identifizierung der drei Geiselnehmer, die Daniel Slatkin unterstützten, kam sie nicht recht weiter. Sie weigerte sich, den islamistischen Namen zu akzeptieren, den sich der Irre selbst verpasst hatte. Ferner war unter seinem richtigen Namen mehr gespeichert als unter 'Abdul Sahir'. Slatkin hatte eine jüngere Schwester namens Rhonda Finley. Die Kinder waren getrennt aufgewachsen. Daniel Slatkin hatte an der Universität in Berkeley einen Doktorgrad erworben. Mit dem Titel seiner Arbeit konnte Georgina wenig anfangen: 'Mechanismen der Resistenzbildung gegen Antibiotika am Beispiel von At6333'. Ein Thema aus dem Bereich der Mikrobiologie! Und was genau war 'At6333'? Georgina musste Präferenzen setzen. Sie beauftragte ihre Kollegen in der FBI-Zentrale in San Francisco mit einer genaueren Recherche.
Die Identitäten der Geiseln waren geklärt. Dafür hatten die Terroristen durch ihr Video bereits gesorgt. Dennoch hielt Georgina es für angebracht, hier genauer nachzuforschen. Was waren das für Menschen? Wer war durch seine Vorgeschichte besonders gefährdet? Waren sie wirklich nur Zufallsopfer – zur falschen Zeit am falschen Ort?
Neben den beiden Familien Patterson und Holford waren es in erster Linie Clive Osbourne, Randy Stephens und Moira Anajevska. Moira hatte es unter dem Pseudonym Moira Marnell zu einer gewissen Berühmtheit gebracht. Angefangen hatte sie als Darstellerin in billigen Pornofilmchen, später hatte sie hier und da eine Nebenrolle in einer TV-Produktion ergattert. Zusammen mit dem Fotografen Randy Stephens hatte sie den Bus im letzten Moment vor der Abfahrt bestiegen. Was machten ein Fotograf und sein Model auf einer Besichtigungstour im Hearst Castle?
»He, ich dachte Du arbeitest?«, flachste Morris, als er Georgina über die Schulter schaute und auf ihrem Monitor das Foto einer halbnackten Schönheit mit langen schwarzen Haaren erblickte.
»Wonach sieht es denn aus?«, antwortete Georgina schnippisch. »Moira Anajevska alias Moira Marnell.«
»Die Chloe aus 'You Are How You Love'?«
»Ach, so was schaust Du im TV?«
»Klar doch! Meine Tochter verpasst keine Episode. Ich bin verurteilt, das ebenfalls zu schauen oder mich gleich ins Bett zu legen. Ist sie eine der Geiseln?«
»Ja.« Jetzt kehrte Georgina zum routiniert-sachlichen Ton zurück. »Ihr Vater stammt aus Russland, ihre Mutter ist Griechin. Ich hoffe, dass die Geiselnehmer nicht anfangen, die Namen ihrer Opfer zu googeln. Eine Frau, die sich so präsentiert, ist bei denen nichts wert.«
»Da kannst Du recht haben«, pflichtete Stephen ihr bei. »Was ist mit den anderen?«
»Clive Osbourne.« Mit einem Mausklick ließ die Datenanalystin das Bild eines uniformierten Marine erscheinen. Daneben erschienen Textauszüge aus der Personalakte. »Hochdekorierter Marine außer Dienst. Drei Einsätze im Mittleren Osten.«
»Ebenfalls ein Todeskandidat!«
»Du sagst es …«
»Hast Du schon irgendeine Idee, wie es die Bastarde geschafft haben, Waffen und Ausrüstung auf das Schloss zu bringen?«
»Wie abgesprochen habe ich mit Gina Hines angefangen«, sprudelte es aus Georgina heraus. »Sie arbeitet seit etwa drei Jahren hier. Sie ist geschieden. Und jetzt kommt's: Ihr Ex heißt Muhamed Al Khadi.«
»Der Name sagt alles!«, triumphierte Morris, »ich wusste es!«
»Haben Sie was?«, mischte sich Harvey ein, als er Morris' Ausruf mitbekommen hatte.
»Ich brauche ihre Handy-Verbindungen, Bewegungsprofile und Geldtransfers des letzten Jahres«, befahl er hochmotiviert, nachdem Georgina ihm ihre Erkenntnisse mitgeteilt hatte. »In zehn Minuten will ich die Frau im Vernehmungszimmer haben!«
***
Mit elf Jahren wusste Daniel, was sein Vater in dem Schuppen machte. Er machte das, was seine Urgroßväter und Großväter schon am besten konnten – Schwarzbrennerei. Zu Zeiten der Prohibition war dies ein einträgliches Geschäft gewesen. Jetzt brachte es die Familie mehr schlecht als recht über die Runden, war aber angesichts der Minimalerträge, die die kleine Landwirtschaft noch abwarf, unverzichtbar.
Daniel saß neben seinem Vater im Führerhaus des alten Kleinlasters. Auf den Straßen seiner Heimatgemeinde blieb sein Vater unbehelligt. Jeder wusste über seine Schwarzbrennerei Bescheid und der Sheriff bekam hin und wieder eine Flasche zum Sonderpreis.
Heute war sein Vater nervös. Zum ersten Mal hatte er seinen Aktionsradius ausgeweitet und die Grenze des Countys überschritten. Daniel dachte, dass nur die vereisten Straßen seinen Vater daran hinderten, so rasant wie üblich zu fahren. Hinter einer Kurve musste er dennoch scharf abbremsen. Zwei Streifenwagen standen quer auf der Fahrbahn.
»Aussteigen!«
»Ich habe ein Kind im Wagen!«
»Hände hinter den Kopf und aussteigen!«
Wie gelähmt blieb Daniel sitzen, während sein Vater die Tür aufstieß und aus dem Wagen sprang. Jetzt, wo die Scheibenwischer nicht mehr liefen, bauten die an der Windschutzscheibe festfrierenden Schneeflocken vor Daniel eine weiße Wand auf.
»Wer sitzt noch im Wagen?« Auch für die Außenstehenden war die Gestalt auf dem Beifahrersitz nur noch schemenhaft erkennbar.
»Mein Sohn! Er ist erst elf Jahre …«
Der Rest des Satzes wurde von einem Knall übertönt. In Daniels Gedächtnis brannte sich der Anblick ein, wie das Blut seines Vaters, das gegen das Seitenfenster spritzte, sich innerhalb weniger Sekunden mit dem Schnee zu einer rosafarbenen Masse vermischte.
Der Polizist, der auf Daniels Vater geschossen hatte, sagte aus, er habe sich von der zweiten Person im Führerhaus des Lastwagens bedroht gefühlt. Später änderte er seine Aussage und behauptete, er habe in der Hand von Daniels Vater eindeutig eine Waffe erkannt. Vor Gericht überzeugte sein Verteidiger die Jury, dass sich der Schuss auf Grund der Eiseskälte aus Versehen gelöst hätte.
Für Daniels weiteres Leben war dies alles nebensächlich. Entscheidend war vielmehr, dass der alkoholkranken Mutter das Sorgerecht über beide Kinder entzogen wurde. Die Geschwister wurden getrennt und Daniel wurde nach kurzem Heimaufenthalt von den Slatkins adoptiert.
Bei den männlichen Geiseln tauchten die Terroristen immer zu dritt auf. Wenn Widerstand zu erwarten war, dann von den Männern, die ihnen zumindest zahlenmäßig überlegen waren. Diesmal rückten Abduls Gefolgsleute mit Schnellfeuergewehren an. Mit bedrohlichen Gesten und lauten Schreien trieben sie die Gefangenen in eine Ecke des Raumes. Erst danach betrat ihr Anführer die Szene. Schweigend blickte er in die Runde.
Diesmal war es Henry Holford, der als Erster aufmuckte: »Wo ist mein Sohn?«
Abdul schritt langsam auf ihn zu, baute sich vor ihm auf und sagte: »Du wirst ihn morgen wiedersehen, aber Du wirst Dich nicht freuen über das, was Du sehen wirst.«
Henry hatte keine Zeit, darüber nachzudenken oder etwas zu entgegnen, denn ihm blieb die Luft weg, als Abduls Faust seinen Magen traf. Reflexartig kippte er nach vorne. Abdul hob sein Knie, sodass es gegen den Unterkiefer des besorgten Vaters krachte. Zwei weitere Fußtritte folgten.
Während Henry sich schmerzverzerrt und röchelnd auf dem Boden krümmte, versuchten die anderen, Abduls Ausspruch zu interpretieren. Vor allem Ron Patterson, dessen Stieftochter ebenfalls von den Geiseln getrennt worden war, war äußerst beunruhigt. Was hatten diese Unmenschen den Kindern angetan? Warum würde Henry sich nicht freuen, wenn er seinen Sohn wieder zu Gesicht bekam?
Als ob Abdul Rons Gedankengänge erraten hätte, ging er nun auf ihn zu, packte ihn an seinem Hemd und zog ihn aus der Gruppe zu sich heran.
»Du fragst nicht nach Deiner Tochter?«
Ron schwieg und überlegte, was er nun sagen sollte. Er zitterte und spürte, wie er sich vor Angst einnässte.
»Du scheinst schlauer zu sein als Dein dummes Weib«, fuhr Abdul fort und ließ ihn los. Erst jetzt bemerkte er die Pfütze zwischen Rons Füßen. Er grinste, einer seiner Gehilfen fing an zu lachen.
»Zieh Dein Hemd aus und wisch das auf, Du Hund!«, schrie Abdul.
Ron beeilte sich, dem Befehl nachzukommen.
»Zieh das wieder an! Oder meinst Du, Du bekommst neue Kleidung?« Demonstrativ hielt Abdul sich die Nase zu.
»Wie sieht es hier eigentlich aus?«, fragte er nun. Erst jetzt schien er bemerkt zu haben, dass einige Bücher aus den Schränken heraus geräumt worden waren. Einige Stapel lagen auf der Couch, andere türmten sich auf dem Boden neben dem Tisch.
»Ich war das«, stotterte Martin Frazer nach kurzem Zögern.
Sekunden später hatte Abdul auch ihn am Kragen. »Warum baust Du Türme aus Büchern? Du dummes Schwein!«
Martin hatte keine Zeit zu antworten. Abdul schleifte ihn über den Boden zur Tür. Seine beiden Komplizen sicherten den Rückzug mit ihren Gewehren im Anschlag. Hinter ihnen knallte die Tür in Schloss. Die zurückgebliebenen Geiseln hörten Martins Schreie.
»Wir werden heute Nacht die Flucht wagen«, sagte Clive Osbourne leise aber bestimmt, »ich sterbe lieber mit einer Kugel im Rücken.«
Niemand widersprach. Ron Patterson hatte die mit seinem eigenen Urin vollgesogene Kleidung wieder angezogen. »Vorher bringe ich mich um«, murmelte er.
***
Die Schmeißfliege hatte sich vorgenommen, das Familienleben der Pattersons bis in den letzten Winkel zu durchleuchten. Die Regierung würde das Ultimatum der Terroristen verstreichen lassen. Annie Patterson würde gesteinigt und die anderen Familienmitglieder waren auch schon so gut wie tot. In solchen Fällen war Neugier die kleine Schwester von Entsetzen und Betroffenheit. Wer so spektakulär aus dem Leben schied, über den wollten die Leute alles wissen. So war das nun mal. Sie, die Starreporterin Paula Webber, würde die Neugier der Öffentlichkeit mit Informationen aus erster Hand befriedigen. Und das Material dafür brauchte sie jetzt und nicht erst dann, wenn die Patterson-Familie ausgelöscht worden war.
Linda Howards Facebook-Profil war öffentlich. Das vereinfachte die Schnüffelei der Schmeißfliege ungemein. Angeline Herbert hieß Lindas beste Freundin. So jedenfalls hatte Linda sie in mehreren Posts in ihrer Chronik bezeichnet. Angeline wohnte nur zwei Seitenstraßen von den Pattersons entfernt.
»Lassen Sie bitte meine Tochter in Ruhe«, hatte Angelines Mutter versucht, das aufdringliche Miststück mitsamt Kameramann und Tontechniker zu verscheuchen. Hätte sie statt 'bitte' das Wort 'gefälligst' verwendet oder mit Gegenständen geschmissen, hätte das vielleicht Erfolg gehabt. Aber das Wort 'bitte' klang so hilflos wie ein Stück Aas in der Sonne. Die Schmeißfliege nahm die Witterung auf.
»Sollte das Ihre Tochter nicht selbst entscheiden dürfen? Linda Howard und ihre Eltern sind in Lebensgefahr. Vielleicht kann Angeline helfen. Sie möchten doch nicht, dass sich ihre Tochter ein Leben lang Vorwürfe macht, am Tod ihrer besten Freundin Schuld zu sein!«
Terry Denton richtete seine Kamera auf eine Frau, die heute Morgen beim Aufstehen nicht im Ansatz daran gedacht hätte, in diese Situation zu geraten. Waren sie womöglich schon live auf Sendung? Wieso konnte ihre Tochter helfen? Ms. Herbert hatte keine Zeit, über die schräge Argumentation dieser Reporterin nachzudenken.
»Mom, wer ist da?«, fragte Angeline hinter ihr.
Zwei Minuten später hatte sich das verlogene Geschmeiß im Wohnzimmer im Hause Herbert breit gemacht. Im Hintergrund lief der Fernseher, wo mittlerweile auf allen Kanälen über die Geiselnahme im Hearst Castle berichtet wurde.
»Das ist ja furchtbar!« Ms. Herbert konnte sich nicht beruhigen. »Angeline und Linda unternehmen viel gemeinsam, wissen Sie. Nicht auszudenken, wenn meine Tochter mit den Pattersons auf den Ausflug gegangen wäre!«
»Mom, Linda wollte nicht, dass ich mitgehe«, unterbrach Angeline den Redefluss ihrer Mutter.
»Hat sie das begründet?«, fragte Paula neugierig.
»Nein«, antwortete Angeline schmallippig.
»Wann hast Du Linda das letzte Mal gesehen?«
Angeline schwieg, verschränkte ihre Arme und zuckte gelangweilt mit den Schultern.
»War sie nicht gestern Abend noch da?«, platzte es jetzt aus der Mutter heraus, die immer noch dachte, alles würde live übertragen.
»Mom!«, rief Angeline sichtlich verärgert.
»Über was habt Ihr gesprochen?« Das musste Paula unbedingt wissen.
»Über gar nichts. Linda hat die ganze Zeit gechattet.«
»Gechattet? Mit wem? Warum hat sie das nicht zuhause gemacht?«
»Weil sie ihr Notebook bei mir hat.« Angeline war genervt und lustlos.
»Warum das denn?«
»Weil sie ein Kontrollfreak als Mutter hat. Sie darf ihren Compi nicht verschlüsseln. Ihre Mutter liest ihre Chats und e-Mails, wenn wir in der Schule sind. Vor zwei Wochen hat Linda ihr gesagt, das Notebook sei kaputt und müsste in die Reparatur. Das stimmte aber nicht. Sie hat es hier bei mir im Zimmer deponiert.«
»Bei Dir?« Paula bemerkte wieder dieses Kribbeln im Bauch. Dieses Notebook brauchte sie – unbedingt!
»Ja«, antwortete Angeline, »Linda vertraut mir mehr als ihrer Mutter.«
»Angeline«, begann das verlogene Miststück mit gespielter Einfühlsamkeit, »die Polizei hat das Haus der Pattersons abgeriegelt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie herausbekommen, dass Lindas Notebook über Euer WLAN eingeloggt war. Sie werden hierher kommen und das Gerät beschlagnahmen. Der Staatsanwalt wird eine Pressekonferenz und alles öffentlich machen, was er darauf gefunden hat.«
»Warum sollte er das tun?«, mischte sich jetzt Ms. Herbert ein.
»Schauen Sie sich doch die Nachrichten an!« Paula deutete auf den Bildschirm. »Die Terroristen veröffentlichen Videos von den Geiseln und die Polizei schaut hilflos zu. Die Behörden brauchen Ergebnisse. Und wenn sie die nicht von den Tätern bekommen, dann bedienen sie sich bei den Opfern.«
»Das ist doch Unsinn!«, beharrte die Mutter, »ich breche das hier ab. Ich möchte, dass Sie sofort das Haus verlassen.«
»Ms. Herbert, erinnern Sie sich noch an den Fall von Monica Hodgson?«
»Monica Hodgson? Wer soll das sein?«
»Monica Hodgson war im Alter ihrer Tochter. Sie wurde abends auf dem Nachhauseweg verschleppt und erst am nächsten Tag gefunden. Sie war von drei Männern vergewaltigt worden. Die Polizei konnte die Täter nicht finden, obwohl Monica sie genau beschreiben konnte und sich sogar noch an einen Teil des Nummernschildes erinnerte. Stattdessen untersuchten die Beamten ihren Computer, fanden Chats mit einem heimlichen Freund, von dem die Eltern nichts wussten und behaupteten schließlich, Monica hätte die Vergewaltigung nur erfunden, um eine Nacht ungestört mit ihrem Freund verbringen zu können. Auf der Festplatte befanden sich Bilder, auf denen sich Monica sehr freizügig präsentierte. Ein notgeiler Police-Officer hat sich diese Bilder auf einen privaten USB-Stick gespeichert und auf einem Portal für Amateurpornos hochgeladen. Drei Wochen später hat sich Monica die Pulsadern aufgeschnitten.«
Ms. Herbert war geschockt. An den Fall erinnerte sie sich nicht. Opfer gerieten ja immer so schnell in Vergessenheit. Sie konnte nicht ahnen, dass die Schmeißfliege mehrere solcher frei erfundenen Fälle in ihrem kranken Hirn gespeichert hatte und bei Bedarf abspulte.
Und die setzte noch einen drauf: »Ich bin eine Frau. Bei mir sind diese Geheimnisse gut aufgehoben. Ich kann damit nichts anfangen, von Technik habe ich sowieso keine Ahnung. Angeline, ich verspreche Dir: sobald ich erfahre, dass Linda freigelassen wurde, setze ich mich ins Auto und bringe Dir das Notebook zurück. Linda erfährt nichts davon. Wir machen dann noch ein paar tolle Fotos von Eurem glücklichen Wiedersehen. Wenn Ihr wollt, bringe ich die ganz groß raus in unserem Magazin.«
»Sie versprechen mir, dass Sie das Notebook nicht öffnen«, wollte sich Angeline vergewissern.
»Angeline, das wäre ungesetzlich!«, empörte sich Paula. Unglaublich, dass ihr jemand dies zutraute! »Hier ist meine Handynummer. Ruf mich an, wenn Du es Dir anders überlegst und das Notebook zurück möchtest. Du kannst mich Tag und Nacht anrufen.« Beruhigend legte sie ihre Hand auf Angelines Schulter.
»Angeline, überlege Dir gut, was Du da machst!«, mahnte ihre Mutter.
»Lass mich, Mom!«, bockte die Tochter, stand auf und lief die Treppe hinauf in ihr Zimmer, um das Notebook zu holen.
Das überlegene Grinsen des Miststücks bekamen die beiden nicht mit.
***
Das Vernehmungszimmer im Container der mobilen Einsatzzentrale war eng – bedrohlich eng. So eng, dass selbst die Kamera die Sitzung nur von schräg oben aufzeichnen konnte. Allerdings wusste Gina Hines nicht, dass ihr Gegenüber eine zweite Kamera im Kugelschreiber versteckt hatte, den er in der Brusttasche seines Hemdes stecken hatte. Dieser betätigte eine Taste am Diktiergerät.
»Vernehmender Austin Harvey, Homeland Security, Vernommene Gina Hines, geschiedene Al Khadi, California State Park Administration Sicherheitsbeauftragte am Hearst Castle.«
»Ms. Hines, seit wann arbeiten Sie hier?«
»Seit etwa drei Jahren. Das können Sie in meinen Personalakten nachlesen«, antwortete Gina trotzig und ungehalten. Spätestens als Harvey sie als 'geschiedene Al Khadi' auf dem Vernehmungsprotokoll bezeichnet hatte, war ihr klar, worauf er hinaus wollte.
»Ihr Ex-Mann heißt Muhamed Al Khadi, wohnhaft in Los Angeles?«
»Ja.«
»Haben Sie noch Kontakt zu ihm?«
»Nein.«
»Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesprochen oder gesehen?«
Gina zögerte einen Moment. Lang genug, dass Harvey mit den Augenbrauen zuckte.
»Gestern Abend hat er mich angerufen«, sagte sie schließlich kleinlaut. Ihr war klar, dass diese Schnüffler ihre Verbindungsdaten überprüfen würden, wenn sie das nicht schon getan hatten.
»Gerade haben Sie die Frage nach der Kontaktaufnahme noch mit 'nein' beantwortet. Ms. Hines, ich rate Ihnen dringend, mit uns zusammenzuarbeiten.«
»Wir haben unser gemeinsames Haus verkauft. In den Papieren fehlte noch eine Unterschrift von ihm. Ich hatte ihm dazu eine e-Mail geschrieben und er hat mich angerufen, nur um mir zu sagen, dass er das Dokument vorgestern abgeschickt hatte. Das war's. Wir haben höchstens dreißig Sekunden miteinander telefoniert.«
»… und keine zwölf Stunden nach dem Anruf ist Ihr Arbeitsplatz Ziel eines Terroranschlags«, vervollständigte Harvey.
»Dann überprüfen Sie doch ihn und nicht mich!«
»Das werden wir, Ms. Hines. Aber im Moment möchte ich die Frage klären, wie es trotz der Sicherheitsmaßnahmen, für die Sie verantwortlich sind, den Terroristen gelingen konnte, Waffen und diverse Ausrüstungsgegenstände auf das Schloss zu bringen. Können Sie mir diesbezüglich weiterhelfen?«
»Haben Sie sich nicht die Überwachungsvideos angeschaut? Alle Besucher sind an der Schleuse überprüft worden. Alle! So wie gestern, vorgestern und an jedem verdammten Tag davor!« Ginas flache Hand traktierte das kleine Tischchen, worauf das Diktiergerät für den Bruchteil einer Sekunde in einen Schwebezustand überging.
»Ms. Hines«, konterte Harvey ruhig und gelassen, »je lauter Sie werden, desto unglaubwürdiger werden Sie für mich.«
»Sie haben sich doch sowieso schon eine Meinung gebildet! Das dumme Blondchen, dass auf einen Mohammedaner hereingefallen ist und mit dem Terrorist gemeinsame Sache macht!«
»Gina!« Jetzt wechselte Harvey ungefragt zur vertraulichen Anrede. »Voreingenommenheit kann ich mir in meinem Job gar nicht leisten. Das wäre tödlich. Aber zwanzig Jahre Berufserfahrung sagen mir, dass mit Ihnen etwas nicht stimmt.«
Resigniert atmete Gina deutlich hörbar aus. Die weiteren Fragen, ob Sie Kontakt zu weiteren Muslimen hatte oder schon einmal in Nordafrika, dem Nahen oder Mittleren Osten war, konnte sie wahrheitsgemäß verneinen. Danach folgten Fragen zu ihren Eltern und dem Rest der Verwandtschaft. Dieser Harvey verstand es, mit jeder Frage Gina weiter zu erniedrigen und ihren Widerstand zu zerbröseln. Ob sie Schulden habe, ob sie trinken, rauchen oder Drogen nehmen würde, wollte er wissen. Immer tiefer drang er in ihr Privatleben ein und war schließlich bei ihrem Sexualleben angelangt. Ob sie momentan in einer Beziehung lebe, wie oft in der Woche sie sich selbst befriedigen würde, ob sie schon einmal mit einer Frau geschlafen habe oder zumindest diesbezügliche Phantasien gehabt hätte. Dazwischen eingestreut waren harmlos wirkende Fragen über die Regelmäßigkeit von Kirchenbesuchen und ob sie schon einmal den Koran gelesen hätte.
Was Gina nicht wusste: die kleine Kabine war luftdicht versiegelt. Der Sauerstoffgehalt wurde ständig gemessen, die Frischluftzufuhr war geregelt und befand sich an der Wand hinter dem Kopf des Vernehmers. Dieser bekam somit mehr Sauerstoff zugeführt, während der Vernommene nur die verbrauchte Luft abbekam, zunehmend müde wurde und sich nur noch schwer konzentrieren konnte.
»Sie bleiben erst einmal in Gewahrsam«, schloss Harvey das Verhör.
»Ich will mit einem Anwalt sprechen«, brachte Gina nur noch mühsam hervor.
»Im Interesse der nationalen Sicherheit sprechen Sie für die nächsten achtundvierzig Stunden mit gar Niemandem.«
Auf dem Parkplatz des Besucherzentrums reihte sich ein Truck neben dem anderen. Einer davon diente mit seinen riesigen Satellitenschüsseln als Übertragungszentrum, ein anderer hatte schlitzförmige, vergitterte Fenster. Dorthin brachte man Gina Hines.
»Und?«, fragte Director Crain, als Harvey wieder in der Einsatzzentrale erschien.
»Die lügt, wenn sie nur den Mund aufmacht.«
***
Während die Insassen vieler Rettungsboote von herbeigeeilten Schiffen aufgenommen wurden, waren Leonard, Richard und die anderen Überlebenden der Lusitania-Katastrophe auf sich allein gestellt. Die Sonne näherte sich bereits dem Horizont, als das Boot mit den Schiffbrüchigen die rettende irische Küste erreichte. Abwechselnd hatten sie gerudert und dabei einen Leuchtturm als Orientierungspunkt gewählt. Mit vier Stunden hatten sie deutlich länger gebraucht, als sie geschätzt hatten.
Das Kratzen des Kiels auf dem steinigen Untergrund des flachen Wassers wirkte wie eine Erlösung. Erschöpft und traumatisiert hatten die Leute es eilig, das Boot zu verlassen. Minutenlang irrten sie am Strand umher, beweinten ihre verlorenen Angehörigen oder knieten nieder zum Gebet, bis einer einen Pfad entdeckte, der zur oberen Abbruchkante der Steilküste führte. Dort musste der Leuchtturm sein, den sie vom Wasser aus gesehen hatten. Dort würden sie Hilfe bekommen.
»Hiergeblieben!« Richard packte Leonard am Arm, als er sich den anderen anschließen wollte. »Sie wollen doch nicht, dass die Glasampulle bei Ihnen gefunden wird. Ist sie eigentlich noch ganz?«
Leonard senkte die Augen. Bei jedem Ruderschlag hatte er den harten Glaskolben hinter seinem Schließmuskel gespürt. Er sehnte sich danach, das Ding wieder loszuwerden. »Und wie soll es jetzt weitergehen?«, fragte er schließlich.
»Wir sondern uns von den anderen ab, warten hier bis es dunkel ist und schlagen uns zur nächsten Stadt durch. Ich verständige meine Leute und die sorgen dann dafür, dass das Päckchen nach Liverpool kommt.«
»Und mein Geld?«, fragte Leonard besorgt.
»Keine Sorge.«
Die Stimmen der Schiffbrüchigen, die über den Pfad die Klippe bestiegen, wurden leiser. Niemandem schien es aufzufallen, dass zwei Männer zurückgeblieben waren. Jeder haderte mit seinem eigenen Schicksal oder war in Gedanken bei seinen Liebsten.
Los jetzt!« Richard schwenkte die Hand mit seiner Pistole andeutungsweise in Richtung Pfad. Die letzten Sonnenstrahlen würden den steilen Weg notdürftig beleuchten.
»Darf ich die Ampulle vorher herausnehmen?«, bat Leonard Boyle.
»Nein«, kam als schroffe Antwort. Widerspruch war zwecklos. »Erst wenn wir oben angekommen sind. Ich muss wissen, wer oder was uns dort erwartet. Wir können nicht vorsichtig genug sein.«
»Der hat gut Reden«, dachte Leonard. Der Fremdkörper in seinem Enddarm schmerzte bei jedem Schritt.
Trotz des Handicaps, mit dem sich Leonard plagte, kamen die beiden Männer schneller voran als die anderen Schiffbrüchigen vor ihnen. An einigen besonders schwierigen Stellen hatten die Einheimischen ein Seil an der Felswand befestigt, an dem sie sich festhalten konnten. Noch eine Biegung und sie würden die Kante der Klippe erreicht haben.
»Hände hoch! Alle beide!«
Leonard und Richard schauten auf. Eine Gestalt versperrte ihnen den Weg und hatte eine Pistole auf sie gerichtet.
»Und Sie werfen die Waffe weg!« Diese Aufforderung war an Richard gerichtet. Allerdings steckte er die Waffe lediglich in die Tasche seines Jacketts anstatt sie wegzuwerfen.
Im Dämmerlicht erkannte Richard den Mann als einen der Passagiere, der mit ihnen auf dem Rettungsboot gewesen war. Während der ganzen Fahrt hatte er kein Wort gesprochen, jetzt fiel Richard der Akzent des Mannes auf. Der Mann war ein Deutscher – ein Feind, der rücksichtslos von seiner Waffe Gebrauch machen würde.
Der Mann kam gleich zur Sache: »Wo ist das Päckchen?«
»Im Schiff«, antwortete Leonard spontan, »ich musste es auf der Lusitania zurückgelassen.«
»Das glaube ich nicht!« So leicht ließ sich der Deutsche nicht überzeugen. Immerhin hatte Leonard durch seine unüberlegte Antwort verraten, dass er ganz genau wusste, um welches Päckchen es ging.
»Da wird jemand mit einem kleinen, handlichen Kästchen auf Weltreise geschickt und dann rennt er panisch zu einem Rettungsboot und lässt es in der Kajüte liegen?«
»Sie können uns ja durchsuchen, wenn Sie uns nicht glauben«, antwortete Richard selbstbewusst und ungehalten.
»Das werde ich, wenn ich Sie erschossen habe.«
Nach diesen Worten ließ der Mann den beiden keine Zeit zu reagieren. Richard sah noch das Mündungsfeuer aufblitzen, bevor die Kugel sein Gesicht zerfetzte. Leonard erschrak, taumelte rückwärts, stolperte über Richards Körper und purzelte rückwärts den Pfad hinunter. Sein Hinterkopf schlug auf einem Stein auf und blieb benommen liegen. Unmittelbar links neben ihm ging es steil abwärts. Der Deutsche eilte den Pfad hinab, beugte sich über Leonard, packte ihn bei den Haaren und schlug seinen Kopf mehrmals kräftig gegen den Stein, bis er ein Knacken der Hirnschale vernahm. Nun legte er seine Waffe, eine deutsche Armeepistole, in Leonards rechts Hand.
»Haben Sie den Schuss gehört? Wer hat da geschossen?«, schallte es vom Leuchtturm her.
Mit der Durchsuchung seiner Opfer musste der Deutsche sich jetzt beeilen.
***
Die Schmeißfliege führte ein Singledasein in einem kleinen Häuschen am Stadtrand von Santa Barbara. Sobald sie abends nach Hause kam, bestand normalerweise ihre erste Amtshandlung darin, ihre Nasenschleimhäute mit einer Brise feinsten Kokains zu traktieren. Heute stand ihr eine viel geilere Ersatzdroge zur Verfügung. Sie konnte es kaum erwarten, bis Lindas Notebook endlich hochgefahren war. Ach wie sie es genoss, im Dreck anderer Leute zu wühlen! Wie ihre Freundin Angeline erwähnte, war der Zugang nicht verschlüsselt. Ein Blick in die Ordner mit den Bild- und Videodateien genügte und Paula war klar, warum Angeline auf keinen Fall wollte, dass irgendein fetter Police Officer aus Santa Barbara auf der Festplatte dieses Rechners herumschnüffelte.
Auf einer Videodatei waren die beiden Mädchen zu sehen, wie sie nur mit Slip und T-Shirt bekleidet vor der Webcam tanzten. Ganz kurz schob Angeline ihr Shirt nach oben.
»Diese kleinen Biester«, dachte Paula, als sie diesen Abschnitt der Datei Standbild für Standbild betrachtete. Auf genau einem der Bilder blitzen Angelines Nippel auf. »Für wen haben sie dieses Video wohl gemacht?«, fragte sie sich.
Der Ordner mit den Fotos enthielt zahlreiche Selfies in allen Lebenslagen – allesamt harmlos und niedlich. Nur auf einem blickte Linda mit freiem Oberkörper verführerisch in die Kamera, wobei ihre Hände die Brüste verdeckten. Paula zoomte das Bild auf Originalgröße. Es war großformatig mit einer Kamera aufgenommen. Die paar Teenagerpickel ließen sich wegretuschieren.
'Die blutjunge Linda in der Gewalt fanatischer Islamisten! Droht ihr eine Zwangsheirat?' Dieses verfluchte Miststück würde keine Skrupel haben, das Bild mit dieser Überschrift zu versehen. Sie sah es schon ganz deutlich vor sich!
Hatte Linda auch Bilder von ihrer Mutter? In einem Ordner mit Urlaubsfotos wurde sie fündig. Ein Bild zeigte Annie Patterson in einem Strandcafé unter südlicher Sonne. Das Bild eignete sich hervorragend für eine Ausschnittsvergrößerung. 'Gefangen – gequält – gesteinigt! Die letzte Aufnahme von Annie P.' Vor ihrem geistigen Auge nahm die Reportage immer mehr Gestalt an.
Als nächstes öffnete sie den Internetbrowser. Die Favoritenliste leitete sie direkt zu einer Chat-Seite. Die Cookies waren so eingestellt, dass die Anmeldung automatisch erfolgte.
Was hatte sie zu Angeline und ihrer Mutter gesagt? »Ich bin eine Frau. Von Technik habe ich sowieso keine Ahnung.« Wie naiv konnte man im Jahr 2015 eigentlich sein? Paula grinste und begann im gespeicherten Chatverlauf zu lesen:
'09:46 p.m. Lindypat: bist du online? miss u !!!!'
'09:47 p.m. Shyboy123: yep'
'09:47 p.m. Lindypat: hab den ganzen tag an dich gedacht'
'09:48 p.m. Shyboy123: ich auch'
'09:49 p.m. Lindypat: mmmh'
'09:50 p.m. Shyboy123: macht deine mom wieder stress?'
'09:51 p.m. Lindypat: frag lieber nicht'
'09:52 p.m. Shyboy123: oh je, du ärmste! ich umarme dich.'
'09:52 p.m. Lindypat: ich kann es kaum erwarten, dich morgen zu sehen'
'09:53 p.m. Shyboy123: mir geht es genauso'
'09:53 p.m. Lindypat: ich muss schluss machen, muss um 10 zuhause sein'
'09:54 p.m. Shyboy123: kiss kiss good night'
Paula holte tief Luft. Linda hatte also einen Freund und ihre Mutter durfte nichts davon wissen. Das ging soweit, dass Linda ihr Notebook bei ihrer Freundin Angeline deponieren musste. Was ging bloß in einer Mutter vor, die ihrer vierzehnjährigen Tochter den Umgang mit einem Jungen vermieste? Welcher Kirchengemeinde gehörten die Pattersons an? Und wer war dieser Shyboy123? Wie lange ging das schon mit den beiden? Die älteren Chatprotokolle waren entweder gelöscht oder für sie nicht einsehbar.
Paula juckte es in den Fingern. Sollte sie ihm eine Nachricht zukommen lassen? Shyboy123 wusste sicher bereits von der Geiselnahme. Schließlich war dadurch seine Verabredung mit Lindypat für heute geplatzt. Wie würde er reagieren, wenn er plötzlich eine Nachricht über Lindas Account bekommen würde? Paula beschloss, damit noch zu warten. Jetzt galt es, eine Sensationsreportage zu entwerfen, basierend auf den Informationen, die sie hatte, und gespickt mit Lügen und Halbwahrheiten. Es war bereits dunkel. Bei Sonnenaufgang sollte Annie Patterson sterben. Unmittelbar danach sollte ihr Machwerk öffentlich vermarktet werden. Sie musste sich ranhalten – die Konkurrenz schlief nicht.
***
Das Warten zermürbte. Fünf Kampfjets warteten einsatzbereit auf der nahegelegenen Vandenberg Air Force Base, die Nationalgarde war aufmarschiert und hatte alle Zufahrtsstraßen gesperrt. Für das ganze Land war die höchste Terrorwarnstufe herausgegeben worden. Aber seit dem Nachmittag herrschte Stillstand. Jetzt dämmerte es bereits. An Verhandlungen schienen die Terroristen nicht interessiert zu sein. Im Schloss gab es Telefone, die direkt mit dem Besucherzentrum verbunden waren. Sie blieben stumm. Genau einmal hatten die Terroristen ihre Forderungen gestellt. Von da an beschränkten sie sich auf das Verbreiten von grauenhaften Propagandavideos.
»Ein typisches Selbstmordkommando«, stellte Barbara Watts fest. »Die wissen genau, dass ihre Forderungen nicht erfüllt werden. Sie wollen die Vereinigten Staaten erniedrigen, indem sie Amerikaner in ihrem eigenen Land töten, und anschließend als Märtyrer sterben.«
»Dann können wir auch gleich einen Luftschlag ausführen«, meinte Crain zynisch.
»Zumindest einen der Terroristen könnten wir ausschalten«, mischte sich Georgina ein, während sie eine Koffeintablette herunterschluckte – die dritte an diesem Abend.
»Wie meinen Sie dass?«, fragte Harvey.
»Alle Satelliten sind jetzt in Position. Aus den Daten können wir das Wärmebild dreidimensional konstruieren.« Zur Veranschaulichung ließ Georgina ihre schlanken schwarzen Finger über den Touchscreen gleiten. Ein Spangenmodell des Schlosses und der angrenzenden Gebäude begann sich zu drehen. Die Menschen waren als helle Gestalten zu erkennen.
»Ist das Echtzeit?«, wollte Crain wissen.
»So gut wie«, antwortete Georgina, spreizte ihre Finger auf dem Bildschirm und zoomte heran. »Drei Bilder pro Sekunde – Zeitverzögerung etwa zwei Sekunden bis die Daten hier ankommen und verrechnet werden.«
Aus dem Punkt war nun eine Silhouette geworden. Man konnte Menschen erkennen, die sich ruckartig bewegten.
»Jetzt fehlt nur noch, dass die Terroristen rot und die Opfer grün dargestellt werden.« Harvey war beeindruckt.
»Sehen Sie den hier auf dem Turm?« Georgina deutete auf den Bildschirm. »Das meinte ich, als ich sagte, dass wir einen ausschalten können. Einer hält Wache. Sicher keine Geisel.«
Georgina bewegte den Mauszeiger auf den Wächter, öffnete mit der rechten Taste ein Menü, wählte die Farbe rot und bestätigte dies mit einem Klick. Der Wächter war nun rot markiert.
»So, diese Person bleibt jetzt markiert, auch wenn sie den Turm verlässt. Wir brauchen nur auf die Wachablösung zu warten, dann haben wir den nächsten.« Georgina liebte solche technische Spielereien und grinste überlegen, als sie die verdutzten Gesichter der Männer sah, die sich um ihren Bildschirm versammelt hatten.
Lediglich Ethan Crawford bemerkte lakonisch: »Satellite Individual Tracking, sehr nützlich! Das haben wir in L.A. auch.«
Im Truck neben der Einsatzzentrale zermarterte Gina Hines sich das Hirn. Sie war für die Sicherheit im Besucherzentrum und auf dem Gelände des Hearst Castles verantwortlich. Wie um alles in der Welt hatten die Terroristen es geschafft, Waffen an ihr vorbei in das Schloss zu bringen? Eigentlich logisch, dass man sie zuallererst verdächtigte.
Wie ein Stück Vieh hatte man sie eingepfercht. Durch die Gitterstäbe des schmalen Fensters drang das Licht einer Laterne, die den Parkplatz ausleuchtete. Zusammengekauert saß Gina auf der schmalen Pritsche. Jetzt, wo sie trotz der Beengtheit ihrer Zelle wieder genügend Sauerstoff zum Atmen bekam, dämmerte es ihr so langsam, was dieser Harvey sie alles gefragt und was sie geantwortet hatte. Was war mit ihr los gewesen? War sie unter Drogen gesetzt worden, ohne dass sie dies bemerkt hatte? Aber wie? Sie hatte nichts zu sich genommen und ihr war auch nichts gespritzt worden.
Als sie Muhamed Al Khadi kennenlernte, hatte sie sich keine Gedanken über seine Herkunft gemacht. Er war schließlich gebürtiger Amerikaner, so wie sie. Er hörte westliche Musik, verpasste im Fernsehen keine Basketballübertragung und aß Schweinefleisch. Er war höflich und hatte sie mit Respekt behandelt – jedenfalls zu Anfang. Die Heirat erfolgte reichlich überstürzt. Fünfundzwanzig war sie damals gewesen, als sich die Ehehölle vor ihr auftat. Muhamed wollte, dass sie zuhause bleiben sollte. Nein, geschlagen hatte er sie nie, aber psychisch unter Druck gesetzt. Er verbot ihr zu arbeiten. Sie sollte die Pille absetzen und Kinder bekommen. Gina verhütete weiterhin – heimlich. Sie musste die Monatsblister gut verstecken, damit sie nicht im Müll landeten.
Als sie gegen seinen Willen die Stelle als Security Managerin im Hearst Castle annahm, lebten sie noch zusammen – jedenfalls auf dem Papier. Was hatte sie ihm damals über den Job erzählt? Sie erinnerte sich, wie sie mit ihm diskutiert hatte, ob es überhaupt Sinn macht, ein altes Schloss wie ein Flughafen zu bewachen.
»Seit dem elften September ist das halt so«, hatte sie geantwortet und eine Debatte ausgelöst über den Generalverdacht, dem Bürger mit arabischer Herkunft seitdem ausgesetzt waren. Hatte Muhamed Informationen weitergegeben oder womöglich ihren Dienstausweis kopiert, den sie immer offen auf der Kommode ablegte, wenn sie nach Hause kam? Lag die Homeland Security doch nicht so daneben, wenn sie sie verdächtigte?
Gina wurde aus ihren Gedanken gerissen, als die Verriegelung ihrer Zellentür entsperrt wurde. Im selben Moment wurde die Deckenleuchte angeschaltet, und, nachdem sich ihre Augen an das grelle Licht gewöhnt hatten, erkannte sie die Frau, die mit Harvey zusammen aus dem Hubschrauber gestiegen war.
»Ich bin Barbara - Barbara Watts«, begann sie zu säuseln, »ich glaube, wir wurden uns noch nicht vorgestellt.«
Nein, vorgestellt worden waren sie sich noch nicht. FBI und Homeland Security hatten ja unverzüglich nach ihrer Ankunft das Besucherzentrum in Beschlag genommen und sich einen Dreck um die Mitarbeiter geschert. Jetzt stand wohl ein Gespräch von Frau zu Frau auf dem Programm.
»Darf ich mich setzen?« Barbara Watts deutete auf die Pritsche. Offensichtlich hatte sie vor, sich in die enge Lücke zwischen Gina und der Wand zu quetschen.
»Das Bett gehört nicht mir. Also machen Sie was Sie wollen«, antwortete Gina trotzig und rückte ein Stück weiter an das untere Ende der Pritsche. Jeglichen direkten Körperkontakt mit dieser Frau wollte sie vermeiden. Ihr aufdringliches Parfüm verbreitete sich in der Zelle.
»Gina, ich arbeite als Psychologin für die Homeland Security. Glauben Sie mir bitte, achtundvierzig Stunden in einer so engen Zelle können furchtbar lang sein. Das kann Sie dauerhaft traumatisieren. Wollen wir das nicht ein wenig abkürzen?«
»Und wie?«
»Mit einem Lügendetektortest zum Beispiel. Sie entspannen sich ausgestreckt auf einer Liege, bekommen ein paar Elektroden angesetzt und beantworten ein paar Fragen. Wenn Sie den Test bestehen, sind Sie frei.«
»Und wenn nicht?«
»Wenn Sie nichts zu verbergen haben, dann können Sie gar nicht durchfallen. Deshalb machen wir den Test ja.« Barbara lächelte.
Das klang nicht gerade überzeugend. Aber Gina ahnte, was passieren würde, sollte sie ablehnen. Selbst im Zeitalter der DNA-Analysen und computergestützten Forensik gehörte die vorsintflutliche Methode, Änderungen der Leitfähigkeit der Haut als Folge von Schweißabsonderungen zu messen, immer noch zum Standardrepertoire der Ermittler. Die Höhe der Ausschläge auf dem Polygraphen nachdem man eine Frage wahrheitsgemäß beantwortet hatte oder nicht, hatte vor Gericht eine hohe Beweiskraft. Also folgte sie der Psychologin wortlos in den Nebenraum. Dort hatte man bereits alles vorbereitet. Ein Polizist stand in der Ecke des Raumes – nur für den Fall, dass Gina versuchen würde, Barbara zu überrumpeln.
»Legen Sie sich einfach hin!«, befahl Barbara mit ruhiger Stimme.
Gina zögerte etwas, als sie die Schnallen an den Rändern sah, die offensichtlich dazu dienten, einen Menschen auf der Liege zu fixieren.
»Keine Sorge, Ihnen passiert nichts.« Die Psychologin schien Ginas Gedanken erraten zu haben.
Etwas verunsichert legte sich Gina auf die Liege und spürte, wie Barbara sich beeilte, die Gurte um ihre Fuß- und Armgelenke festzuziehen. Bisher kannte sie Lügendetektoren nur aus Filmen. Da saßen die Verdächtigen immer ganz entspannt auf einem Stuhl. Als nächstes strich Barbara ihr die Haare aus der Stirn und legte ein Gummiband, an dem mehrere Elektroden angebracht waren, um ihren Kopf. Zwei weitere Kontakte wurden an den Fingern befestigt.
»Was soll das?«, fragte sie, als Barbara sich nun anschickte, Ginas Hemd aufzuknöpfen.
»Neueste Technik«, versicherte die Psychologin, »keine Angst Kindchen, den BH kannst Du anbehalten. Wir müssen nur den Herzschlag messen.« Sie klemmte eine weitere Elektrode unter den Rand ihres BHs.
Das kannte Gina auch nicht. Sie schaute nach rechts, wo der Polizist stand. Er grinste. Gina ahnte nicht, dass diese Maßnahme – wie das Festschnallen – einzig und allein der Einschüchterung diente. Auch das Aufknöpfen der Bluse wäre nicht nötig gewesen. Das Kabel, das von der Elektrode über ihrem Herzen abging, war gar nicht an den Polygraphen angeschlossen. Aber das konnte Gina nicht sehen.
Würde sie den Test bestehen, so nervös wie sie war? Gina blickte starr an die Decke und versuchte ruhig zu atmen. Sie war schon gespannt auf die Fragen, aber nun passierte zwei Dinge gleichzeitig. Barbara hielt ihren Arm und Gina verspürte einen stechenden Schmerz. Sie versuchte, den Oberkörper aufzurichten, und sah gerade noch, wie dieses Weib eine Kanüle aus ihrer Vene zog und ihren Finger auf die Einstichstelle drückte.
»Schon vorbei! Leg Dich ganz ruhig hin!«
»Was haben Sie …?«
Weiter kam Gina nicht. Ihre Muskeln verkrampften, um sich eine Sekunde später wieder zu entspannen. Das Deckenlicht wurde immer greller, sie musste die Augen schließen. Jemand schob einen Stuhl neben die Liege. Das kratzende Geräusch dröhnte in ihren Ohren. Sie wollte sie zuhalten, aber das ging nicht. Das aufdringliche Parfüm, das ihr sofort aufgefallen war, als Barbara Watts die Zelle betreten hatte, roch nun abstoßend nach faulen Eiern. Jedenfalls empfand Gina das so. Ihre Sinne spielten verrückt, ihre Gedanken fuhren Achterbahn und ein Taubheitsgefühl kroch von den Zehen aufwärts bis in die Haarwurzeln.
»Dein Name ist Gina Amanda Hines?«
»Ist das die erste Frage?« Gina antwortete wie in Trance. Ihre Worte kamen nur abgehackt über ihre Lippen.
»Antworte nur mit ja oder nein!«
»Ja.«
»Du bist angestellt bei den California State Parks?«
»Ja.«
»Deine Haarfarbe ist blond?«
»Ja.«
»Hast Du Deine Haare gefärbt?«
»Ja.«
»Warst Du diese Woche schon in einer Kirche?«
»Nein.«
»Deine Haarfarbe ist brünette?«
»Ja.«
»Sind Deine Zehennägel lackiert?«
»Nein.«
»Hast Du innerhalb der letzten zehn Monate eine ungesetzliche Handlung begangen?«
»Nein.«
»Hast Du schon einmal gegen die Dienstvorschriften verstoßen.«
»Nein.«
»Heißt Deine Mutter Tiffany?«
»Ja.«
»Warst Du am letzten Freitag in einer Moschee?«
»Ja.«
»Bingo!«, dachte Barbara und markierte die Stelle auf dem Polygraphen mit einem dicken roten Stift.
***
Zehn Minuten hatten gereicht, um Martin Frazer übel zuzurichten. Als die Terroristen ihn wieder zu den anderen männlichen Geiseln gebracht hatten, war seine Lippe aufgeplatzt und das linke Auge zugeschwollen. Ron Patterson hatte sich trotz seiner prekären Situation auf seinen Beruf als Arzt besonnen und geholfen so gut es eben ging. Aus dem Bad nebenan ließ er sich nasse Handtücher bringen. Mehr konnte er nicht tun.
Mittlerweile waren die Schwellungen in Frazers Gesicht etwas zurückgegangen. Nur weil er ein paar Bücher aus den Regalen geräumt hatte, war er so zugerichtet worden. Was würde noch alles passieren? Dieser Ausraster der Geiselnehmer hatte die Männer bestärkt, heute Nacht den Ausbruch zu wagen – auch ohne ihre Frauen, ohne Timmy und ohne Linda.
Noch bei Tageslicht hatte Clive Osbourne die von Fernando Llorente erwähnte Klappe im Bad besichtigt. Alle würden durchpassen – auch Randy Stephens, wenn er den Bauch einziehen würde. Viel enger hätte sie aber auch nicht sein dürfen.
»Was ist unter der Klappe?«, hatte er gefragt.
»Nichts«, hatte Fernando geantwortet, »der Boden liegt etwa anderthalb Meter tiefer.«
»Abschüssig?«
»Ja, das Gästehaus ist direkt am Abhang errichtet worden.«
Damit war Clive im Bilde. Jeder musste mit den Füßen voran durch die Öffnung, dann aber irgendwann los lassen. Die Landung würde Geräusche verursachen, möglicherweise Steine ins Rollen bringen oder man würde selbst ein Stück weit den Abhang hinunterrutschen. Und das bei völliger Dunkelheit!
Von ihren Bewachern hatten sie seit mittlerweile zwei Stunden nichts gehört. Zum Abendessen hatte es einen undefinierbaren Haferschleim und Wasser gegeben. Demnach hatten die Terroristen nicht nur Waffen, Videokameras und Computer, sondern auch Verpflegung ins Schloss geschafft.
»Wir schleichen uns jetzt leise ins Bad«, mahnte Clive und gab damit das Startsignal für den Ausbruch. »Ich bin mir sicher, dass ein Wächter direkt vor der Tür steht.«
Das Scharnier der Klappe ächzte, als Clive sie anhob. Die Männer hielten einen Moment inne. Es blieb ruhig.
»Fernando, Sie kennen sich hier aus. Sie gehen als Erster!«, flüsterte Clive.
Nur zu gerne kam der Gärtner dieser Aufforderung nach. Nichts wie raus hier! Er baumelte mit den Beinen in der Luft, während er sich noch mit den Ellenbogen an den Kanten der Öffnung abstützte. Nach kurzem Zögern streckte er seine Arme nach oben und rutschte nach unten. Der Untergrund gab nach, als seine Füße den Boden berührten. Zweige knackten, Steine kamen ins Rollen und der ungeschickte Fernando landete unsanft auf seinem Hinterteil.
Das hatte Clive befürchtet. Ein Seil, an dem sich die Männer hätten herunter hangeln können, hatte er im Gästehaus nicht gefunden.
»Ron, Sie als Nächster!«
Der Arzt, der vor wenigen Stunden noch lieber gestorben wäre als zu fliehen, beeilte sich, dem Gärtner durch die Luke zu folgen. Er verstauchte sich bei der Landung das Fußgelenk und konnte den Schmerzlaut nicht komplett unterdrücken.
Clive schüttelte den Kopf. »Verdammt! Los, Henry, jetzt Sie!«
Der Lehrer ließ sich gewandt durch die Öffnung gleiten und legte eine kaum hörbare Landung hin. Das hatte Osbourne, der Veteran, ihm gar nicht zugetraut. Jetzt befanden sich noch Martin Frazer, Randy Stephens und er selbst im Bad. Jetzt, wo er Randy so neben der Luke stehen sah, kamen ihm doch Zweifel, ob er hindurchpassen würde. Er selbst wollte auf jeden Fall zuletzt fliehen.
»Martin!« Clive zeigte auf das Loch und sah, wie skeptisch der dicke Randy dreinschaute. Auch sein Augenmaß ließ ihn nicht im Stich.
»Randy, ziehen Sie Ihre Hose aus!«, befahlt Clive, während Martin schon halb durch die Luke verschwunden war.
Im Badezimmer lag ein altes Stück Kernseife, wie man es vor hundert Jahren verwendet hatte. Diese war wohl mehr als Anschauungsobjekt für die Besucher gedacht, aber es war echte Seife und keine Attrappe aus Plastik. Er befeuchtete die Seife mit etwas Wasser und reichte sie Randy.
»Seifen Sie ihre Arschbacken und ihre Hüften damit ein. Wenn Sie dann nicht durchflutschen, dann weiß ich auch nicht weiter.«
Ob der Trick funktioniert hätte, sollten die Männer nie erfahren. Kaum war Martin abgesprungen, ertönten laute Rufe unter der Luke. Taschenlampen ließen Lichtkegel durch die Dunkelheit schwirren. Jetzt wurde die Tür zum Bad aufgerissen und einer der Terroristen hielt mit einer Pistole Clive und Randy in Schach.
»Im Gästehaus ist etwas vorgefallen«, rief Georgina aufgebracht. Seit einer halben Stunde hatte Sie die Ansammlung von Wärmepunkten im Westteil des Gebäudes beobachtet, konnte dies aber erst interpretieren, als sie in der 3-D-Ansicht mitbekam, dass vier Menschen sich nicht mehr in, sondern unter dem Haus befanden.
»Was ist da los?«, fragte Ethan Crawford, der sich als Erster neben Georgina einfand.
»Sieht nach einem gescheiterten Fluchtversuch aus«, meinte Georgina. »Aus der Zahl der Personen schließe ich, dass es die männlichen Geiseln sind. Im Gästehaus muss es eine Tür oder Öffnung im Boden geben, durch die vier Männer zu entkommen versuchten.« Sie deutete auf den Bildschirm. »Diese beiden Männer sind von der Seite gekommen. Einer davon ist der rot markierte Turmwächter. Er hatte seinen Platz verlassen und hatte es eilig, zum Gästehaus zu gelangen.«
Jetzt standen auch Crain und Harvey hinter Georgina. Mit versteinerten Blicken starrten die Männer auf den Monitor. Auch wenn das Bild verpixelt war, konnten sie sich ausmalen, dass das, was sie auf dem Bildschirm sahen, zwei Terroristen waren, die drei Männer abführten. Oben im Gästehaus waren drei Menschen erkennbar. Einer stand den beiden anderen gegenüber.
»Und was ist mit dem hier?« Ethan deutete auf einen separaten Lichtpunkt am Abhang unterhalb des Gästehauses.
»Na, da ist wohl einem der Geiseln die Flucht gelungen«, meinte Georgina.
»Schicken Sie eine Bodeneinheit los! Wir müssen ihm entgegenkommen!«, rief Harvey erregt.
»Vorsicht!«, mahnte Crain, »es könnte auch einer der Terroristen sein.«
»Richtig!«, pflichtete ihm Ethan Crawford bei, »noch hat Georgina nicht alle vier Geiselnehmer rot markiert.«
»Was ist da draußen los?«, fragte Lynn beunruhigt.
Den drei Frauen war die Unruhe nicht entgangen. Sie lagen wach im angrenzenden Gästehaus. An Schlaf war nicht zu denken. Weder Annie noch Moira wollten oder konnten diese Frage beantworten. Schließlich war es Annie, die es wagte, aufzustehen und aus dem Fenster zu sehen.
»Unsere Männer werden gerade abgeführt!«
»Wohin?« Entsetzt sprang Lynn auf.
Die beiden Frauen konnten sehen, wie drei der Geiseln, darunter ihre beiden Ehemänner beleuchtet vom matten Mondlicht und im Schein von Taschenlampen durch die Lücke zwischen den beiden Gästehäusern in das Schloss geführt wurden.
»Sie töten sie! Sie töten sie!«, schrie Lynn hysterisch.
»Hör auf, hier so herumzubrüllen!«, herrschte Annie sie an und gab ihr eine Ohrfeige.
In diesem Moment wurde die Tür zu ihrem Gefängnis aufgeschlossen und Abdul erschien im Zimmer.
»Weg vom Fenster!«, schrie er und an Lynn gewandt: »Leg Dich aufs Bett!«
Lynn, die sich immer noch die Backe hielt, gehorchte.
»Und Du kommst mit!«, befahl er Annie.
»Ich habe Ihr nur eine gehauen, damit Sie ruhig ist«, verteidigte sich Annie.
»Schweig!«
Abdul zog Annie am Arm aus dem Zimmer und schloss die Tür wieder ab. Sie begann zu zittern und zu schwitzen. Ihre Uhren waren ihnen abgenommen worden, aber es musste noch mitten in der Nacht sein. Sollte sie jetzt schon hingerichtet werden? Abdul zerrte sie über den Hof in das Schloss.
Dort im Speisesaal warteten bereits zwei der anderen Terroristen – und Ron! Sie hatten ihn ausgezogen und seine Füße an die hinteren Beine eines Stuhls gebunden. Sein Oberkörper war über die Lehne gebeugt und seine ausgestreckten Arme waren an den vorderen Stuhlbeinen fixiert worden.
»Dein Mann hat versucht zu fliehen«, begann Abdul. »Er und die anderen Männer wollten Euch Frauen und Kinder zurücklassen.«
'Kinder' war für Annie das Stichwort: »Wo ist meine Tochter?« Jedes mal, wenn sie es gewagt hatte, diese Frage zu stellen, war sie unverzüglich dafür bestraft worden. Sie ging davon aus, dass es auch diesmal so sein würde, aber die Züchtigung blieb aus.
»Du wirst sie sehen«, antwortete Abdul. »Aber vorher bestrafst Du Deinen Mann!« Mit diesen Worten reichte er ihr eine Peitsche.
Annie schaute ihn zuerst überrascht und dann hasserfüllt an.
»Los! Fünf Hiebe auf den Rücken!«
»Nein!«, kreischte Annie und warf die Peitsche zu Boden.
»Du hebst jetzt sofort die Peitsche auf und tust, was ich Dir gesagt habe, oder Du wirst an seiner Stelle ausgepeitscht und wirst Deine Tochter nie wieder sehen«, entgegnete Abdul mit bedrohlicher Gelassenheit.
Diese Drohung wirkte. Annie bückte sich nach der Peitsche und als sie sich wieder aufrichtete, sah sie, wie eine Videokamera und ein Studioscheinwerfer auf sie gerichtet waren. Die ganze Welt würde zusehen, wie sie ihren eigenen Mann mit der Peitsche traktierte. Die dem vorausgegangene Drohung würde höchstwahrscheinlich aus dem Film herausgeschnitten werden. Sie hatte weiche Knie und Tränen in den Augen, als sie die Peitsche auf Rons Rücken niedergehen ließ. Ron stöhnte.
»Was war das denn?«, brüllte Abdul, »Du sollst ihn schlagen, nicht streicheln!«
Mit diesen Worten entriss er ihr die Peitsche, holte aus und ließ das Leder mit voller Kraft auf den nackten Rücken knallen. Bei diesem Schlag stöhnte Ron nicht – er brüllte wie ein Tier. Entlang der Strieme war die Haut aufgeplatzt und Blut ergoss sich aus der offenen Wunde.
»So macht man das!« Abdul reichte Annie erneut die Peitsche. »Jetzt kommt Schlag Nummer zwei. Dein Erster zählt nicht. Denk an Deine Tochter!«
Obwohl Annie mit den Nerven am Ende war und gar nicht die Kraft hatte, die schwere Peitsche so wie Abdul zu führen, fügte sie Ron eine zweite blutende Strieme zu. Als sie sah, was sie angerichtet hatte, sank sie heulend in sich zusammen.
»Du blödes Weib!«, schrie Abdul und ließ die Peitsche auf sie niederknallen. Der Hieb zerfetzte ihr Hemd. Sie spürte den Schmerz, aber schlimmer waren die folgenden drei Hiebe, die auf Ron niedergingen. Dieser brüllte noch animalischer.
»Aufhören! Aufhören!«, schrie Annie und hielt sich die Ohren zu.
»Bring sie rüber und hol die Nächste!«, befahl Abdul einem seiner Komplizen.
»Meine Tochter! Ich will meine Tochter sehen!«
»Du hast nicht gehorcht!«
Lynn war völlig entsetzt, als Annie schreiend und mit zerfetztem Hemd wieder ins Gästehaus geschleift wurde. Von der Tortur hatte sie nichts mitbekommen. Die Entfernung zum Schloss war zu groß und die schweren Holztüren dämpften selbst die lautesten Schreie. Umso entsetzter war sie, als einer der Männer ohne ein Wort zu sagen nun sie packte und aus dem Zimmer zerrte.
Als sie den Speisesaal erreichten, war Lynn vom grellen Licht des Scheinwerfers geblendet. Nachdem sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, sah sie, worauf der Scheinwerfer gerichtet war. Wie zuvor Ron war nun Henry nackt an den Stuhl gefesselt worden.
»Dein Mann hat versucht zu fliehen«, erklärte Abdul, »ohne Dich und Deinen Sohn.«
»Wo ist Timmy? Ich will meinen Sohn sehen!« Wie zuvor Annie so war auch Lynn von einem natürlichen, beschützenden Mutterinstinkt geleitet.
»Verpasse ihm fünf Hiebe und Du wirst Deinen Sohn sehen«, versprach Abdul und hielt ihr die Peitsche hin.
»Nein!« Lynn schüttelte energisch den Kopf, kreuzte ihre Arme vor der Brust und verweigerte die Annahme des Leders. »Ich kann das nicht!«
»Dann werde ich es tun!«, rief Abdul und versetzte Henry den ersten Hieb. Lynn spürte, wie ihr die Beine wegsackten. Ihr wurde schwarz vor Augen. Henrys Schmerzensschreie verhallten in ihrer Bewusstlosigkeit.
Lynn erwachte in dem Moment, als sie unsanft auf dem Bett im Gästehaus abgelegt wurde. Was war geschehen? Hatte Henry die Tortur überlebt? Was war mit Timmy? Sie konnte doch ihren Mann nicht auspeitschen, nur um Timmy sehen zu dürfen! Lynn sah sich um. Zu zweit hatten sie sie ins Gästehaus zurückgetragen und nun war Moira an der Reihe.
Moira hatte mit ansehen müssen, in welchem Zustand ihre beiden Mitgefangenen zurückgebracht wurden. Während Lynns Abwesenheit hatte sie versucht, von Annie zu erfahren, was im Schloss vorgefallen war. Aber diese lag apathisch in einer Ecke und stand offensichtlich unter Schock. Daher leistete Moira Gegenwehr, so gut es eben ging, schlug hysterisch um sich und kreischte. Beide Männer hatten Mühe, sie ins Schloss zu befördern.
»Dein fettes Schwein hat versucht zu fliehen und wollte Dich hier zurücklassen«, wurde sie von Abdul begrüßt.
Entsetzt blickte sie auf Randy, der angestrahlt von einem Scheinwerfer, in der gleichen Art und Weise wie Ron und Henry an einen Stuhl gefesselt war.
»Fünf Hiebe!« Abdul reichte ihr die Peitsche.
»Ich? Ich soll ihm fünf Hiebe verpassen?« Moira stotterte. Mit der einen Hand versuchte sie ihr zerrissenes Hemd zusammenzuhalten und ihre Brüste zu verhüllen.
»Wenn Du es nicht tust, wirst Du auch so festgebunden. Dann bekommst Du die fünf Hiebe und ihm verpassen wir zehn.«
Zu Beginn ihrer Karriere hatte Moira sich einmal überreden lassen, in einem Sadomaso-Filmchen mitzuspielen. Der Mann, der sie fesselte, wusste genau, wo er die Schlingen legen musste, um Blutstauungen und Bänderdehnungen zu vermeiden. Eine halbe Stunde hing sie an einem Flaschenzug gut einen Meter über dem Boden. Die Peitsche, die damals verwendet wurde, bestand aus weichen Lederbändern und hinterließ Hautrötungen, die noch zwei Tage lang brannten. Aber dieses Ding hier war eine harte Lederpeitsche, mit der man Pferde oder Kamele züchtigte. Jeder Schlag würde bleibende Narben hinterlassen – da war sie sich sicher. Aber die Vorstellung, so wie Randy nackt an den Stuhl gefesselt zu werden und diesen Unmenschen hilflos ausgesetzt zu sein, ließ Panik in ihr aufsteigen. Das war mit der Situation von damals in einer als Studio umgestalteten Fabrikhalle nicht zu vergleichen.
»Gut, ich mach's«, brachte sie mühsam hervor. »Sorry, Randy«, sagte sie tonlos, bevor sie zum ersten Hieb ausholte.
»Ist sie verheiratet?«
Kaum hatte Georgina mit den Worten »Ich muss kurz mal Luft schnappen« den Truck verlassen, platzte diese Frage aus Ethan Crawford heraus. Außer ihm war nur noch Stephen im Truck.
»Sie hat einen Freund. Er heißt Mike und ist schwarz wie sie«, antwortete Stephen Morris mit einem Grinsen. Es war ihm nicht entgangen, dass sein ehemaliger Kumpel aus der Polizeiakademie trotz der angespannten Situation ein Auge auf seine Kollegin geworfen hatte. »Gefällt sie Dir?«
»Sie ist attraktiv und intelligent. Ich würde sie garantiert nicht von der Bettkante stoßen.«
»Mensch Einstein! Das Ergebnis wären lauter schokobraune, superintelligente Kids!«, scherzte Stephen.
»Gib zu, in Deinem Kopfkino hast Du sie schon mehrmals gevögelt.«
»Wenn ich Dir erzähle, was in meinem Kopfkino schon alles gelaufen ist, könntest Du Dich nicht mehr auf Deine Arbeit konzentrieren«, konterte Stephen.
Die beiden Männer lachten.
»Und ich dachte, wir machen heute Nacht da weiter, wo wir heute Morgen unterbrochen worden sind!« Mikes Stimme klang enttäuscht und auch ein bisschen Verärgerung schwang mit.
»Ja, Liebling, das würde ich jetzt auch gerne tun«, hauchte Georgina in ihr Mobiltelefon, »aber es geht leider nicht. Du hast ja bestimmt im Fernsehen schon mitbekommen, was passiert ist.«
»Und ob! Das läuft auf allen Kanälen. Vor zwei Stunden hat der Präsident gesprochen. Verhandelst Du mit den Terroristen?«
»Mike, Du weißt, dass ich mit Dir nicht über meine Arbeit sprechen darf. Wir haben Alarmcode Red Zero, da darf ich genaugenommen nicht einmal mit Dir telefonieren.«
Georgina hatte unter dem Vorwand, mal an die frische Luft zu müssen, die mobile Einsatzzentrale verlassen, sich zwischen die Trucks verdrückt und ihr privates Handy angeschaltet.
»Und warum rufst Du mich dann an?«
»Weil ich Sehnsucht nach Dir habe, Du Idiot!«
»Dann sitzt Du momentan ganz alleine vor Deinem Bildschirm und pfeifst meinetwegen auf die Dienstvorschriften?«
»Nein, ich bin kurz an die frische Luft gegangen. Und ja, ich verstoße wegen Dir gegen die Dienstvorschriften!«
»Du tust etwas Verbotenes? Darling, das macht mich total an, weißt Du das?«
»Na hoffentlich machst Du nichts Verbotenes, wenn ich nicht bei Dir bin«, flachste Georgina.
»Ich stelle mir gerade vor, wie wir auf Hawaii an einem einsamen Strand liegen. Nur Du und ich! Wie Du Dir Deine Kleider vom Leib reißt, meine Hose öffnest, meine schwarzen Eier umfasst und wir unter dem Sternenhimmel unsere wildesten Sex-Fantasien ausleben.«
Georgina musste lachen. Wie zwei alberne Teenager hatten sie Telefonsex. Doch dann hörte sie einen erstickten Schrei gefolgt von einem langgezogenen Stöhnen.
»Wow«, meinte Mike, »ich wusste gar nicht, dass Dich meine Stimme so anmacht. Oder hast Du den nur vorgetäuscht?«
»Halt mal die Klappe, Mike!« Georgina nahm ihr Smartphone vom Ohr und lauschte.
Das Geräusch kam aus dem Truck, in dem die Arrestzellen eingerichtet waren. Durch den Fensterschlitz drang jetzt nur noch schweres Atmen. Nach Georginas Kenntnis war Gina Hines momentan die einzige Insassin in diesem provisorischen Zellentrakt. Die Kollegen von der Homeland Security hatten sie verhört, zuerst Harvey und danach Barbara Watts, die Psychologin. Georgina mochte diese Frau nicht. In ihren Augen war sie gefühlskalt und überheblich. Was passierte hier mit Gina Hines? Wurde ihr Gewalt angetan? Harvey war schon längst wieder in die Einsatzzentrale zurückgekehrt, danach hatte diese Watts von einem Lügendetektortest geredet und war seitdem verschwunden.
»War dieser Mann schon einmal bei Euch zu Hause?« Das war die Stimme von Barbara Watts. »Hat dieser Mann Deinen Muhammed besucht? Los, rede endlich!«
»Ich…. ich weiß es nicht! Da waren Pferde…. zwei Pferde!«
Georgina musste sich anstrengen, um Ginas müde Stimme und ihr wirres Gerede durch die Außenwand des Fahrzeuges überhaupt zu verstehen. Hatte sie das richtig verstanden? Pferde? Ihren schmachtenden Lover warf sie einfach aus der Leitung und schaltete ihr Handy wieder komplett aus.
»Konzentrier' Dich gefälligst! Meinst Du mir macht das Spaß?«
Anstatt zu antworten ließ Gina einen gellenden Schrei los. »Hören Sie auf damit!«, flehte sie mit zitternder Stimme.
Georgina war bei dem Schrei unwillkürlich zusammengezuckt. Mit was sollte Barbara Watts aufhören? Was zum Teufel ging da drin vor?
»Ich will keine Spritze mehr!«
»Die eine noch, dann schläfst Du wie ein Murmeltier. Also wehr' Dich nicht, sonst hole ich den Wachmann rein.«
»Georgina!«
Das war Stephen!
Georgina beeilte sich, aus dem dunklen Zwischenraum, den die parkenden Trucks bildeten, zum Eingang der Einsatzzentrale zurückzukehren. Erst als sie sicher war, im Innern des Zellentrucks nicht gehört zu werden, antwortete sie: »Ja, ich komme!«
»Im Castle geschieht etwas, was wir anhand der Satellitenbilder nicht interpretieren können. Crain meint, dass die Geiseln gefoltert werden!« Der ansonsten so abgebrühte Morris klang nervös und aufgeregt, bemerkte aber, dass Georgina sich eigenartig verhielt. »Was ist los?«
»Nichts«, antwortete sie, »Gar nichts. Ich musste nur mal an die frische Luft. Ich sitze seit zehn Stunden vor den Monitoren.«
»Was machen die mit uns? Das sind doch keine Menschen!«, schluchzte Lynn, während Annie geistesabwesend vor sich hinstarrte.
»Ich bin froh, wenn morgen alles vorbei ist«, sagte sie tonlos und leise.
»So dürfen Sie nicht denken!«, entfuhr es Lynn, »sie werden es nicht zulassen, dass eine Amerikanerin auf amerikanischem Boden von diesen Barbaren hingerichtet wird.«
»Wen meinen Sie mit 'sie'? Die Marines, das FBI oder Amnesty International? Merken Sie nicht, was hier los ist? Ich habe zwar keine Uhr, aber mein Zeitgefühl sagt mir, dass wir schon seit über zwölf Stunden hier festsitzen. Und was ist seither passiert? Nichts! Ich werde morgen unter den Augen der Weltöffentlichkeit gesteinigt. Das Video davon wird sicher genauso häufig angeklickt wie die Filmsequenz von dem Flugzeug, das in den Südturm kracht.«
Lynn schwieg. Annie hatte recht. Mit einem Ruck wurde die Tür geöffnet und die willenlose Moira in den Raum gestoßen. Sie fiel zu Boden und blieb regungslos liegen. Lynn hatte nur einen hasserfüllten Blick für das Flittchen übrig. Ihre Lügen hatten ihrem Henry den Job gekostet. Das konnte und wollte sie nicht vergessen, egal wie es ihr in diesem Augenblick ging. Annie erhob sich und ging neben Moira in die Hocke.
»Er hat geblutet! So furchtbar geblutet!«, brachte Moira schließlich mit erstickter Stimme hervor.
»Wer?«, fragte Annie, obwohl sie sich denken konnte, dass diese Bastarde das Fotomodel auf den dicken Fotografen angesetzt hatten, so wie Lynn und sie ihre Ehemänner züchtigen sollten.
»War es Randy?«
Moira nickte.
»Du hattest keine andere Wahl. Uns haben sie auch gezwungen, unsere Männer auszupeitschen.«
Die beiden Frauen lagen sich in den Armen. Annie, die angesichts ihrer bevorstehenden Exekution sowieso keinen Schlaf gefunden hätte, war froh, jemanden zum Reden zu haben. Mit Lynn konnte sie dies nicht. Sie wusste auch nicht warum. Moira mochte den Eindruck haben, von ihr getröstet zu werden. In Wirklichkeit war es Annie, die sich in Todesangst an Moira klammerte.
***
Es war kurz vor Mitternacht, als Kriegsminister Lindley Miller Garrison das Oval Office betrat. Aus gegebenem Anlass hatte Präsident Woodrow Wilson ihn zu einem Vieraugengespräch bestellt, das keinen Aufschub duldete.
»Wir haben noch keine genauen Zahlen«, begann Wilson, »aber wir müssen davon ausgehen, dass die meisten der über hundert amerikanischen Staatsbürger, die sich an Bord der Lusitania befanden, ums Leben gekommen sind. Die schlimmste Schiffskatastrophe seit dem Untergang der Titanic.«
»Dieses Kriegsverbrechen verlangt nach einer klaren Antwort«, drängte Garrison nachdem er kurz innegehalten hatte. »Mit Verlaub, Herr Präsident, wir müssen in den Krieg in Europa eingreifen. Uns bleibt keine andere Wahl.«
»Wirklich?« Wilson zog die Augenbrauen hoch. »Sie wissen, dass ich ein strikter Verfechter der Neutralitätspolitik bin. Im kommenden Jahr steht meine Wiederwahl an und ich möchte nicht, dass sich mein Land zu diesem Zeitpunkt im Krieg befindet.«
»Das deutsche U-Boot hat ohne Vorwarnung einen harmlosen Passagierdampfer angegriffen und zwei Torpedos kurz hintereinander abgefeuert!«, empörte sich der Kriegsminister. »Das ist eine schwere Verletzung des Seerechtes!«
»Wenn das so einfach wäre«, seufzte Wilson. »Mir liegen Informationen des Handelsministeriums vor, wonach die Lusitania nicht nur Passagiere befördert hat. Sie hatte in nicht unerheblichen Umfang Waffen und Munition an Bord. Es könnte durchaus sein, dass die zweite Explosion keineswegs ein Torpedo war, sondern dass die gesamte Ladung in die Luft geflogen ist.«
»Die Engländer hatten versprochen, das Seegebiet südlich von Irland abzusichern und der Lusitania einen Kreuzer entgegenzuschicken.«
»Und wo war dieser Kreuzer?«, wollte der Präsident wissen.
»Wir werden eine Untersuchungskommission einrichten«, parierte Garrison eifrig und pflichtbewusst, »soweit wir wissen, wurde das Kriegsschiff in der Nacht vor dem Angriff in den Hafen von Queenstown zurückbeordert.«
»Feigheit vor dem Feinde, nenne ich so etwas!«, ereiferte sich Wilson. »Nennen Sie mir einen Grund, warum wir uns für diese Hasenfüße in einen Krieg hineinziehen lassen sollten! Es würde mich nicht wundern, wenn diese Kommission herausfindet, dass die Admiralität die Lusitania absichtlich vor die deutschen Torpedorohre gelotst hat, nur um uns einen Grund für den Kriegseintritt auf dem Tablett zu präsentieren.«
»Das ist noch nicht alles.« Garrisons Selbstbewusstsein wich einem unterwürfigen Ton. »Vor zwei Wochen hatten wir das Projekt 'Pandora' erörtert. Sie erinnern sich?«
»Und ob ich mich daran erinnere!«, rief Wilson ungehalten. »Ich war nicht sehr angetan von der Idee, das Teufelszeug den Briten zur Verfügung zu stellen. Und der britische Marineminister - Churchill heißt er, glaube ich, - war es übrigens auch nicht. Dennoch hatten wir uns darauf geeinigt, dass ein Kurier eine Probe nach England bringen soll.«
»Genau! Und dieser Agent befand sich an Bord der Lusitania.« Mit diesen Worten legte der Kriegsminister ein Schreiben auf Wilsons Schreibtisch.
»Das darf nicht wahr sein!« Wilson raufte sich die Haare, während er das Dokument überflog. »Gibt es davon eine Abschrift?«
»Nein.«
»Gut. Die Angelegenheit ist streng geheim. Sie sprechen mit niemandem darüber! Ich werde dieses Schriftstück persönlich versiegeln und im US-Schatzamt hinterlegen lassen. Sie sind mein Zeuge.«
»Ja, Mr. President.«
»Was wissen wir über das Schicksal des Agenten?«
»Nichts«, gab Garrison kleinlaut zu. »Wir haben dem Agenten einen Bewacher zur Seite gestellt. Aber auch von diesem haben wir seit dem Untergang nichts gehört. Sollten die beiden unter den Toten sein, so können wir nur hoffen, dass sie mit der Lusitania untergegangen sind.«
»Und was, wenn nicht?«
»Dann Gnade uns Gott!«
***
In der Einsatzzentrale hatte jeder seine eigene Methode entwickelt, die Symptome des Schlafentzuges zu bekämpfen. Georgina hatte die Packung mit den Koffeintabletten offen neben die Tastatur gelegt. Harvey empfand Müdigkeit als Schwäche, die es zu verstecken galt. Permanent bewegte er die Zehen in seinen Schuhen, um die Durchblutung zu fördern und gegen Wadenkrämpfe anzukämpfen.
Die von den Satelliten in Echtzeit gelieferten Bilder ließen den Schluss zu, dass auf dem Schloss wieder Ruhe eingekehrt war – trügerische Friedhofsruhe! Einer der Terroristen hatte wieder Stellung auf einem der Türme bezogen. Georgina hatte auch diesen rot markiert – jetzt waren es schon zwei. Aber wer von diesen Lichtpunkten war Daniel Slatkin alias Abdul Sahir? Mit der Identifizierung der anderen drei Geiselnehmer war man immer noch nicht weitergekommen. Und was brachte die teure Satellitenüberwachung, wenn die Geiselnehmer jede Kontaktaufnahme ablehnten?
Georgina nutzte die Zeit, um weitere Recherchen anzustellen. Alle Anwesenden waren sich einig, dass die Terroristen über Insiderwissen verfügen mussten und mindestens einen Helfer gehabt hatten. Für Harvey und die Homeland Security war Gina Hines die Hauptverdächtige. Lagen sie damit richtig? Das, was Georgina zufällig während ihrer Pause gehört hatte, stimmte sie skeptisch. Hatten Austin Harvey und Barbara Watts die Frau gefoltert, ihr Drogen verabreicht oder andere unerlaubte Verhörmethoden eingesetzt?
Was war mit den anderen Mitarbeitern? Georgina ging die Liste durch. Da war Fernando Llorente, der Gärtner. Ledig, seit drei Jahren beim Hearst Castle beschäftigt. Laut Stechuhr und Arbeitsplan hatte er zum Zeitpunkt der Geiselnahme im Schlossgarten gearbeitet und musste danach auch in Geiselhaft gelangt sein. Jedenfalls war er als Gefangener auf den Videos zu sehen. Warum war er nicht geflohen? Warum hatte er sich nicht versteckt? Diese Fragen ließen ihn unweigerlich ins Visier der Datenanalystin geraten.
»Komm Fernando, gib mir Deine Geheimnisse preis!«, flüsterte Georgina in Richtung des Monitors. »Ich bekomme sie sowieso heraus.« Die polizeilichen Datenbanken enthielten keine Einträge, wenn man von vier Geschwindigkeitsübertretungen, neun Knöllchen wegen Falschparkens und dem einmaligen Trinken von Alkohol in der Öffentlichkeit einmal absah.
Nur gut, dass Fernando Llorente auf Facebook angemeldet war. Georgina warf nur einen kurzen Blick auf seine Seite. Erfahrungsgemäß errichteten sich die meisten Personen hier ein ihren Wunschvorstellungen entsprechendes digitales Luftschloss ein und posteten Scheinheiligkeiten, um diese unverzüglich mit ihren Pseudofreunden zu teilen.
Aber der Weg ins digitale Familienleben eines jeden Bürgers führte über den Zuckerberg. Das blaue Imperium hatte keine Ahnung, dass das FBI Zugang zu sämtlichen Passwörtern hatte.
In seinem Haus befand sich Fernandos Rechner nur im Schlafmodus. Nicht mehr lange! Georgina leitete das Signal auf einen ihrer Monitore um. Sie übernahm nun die Steuerung, als würde sie bei ihm zuhause am Computer sitzen. Obwohl sich Fernando Llorente gegenwärtig in Geiselhaft befand, war er nun auf Facebook eingelogt. Zehn schwarze, feingliedrige Finger huschten über die Tastatur und wenige Augenblicke später hatte Georgina eine Liste von Webseiten, über die sich der Gärtner, weil es ja so bequem war, über seinen Facebook-Account angemeldet hatte.
»Sieh an, sieh an«, schmunzelte Georgina, nachdem sie einen ganzen Unterordner mit Schmuddelfilmchen auf seiner Festplatte gefunden hatte, »Du kleiner perverser Spanner!«
»Was schaust Du da gerade?«, fragte Stephen Morris etwas erstaunt über das, was er auf dem Bildschirm seiner Kollegin sah. »Ich wusste gar nicht, dass Du auf so etwas stehst.«
»Du weißt so manches nicht von mir, Stephen«, hauchte Georgina.
Die beiden betrachteten ein Video in amateurhaft schlechter Qualität. Es zeigte eine junge Frau, die sich in einem Badezimmer auszog und anschließend hinter dem Duschvorhang verschwand. Die verschwommenen schwarzen Bildränder deuteten darauf hin, dass die Kamera in einem Wäschekorb oder unter einem Stapel Handtücher versteckt war. Beim Betrachten des Videos hatte man nicht den Eindruck, dass dem jungen Ding bewusst war, dass sie von nun an weltweit unzähligen Spannern als Wichsvorlage dienen würde.
»Ist die Kleine volljährig?«, fragte Morris.
»Kann sein – kann nicht sein«, meinte Georgina.
»Hat Fernando Llorente diesen Film selbst aufgenommen?«
»Nicht unbedingt. Es gibt Foren, wo solcher Dreck getauscht wird.«
»Damit wäre der Gärtner erpressbar.«
»Ich werde mir als nächstes seine e-Mails und seine Chat-Protokolle vornehmen, dann wissen wir mehr.«
»Die Schweine haben gerade ein neues Video hochgeladen!«, unterbrach Ethan Crawford. Alle Anwesenden starrten gebannt auf den großen Bildschirm.
Der vollbärtige Daniel Slatkin, der sich Abdul Sahir nannte, rückte das Mikrofon zurecht und kam sofort zur Sache: »die männlichen Geiseln haben einen feigen Fluchtversuch unternommen. Dafür wurden sie bestraft.«
In der nun folgenden Einstellung war Clive Osbourne nackt an einen Stuhl gefesselt, wobei sein Rücken über die Lehne gebeugt war. Jemand hielt ein Stück Pappe mit seinem Namen in die Kamera. Abdul Sahir führte die Peitsche, die mit voller Wucht auf den Kriegsveteran niederging und seine Rückenhaut zerfetzte. Osbourne bekam fünf Hiebe, bereits nach dem zweiten hörte er auf zu schreien.
Barbara Watts begann, ihren Beruf zu hassen. »Stellt das ab!«, hätte sie am liebsten gerufen, aber als Kriminalpsychologin musste sie sich das bis zum Ende ansehen.
Randy Stephens, dem Fotografen, erging es nicht besser. Bestürzt und verwundert mussten die Ermittler feststellen, dass es diesmal Moira Marnell, sein Fotomodell war, die die Peitsche schwang und das offensichtlich mit gleicher Kraft wie ihr Vorgänger. War sie dazu gezwungen worden?
Die Frage beantwortete sich von selbst, als in der nächsten Einstellung Annie Patterson zu sehen war, wie sie nach der Aufforderung, fünf Hiebe auszuführen, kreischend die Peitsche auf den Boden warf.
»Du hebst jetzt sofort die Peitsche auf und tust, was ich Dir gesagt habe, oder Du wirst an seiner Stelle ausgepeitscht und wirst Deine Tochter nie wieder sehen«, entgegnete Abdul mit bedrohlicher Gelassenheit.
»Die haben die Kinder von ihren Eltern getrennt und setzen sie damit zusätzlich unter Druck!«, entfuhr es Barbara.
Jetzt war zu sehen, wie Annie sich nach der Peitsche bückte und ihren Mann Ron damit traktierte.
»Was war das denn?«, brüllte Abdul, »Du sollst ihn schlagen, nicht streicheln.«
»So macht man das!« schrie Abdul, nachdem er den nächsten Hieb selbst ausgeführt hatte. »Jetzt kommt Schlag Nummer zwei. Dein Erster zählt nicht. Denk an Deine Tochter!«
Nun folgte die Szene, in der Annie einen weiteren Hieb ausführte und heulend zu Boden ging.
»Du blödes Weib!«, schrie Abdul und ließ die Peitsche auf die traumatisierte Frau niederknallen, um anschließend dem wie ein Tier brüllenden Ron Patterson die nächsten drei Hiebe zu verpassen.
Im Hintergrund war zu hören, wie seine Frau schrie: »Aufhören! Aufhören!«
»Das ist ja Wahnsinn!«, kommentierte FBI-Director Crain diese Szene. Keinen der abgebrühten Ermittler ließen diese Bilder kalt.
Nun war Lynn Holford zu sehen, die schockiert auf etwas starrte, was nicht im Bild zu erkennen war.
»Verpasse ihm fünf Hiebe und Du wirst Deinen Sohn sehen«, versprach Abdul und hielt ihr die Peitsche hin.
Die nächsten Sequenzen zeigten Lynns Weigerung, die Peitsche auch nur in die Hand zu nehmen. Danach folgten Abduls erster Peitschenhieb und Lynns Zusammenbruch.
Wie ein Besessener hieb er anschließend auf sein Opfer ein und blickte anschließend in die Kamera: »Ich will in den Nachrichten sehen, dass Guantanamo geschlossen worden ist. Vom Turm aus können wir die Landepiste sehen. Dort steht morgen früh ein Flugzeug. Wenn nicht, erfolgt die erste Hinrichtung.« Damit endete das Video.
»Das Video ist schon über hunderttausendmal angeschaut worden. Zum Kotzen!«, ekelte sich Harvey.
»Sie haben nur die Besucher bestraft. Die Angestellten haben sie verschont«, ergänzte Barbara Watts.
»Nur einem ist die Flucht gelungen«, sagte Morris. »Wir haben ihn noch nicht gefunden, aber jetzt wissen wir wenigstens, dass es einer der Angestellten sein muss.«
»Wir müssen ihn finden«, drängte Harvey. »Ich bin mir sicher, dem ist nicht die Flucht gelungen. Die haben ihn laufen lassen.«
»Jean Jacques Berson, der Busfahrer, Martin Frazer, der Fremdenführer oder ….«
»…. Fernando Llorente, der Gärtner«, vervollständigte Georgina Stephen Morris' Aufzählung und dachte an das, was sie gerade erst über ihn herausgefunden hatte.
»Du blöde Kuh! Ich bring Dich um!« Linda schrie ihre Mutter an und hob den zertretenen Lippenstift auf. Die schwarze Paste hatte den Teppichboden ruiniert.
»Werd' endlich vernünftig!«, schrie Annie, »wie kann man sich nur so verunstalten!«
»Du bist nicht mehr meine Mutter!«
Annie wachte schweißgebadet auf. Trotz der bedrohlichen Extremsituation, der sie ausgesetzt war, musste sie kurz weggenickt sein. Sie schaute sich um. Der Deckenleuchter brannte die ganze Nacht. Ihre beiden Mitgefangenen schliefen. Wie konnten sie nur! Annie zitterte. Sie blickte aus dem Fenster in die pechschwarze Nacht. Dämmerte es bereits?
Linda! Jetzt kam ihr wieder der Traum in den Sinn, den sie während ihrer kurzen Schlafphase gehabt haben musste. In einem Wutanfall hatte sie den Gothic-Lippenstift ihrer Tochter zertreten. Das war schon fast ein halbes Jahr her. Der schwarze Fleck auf dem Teppichboden ließ sich nicht mehr entfernen und erinnerte täglich an diesen Mutter-Tochter-Zwist.
Linda! Was hatten diese Unmenschen mit ihr gemacht? Ihr Mann Ron war ausgepeitscht worden – trotz ihrer Weigerung. Sie selbst hatte einen Peitschenhieb kassiert, der immer noch schmerzte. Hätten diese Schweine sie zu ihrer Tochter geführt, wenn sie gehorcht und Ron die fünf Hiebe versetzt hätte?
Paradoxerweise war es Linda gewesen, die den Ausflug in dieses verfluchte Schloss vorgeschlagen hatte. Sie sollte eine Hausarbeit in Geschichte anfertigen. Ron war begeistert über diesen Vorschlag, sie war es weniger. Überhaupt hatte ihr zweiter Ehemann einen guten Draht zu seiner Stieftochter. Erst seit neun Monaten waren sie verheiratet – Hals über Kopf. Linda hatte das anfangs nicht verkraftet und hatte die Flucht in die Gothic-Szene angetreten. Aber dann hatte sie sich gefangen. Rons Einfluss auf ihre Tochter wuchs und wuchs. Überhaupt war Ron ein Meister darin, Menschen zu manipulieren. Für kurze Zeit war in ihr der Verdacht aufgekeimt, ihr neuer Ehemann würde ihre Tochter missbrauchen. Aber dann kehrte sich diese Vermutung in das Gegenteil: in der Nachbarschaft kursierten Gerüchte, dass Ron ein außereheliches Verhältnis hatte – mit einem Mann! War ihr Mann bisexuell oder war sie nur die Alibifrau eines schwulen Arztes, der in der Klinik den Schein wahren wollte? Sie begann, ihn zu hassen. Aber auspeitschen konnte sie ihn deshalb dennoch nicht.
Annie zuckte zusammen, als die Tür aufgerissen wurde. Zwei von Abduls Helfern kamen wortlos herein. Einer ließ die Ketten rasseln. Moira und Lynn schreckten hoch. An einer langen Kette waren Ledergürtel fixiert, an den Enden der kurzen Ketten befanden sich Fußschellen. So waren die Frauen schon gestern angekettet worden, als sie mit dem Bus zu den Raubtierkäfigen fuhren. Jetzt also wurden sie zur Richtstätte geführt – zu Annies Hinrichtung!
»Nein!«, schrie Annie, »Nein!«
Der Mann, der die Ketten getragen hatte, schlug ihr ins Gesicht und drückte sie zu Boden, während der andere die Fußfesseln anlegte.
Mit versteinerter Miene kam Harvey zurück in die Einsatzzentrale. Er war nach draußen gegangen, um ungestört mit dem Krisenstab im Weißen Haus zu telefonieren.
»Und?«, fragte Crain ungeduldig.
»Die Regierung lässt sich nicht von Terroristen erpressen. Das hat mir der Präsident höchst persönlich gesagt.«
»Das war nicht anders zu erwarten. Deswegen hätten Sie nicht anrufen brauchen« Jetzt wurde Crain ungehalten. »Es wäre aber nicht zu viel verlangt, ein Flugzeug auf die Landebahn zu stellen. Und ein Fakefilm über die Freilassung der Guantanamo-Häftlinge könnte man den Terroristen zuspielen.«
»Das wäre für die Öffentlichkeit so, als würden wir nachgeben«, konterte Harvey. »Das würde Nachahmer auf den Plan rufen und im Nu hätten wir im ganzen Land das Chaos. Die Regierung lässt sich nicht demütigen!«
»Aber die Geiseln, die werden gedemütigt - öffentlich!« Crain war außer sich.
»Damit schaden sich die Terroristen nur selbst«, antwortete Harvey ruhig und sachlich, »und es schürt den öffentlichen Hass auf diese Leute.«
»Ist es das, was Sie wollen? Wollen Sie, dass im ganzen Land Moscheen, Gebetsräume und Geschäfte von Muslimen in Flammen aufgehen?«
»Wenn Sie es genau wissen wollen: ja, das ist genau das, was wir wollen!«
Die Anwesenden hatten keine Zeit, sich über Harveys Äußerung zu empören.
»Die Geiseln werden abgeführt!«, rief Georgina und unterbrach damit den Disput der beiden Führungskräfte der Homeland Security und des FBI.
»Wo werden sie hingebracht?«, fragte Ethan Crawford erregt.
»Zu dem Bus, wie es aussieht«, antwortete Georgina betroffen, »die Geiseln laufen dicht an dicht in einer Reihe. Sie sind angekettet!« Nur so war das zu interpretieren, was die Satellitenbilder hergaben.
»Wo wollen sie hinfahren?«, fragte Crain verwundert, »die einzige Straße führt hier zum Besucherzentrum.«
»Vielleicht hierhin.« Georgina deutete auf die Betonbauten unterhalb des Castles.
»Was befindet sich dort?«
»Freigehege«, erklärte Georgina.
»Käfige?« Director Crain verstand gar nichts mehr.
»William Hearst hatte einen Privatzoo«, erläuterte Ethan Crawford. »Wahrscheinlich ist dort gestern das Loch gegraben worden. Das würde erklären, warum wir anhand der Bilder den Ort nicht lokalisieren konnten. Wir hatten die Standbilder des Videos mit den Mauern im Schloss abgeglichen. An die Gehege hat keiner gedacht.«
»Wann geht die Sonne auf?«, wollte Barbara Watts wissen.
Morris schaute auf die Uhr: »In knapp einer Stunde. Hinrichtung im Morgengrauen! Eines muss man den Ziegenfickern lassen: Sie halten ihr Versprechen.«