Kapitel 4

»Wach auf, mein Schatz.« Die Stimme meiner Mutter riss mich aus dem Schlaf. »Wir sind zu Hause.«

»Und schau mal, wer hier ist«, sagte Dad. »Überraschung!«

Decker saß auf der Treppe zum Hauseingang, neben ihm lag eine Schaufel. Der frisch gefallene Schnee lastete schwer auf dem Gras, aber unser Bürgersteig war freigeräumt. Unser stahlgraues Haus wirkte vor der weißen Einfahrt noch düsterer. Von der Dachrinne des Windfangs hingen kleine Eiszapfen herab, die wie scharfe Zähne aussahen. Das Haus wartete darauf, mich zu verschlingen.

Decker öffnete die Autotür auf meiner Seite und streckte mir seinen Arm entgegen.

»Hab ihn«, sagte ich, während ich mich nach oben zog, ganz vorsichtig, damit ich meinen Brustkorb nicht mehr bewegte als unbedingt nötig.

Als ich in der Einfahrt stand, fiel mir als Erstes meine Haut auf. Sie fühlte sich ganz normal an, kein Ziehen, kein Zerren, kein Reißen. Nichts. Vielleicht hatte meine Mutter mit ihren Thesen über Krankenhaus und Kranksein ja Recht gehabt.

»Hol das Gepäck, Ron«, rief Mum meinem Vater zu. »Ich nehme die beiden mit rein.« Sie schenkte Decker ein strahlendes Lächeln und küsste mich auf die Stirn, bevor sie die Haustür aufschloss. »Komm rein, ab jetzt wird alles wieder wie früher.«

Ich blieb im Flur stehen. Das Haus war blitzsauber, aber es roch abgestanden. Meine Abwesenheit hatte unserem Zuhause das Leben genommen, zurückgeblieben waren nur Holz und Putz. Aus mehr besteht ein Haus ja eigentlich auch nicht.

»Komischer Geruch«, sagte Decker, der wie immer kein Blatt vor den Mund nahm.

»Ich backe ein paar Kekse, das wird die Räume schön aufwärmen«, sagte Mum.

Decker brachte mein Gepäck nach oben, während ich mich mental darauf vorbereitete, die Treppe hochzugehen. Er kam wieder runter und legte mir eine Hand um die Taille. »Ich trag dich«, sagte er.

»Mach dich nicht lächerlich.«

Decker war zwar größer als ich, aber definitiv schmaler. Irgendwann im letzten Jahr hatte ich zu wachsen aufgehört. Einfach so. Mein Limit war erreicht. Nicht gerade Modelgröße, aber immerhin. Seitdem war ich nur noch in die Breite gegangen. Die Mädchen in der Umkleidekabine hatten sich nicht gerade leise darüber unterhalten, wie fett sie mich fanden. Aber ich hatte auch die Jungs nicht gerade leise sagen hören, dass ich ein ziemlich heißer Feger geworden sei. Ein schmaler Grat.

»Willst du andeuten, ich wäre ein Schwächling?«

Decker war zwar dünn, aber muskulös. Ideal fürs Laufen. Ideal fürs Basketballspielen in der Sporthalle, während er darauf wartete, dass ich mit meiner Recherche in der Bibliothek fertig wurde. Ideal, um wendig zu sein und die Balance zu halten, um nicht in den See zu fallen. Nicht ideal, um mich und meinen dicken Hintern die Treppe hochzuschleppen.

Ich lächelte ihn an und legte meine Hand flach auf seine Wange. »Es liegt nicht an dir, sondern an mir.« Dann umklammerte ich das Treppengeländer, atmete tief ein und zog mich hoch. Es fühlte sich ziemlich unangenehm an, tat aber kaum weh. Oben angekommen, schenkte ich Decker ein breites Lächeln. »Siehst du? Keine bleibenden Schäden.«

Er wirkte nicht gerade überzeugt.

Mein Zimmer sah aus wie vorher. Die Wände waren in einem zarten Lavendelblau gestrichen, was mir plötzlich kindisch vorkam. Die Englischhausaufgaben lagen noch am Rand meines Schreibtischs. Das Planeten-Mobile, ein Mittelstufenprojekt von Decker und mir, hing über meinem Bett. Ich hatte ihn gebeten, es mir zu überlassen. Auf weißen Regalbrettern standen Pokale und Medaillen für besondere schulische Leistungen und gerahmte Familienfotos. Urkunden von Forscherwettbewerben waren an die Wände gepinnt. Ein Foto von Decker und mir aus dem Jahrbuch hing über meiner Kommode, gleich rechts neben dem Spiegel.

Decker sah mir zu, wie ich die Wände betrachtete. »Alles klar?«, fragte er.

»Es kommt mir vor, als wäre ich nie weg gewesen.«

Der Geruch von Schokoladenraspeln und Macadamianüssen drang nach oben, während ich meine Klamotten im Schrank verstaute. Decker begann die zweite Tasche auszupacken. Er stopfte die Genesungskarten in die Schreibtischschubladen, in denen er Platz fand. Ich musste das später in Ordnung bringen, aber ich beschwerte mich nicht. Meine Bücher stapelte er auf dem Schreibtisch zu einem gefährlich schwankenden Turm. Eine unbedachte Bewegung und mein Französischbuch würde die Lampe zu Boden reißen. Ich nahm die Bücher, eines nach dem anderen, und trug sie zum Bücherregal, um sie dort akkurat einzuordnen.

»Sag mir, was ich machen soll«, bat Decker.

»Es geht schneller, wenn ich es selber mache.« Ich schob »Catch-22« in eine Lücke bei »H«.

»Um das Alphabet zu beherrschen, muss man kein Hirnchirurg sein«, sagte er. »Lass mich mal ran.«

Er schlang die Arme von hinten um meine Taille und zog mich zurück.

»Es geht mir gut. Ich habe meine Schmerztabletten genommen. Rumzusitzen und nichts zu tun macht mich krank.« Ich drehte mich um, sodass ich ihm ins Gesicht sehen konnte, seine Arme ließen nicht los.

»Hör mal …«

»Delaney?« Mum öffnete die Tür und Decker ließ mich los. »Du hast Besuch.«

Der Flur hinter ihr war voller Leute. Sie waren alle gekommen, aber ich war müde und erschöpft. Ich gab einen tiefen und genervten Seufzer von mir, der mein Französischbuch locker vom Tisch hätte pusten können. Zum Glück hatte ich vorgesorgt.

»Versuch einfach, nett zu sein«, flüsterte mir Decker ins Ohr. »Sie haben sich Sorgen gemacht.«

Ich warf ihm einen raschen Blick zu, der Ich bin immer nett signalisieren sollte, doch der Blick war ganz und gar nicht nett, was die Nachricht ins Gegenteil verkehrte.

Carson und Janna setzten sich auf mein Bett. Kevin, Justin und Decker stießen zur Begrüßung die Fäuste gegeneinander und machten es sich dann auf dem Fußboden bequem.

»Unser Mädchen sieht gut aus!« Carson klopfte mit der Hand auf das Bett, eine Aufforderung, mich neben ihn zu setzen.

Carson und ich auf einem Bett, das war irgendwie peinlich, besonders seitdem mir klar geworden war, dass alle über die Sache bei Decker zu Hause Bescheid wussten. Ich blickte zu Decker. Meinte er das mit nett sein? Doch Decker schaute zu Carson, und auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck, den ich nicht deuten konnte. Ich seufzte und quetschte mich zwischen Carson und Janna.

Carson beugte sich zu mir und küsste mich, ein feuchter Schmatzer, der halb auf meinem Mund und halb auf meiner Wange landete. Decker starrte auf meine Lippen, als könnte er dort den Abdruck von Carsons Mund erkennen. Ich dagegen konnte ihn fühlen. Die feuchte Stelle wurde immer kälter und ich hätte mir am liebsten die Lippen mit der Hand abgewischt, aber das wäre nicht nett gewesen. Deshalb saß ich einfach da und ertrug den lästigen klebrigen Fleck, den Carson auf meinem Gesicht hinterlassen hatte. Ich spürte, wie mir die Hitze den Nacken hinaufkroch.

»Mensch, Delaney«, sagte Carson, »ich habe echt gedacht, du wärst tot. Stell dir das vor! Ich, der Letzte, der Delaney Maxwell geküsst hatte. Jeder hätte Mitleid mit mir und die Mädels würden Schlange stehen, um mich zu trösten.« Er lächelte mich mit seinem Killerlächeln an.

Nur Carson konnte es sich erlauben, einen Witz zu machen, in dem im gleichen Satz sowohl mein Tod als auch das Aufreißen von Mädchen vorkamen. Ich lächelte sogar. Ich war richtig nett und musste mich noch nicht mal dazu zwingen.

»Du bist echt widerwärtig, weißt du das?« Janna schob sich an mir vorbei und gab ihrem Bruder einen Klaps auf den Hinterkopf. »Aber egal. Delaney, wenn du Hilfe bei den Abschlussprüfungen brauchst, ruf mich einfach an.«

Carson rieb sich den Kopf. »Janna, du bist so ein Nerd. Mal im Ernst, sie lag gerade noch im Koma und du denkst an ihre Noten, du Freak.« Doch er lächelte, während er das sagte. Obwohl sie grundverschieden waren, nahm Carson seine Schwester überallhin mit. Er sicherte ihren Platz in der Hackordnung, egal, wie streberhaft sie war.

»Kommt ihr dieses Jahr zu meiner Party am Bootshaus?« Justin lehnte den Kopf an meine lavendelblaue Wand. Er war ein schlaksiger Typ, nichts Besonderes. Warum hatte er dann eine solche Ausstrahlung? Vielleicht war es die Nähe zu Carson, Kevin und Decker. Vielleicht färbte ihre Ausstrahlung auf ihn ab. Fanden die Mädchen ihn nur süß, weil er in der Clique war?

»Oh, ich denke nicht …«, murmelte ich.

»Was? Du musst kommen«, sagte Carson. »Du wirst das Gesprächsthema Nummer eins sein.«

»Genau«, bekräftigte Justin, »du musst kommen. Das ist das Mindeste.«

Dann grinsten alle und sprachen darüber, wer eingeladen war, wer was mitbringen sollte und wer aus dem College da sein würde. Und dann begriff ich es: Ich war ihre Trumpfkarte, ihre Trophäe, die sie präsentieren wollten. Und, wie Justin schon sagte, ich war es ihnen schuldig.

Dann platzte Tara Spano ins Zimmer. Sie war auch am See dabei gewesen, hatte aber bei der Rettungsaktion keine Rolle gespielt.

»Hi, Deck«, sagte sie und ging zu ihm hinüber. Sie berührte ihn am Arm und er schenkte ihr ein breites Lächeln. Offensichtlich war Deckers Ansehen stark gestiegen, nachdem er mich aus dem Wasser gezogen hatte. Nicht, dass Decker hässlich wäre. Er sah sogar richtig gut aus. Aber irgendetwas war neu.

Decker hatte dunkle Haare, ziemlich blasse Haut, tief liegende Augen und seine Mundwinkel waren immer leicht nach unten gezogen, außer wenn er lächelte. Aber so war er erst seit seinem ersten Jahr an der Highschool. Genauer gesagt, seit der zweiten Woche des ersten Jahres.

An einem Montagnachmittag hatte ich mich wie immer an der Bushaltestelle von ihm verabschiedet und am nächsten Morgen war er plötzlich ein anderer. Ich war sprachlos und konnte ihn nicht einmal begrüßen, sondern starrte ihn einfach nur an. Es war einer dieser total peinlichen Momente und ich fragte mich, seit wann Decker keine Schneeburgen mehr mit mir baute, sondern mich nur noch verschmitzt ansah und grinste, als wüsste er genau, was in meinem Kopf vorging. Ich erholte mich von dem Schock, indem ich an diesem Tag kein Wort mit ihm sprach. Und am folgenden Tag. Am Freitag hatte ich mich daran gewöhnt. Mädchen fanden ihn interessant und mir war klar geworden, warum. Ich hatte nur immer angenommen, Tara wäre eine Nummer zu groß für ihn.

Tara schaute zu mir, als wäre ihr erst jetzt aufgefallen, dass ich auch da war. Sie breitete die Arme aus. »Komm her zu mir!«, flötete sie.

Ich schaute Hilfe suchend zu Decker. Ich war kein großer Umarmer. Und auch kein großer Tara-Fan. Aber Decker riss die Augen auf und nickte in Richtung Tara. Ein unmissverständlicher Hinweis, dass das zum Nettsein dazugehörte. Ich stand auf und ging auf Taras weit geöffnete Arme zu.

»Ich hatte solche Angst um dich!«, sagte sie, obwohl sie weder im Krankenhaus gewesen war noch mir eine Karte geschickt hatte. Dann drückte sie mich und wiegte mich hin und her. Ich fühlte einen kurzen scharfen Schmerz an den gebrochenen Rippen, direkt über dem Herzen – und übergab mich. Der Krankenhaus-Wackelpudding und die Nicht-Krankenhaus-Pommes landeten auf Taras türkisfarbenem Pulli. Und dann brach ich zusammen. Vom Boden aus konnte ich sehen, dass mein Mittagessen sogar in den Spitzen von Taras langen dunklen Haaren klebte.

»Voll krass!«, meinte Carson anerkennend.

»Mrs Maxwell!«, rief Janna nach unten. »Delaney hat sich übergeben!«

Decker rannte sofort zu mir, schob die Hände unter meine Arme und half mir auf die Füße. »Alles okay?«, fragte er.

»Ja.« Ich sah zu Tara hinüber, ihr Unterkiefer zuckte. Sie bebte vor Wut, wusste aber genau, dass sie mich nicht anschreien durfte.

»Mein Gott, es tut mir so leid«, japste ich.

Als Tara begriffen hatte, dass alle sie anstarrten, tat sie genau das, was jedes vollgekotzte, aufmerksamkeitsgeile Mädchen tun würde, wenn attraktive Jungs in der Nähe waren: Sie zog sich aus. Unter ihrem Pulli trug sie ein hautenges weißes Top.

»Kein Problem«, sagte sie. »Aber sag mal, habt ihr vielleicht Shampoo?« Und dann lachte sie.

Mum kam ins Zimmer gerannt und untersuchte meinen Körper nach Schäden. »Delaney, was ist passiert? Ist dir übel? Hast du Kopfschmerzen? Alle runter in die Küche, es gibt Kekse.«

»Mir geht’s gut. Tara hat mich einfach zu fest umarmt.« Ich beglückwünschte mich. Dieser Vorfall hatte meine Aversion gegen Umarmungen noch bestätigt.

Ich griff nach einem frischen T-Shirt, putzte mir die Zähne und spülte mir den Mund mit Mundspülung aus. Dann ging ich zu den anderen nach unten.

Tara rieb sich die Haarspitzen mit meinem Badetuch trocken.

»Hier, Tara.« Ich warf ihr das graue Shirt zu.

Sie lächelte und kicherte gleichzeitig. »Oh, Delaney«, sagte sie und musterte mich langsam von oben bis unten, »wir haben doch nicht die gleiche Größe.«

Mir war nicht ganz klar, ob sie meinte, dass sie eine größere Oberweite hatte (was stimmte) oder ihre Taille schmaler war (was ebenfalls stimmte), aber im Großen und Ganzen trugen wir die gleiche Größe.

Halbnackt quetschte sie sich neben Decker, der sich gerade auf Mums Macadamiaplätzchen gestürzt hatte.

»Das«, sagte er und hielt einen angebissenen Keks in die Höhe, »habe ich am meisten vermisst.«

Sie mampften meine Plätzchen und amüsierten sich prächtig. Die Einzige, die sich nicht wohl in ihrer Haut fühlte, war ich.

»Also, mir geht’s nicht so gut«, sagte ich.

Nur Janna kapierte den Wink mit dem Zaunpfahl. »Okay, kein Problem. Los, Leute.« Sie gab jedem einen Klaps, das Zeichen für den Aufbruch. »Wir sehen uns. Und ganz im Ernst, ruf mich an.«

Dann gingen sie. Decker blieb auf der Couch sitzen und fixierte mich mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Schau mich nicht so an. Ich hab’s versucht. Aber beim Nettsein musste ich kotzen.«

»Es hat dir aber scheinbar nichts ausgemacht, zu Carson nett zu sein.«

Ich stopfte mir einen halben Keks in den Mund, damit ich nicht antworten musste. Das mit Carson war nichts, was ich öfter machte. Ehrlich gesagt, hatte ich es vorher noch nie gemacht. Ernsthaft. Nie. Und es war keine große Sache gewesen. Denn, wie Decker es so treffend ausgedrückt hatte, als er uns beim Knutschen auf seiner Wohnzimmercouch erwischt hatte: Carson Levine würde jede abschleppen.

Meine Eltern ließen mich sonst nicht auf Partys gehen, aber hier ging es schließlich um meinen siebzehnten Geburtstag. Deckers Geschenk für mich: eine Party. Nichts Großes, ein paar Leute aus der Schule, dazu die Typen vom See und Janna. Meinen Eltern hätte bestimmt nicht gefallen, dass es nicht nur coole Leute, sondern auch Alkohol gab. Perfekte Voraussetzungen, um seinen Siebzehnten zu feiern.

Irgendwann nach meinem zweiten Drink zog mich Carson ins Wohnzimmer. Ich lag unter ihm auf der Couch und seine Hände schoben gerade mein T-Shirt hoch, als uns Deckers Räuspern unterbrach.

»Sorry, Alter«, sagte Carson. Er sprang auf, warf mir ein verwegenes Grinsen zu und schlenderte mit einem »Man sieht sich, Delaney« in die Küche zurück, wo die anderen herumhingen.

Ich hatte mein T-Shirt wieder nach unten gezogen, konnte Decker aber nicht in die Augen sehen.

Er stieß ein raues Lachen aus. »Tja, das musste ja so kommen. Du bist das einzige Mädchen hier, das noch nichts mit ihm hatte.«

Ich warf ihm einen kurzen Blick zu und ging dann nach Hause.

Ich war vorher noch nie mit Decker auf einer Party gewesen, aber ich nahm an, dass er auch nicht besser war als Carson. Und jetzt starrte Decker mich an, als würde er auf eine Erklärung warten. Ich kaute weiter.

»Bleibst du zum Abendessen, Decker?« Mum hatte das Teppichspray in der einen und das Raumdeo in der anderen Hand.

»Heute nicht. Meine Eltern beklagen sich schon, sie wüssten gar nicht mehr, wie ich aussehe.« Und er ging, ohne ein weiteres Wort mit mir zu wechseln.

Ich verschluckte mich an den Kekskrümeln und winkte der zuschlagenden Schwingtür zu.

Ich wachte von dem Gefühl auf, als würde jemand mit einer Leine an meinen inneren Organen ziehen. Gleichzeitig breitete sich ein Jucken auf meinen Armen aus. Die Anzeige meines Weckers leuchtete rot, aber die Ziffern waren verschwommen. Ich rollte zur Seite, mit dem Gesicht so nah vor das Display, bis die Ziffern klarer wurden: 2:03.

Ich torkelte aus dem Bett und presste meine Wange an die kalte Fensterscheibe. Außen wurde das Fenster von Eisnadeln umrahmt, mein unregelmäßiger Atem ließ die Scheibe von innen beschlagen. Ich legte die Handflächen auf das Glas, atmete tief und versuchte, das Jucken und Ziehen rückgängig zu machen. Aber es breitete sich immer weiter aus. Und dann begannen meine Finger auf der Scheibe zu vibrieren. Es hörte sich an wie Regentropfen, die gegen das Fenster trommelten.

Ich zog meine Hände zurück und starrte auf das Haus der Familie Merkowitz am Ende der Straße. Es stand am Fuß eines Hügels. Als kleine Kinder waren Decker und ich immer den Hang hinabgerodelt und mitten in ihrem Garten gelandet. Wir brüllten wie wild herum, bis wir hörten, dass die Hintertür aufging. Und dann grinsten wir. Mr Merkowitz tat so, als wollte er uns vertreiben, indem er mit einer zusammengerollten Zeitung nach uns schlug. Mrs Merkowitz knuffte ihn zu unserer großen Freude seitlich am Kopf und gab uns Plastikschüsseln, die wir mit frischem Schnee füllen durften.

Decker und ich schaufelten Schnee in die Schüsseln, Woche für Woche, Jahr für Jahr, und gaben sie Mrs Merkowitz zurück. Sie bestreute den Schnee mit Zucker und Vanillearoma und lud uns zu einem winterlichen Festschmaus ein. Ich versuchte immer, den Schnee runterzuschlucken, bevor er geschmolzen war, aber jedes Mal kam hinten in meiner Kehle nur die kalte Vanillesuppe an. Nachdem Mr Merkowitz vor fünf Jahren an einem Herzinfarkt gestorben war, lud seine Frau uns nicht mehr ein. Kurze Zeit später hörten Decker und ich auch mit dem Rodeln auf.

Während des Sommers begleitete ein rollbarer Sauerstofftank Mrs Merkowitz auf ihren Wegen durch die Stadt. Im Kino stand das Wägelchen im Gang neben ihr und im Supermarkt fuhr es mit im Einkaufswagen. Alle sagten, es wäre nur eine Frage der Zeit, bis sie an ihrem Lungenemphysem sterben würde.

Durch mein Fenster sah ich, dass ihr Bürgersteig nicht freigeschaufelt war. Vor ihrer Tür häufte sich der frische Schnee. Ich wollte dort sein. Ich wollte den Schnee mit der Schaufel zu einem Haufen auftürmen, an ihre Tür klopfen und sie bitten, einen winterlichen Festschmaus zuzubereiten. Und bevor ich richtig wusste, was ich tat, wickelte ich mir einen Schal um, zog meine Stiefel an und ging nach draußen. Ich stand in der Einfahrt vor dem Haus, bis zu den Knien im Schnee, und fragte mich vage, was zur Hölle ich hier eigentlich machte. Ziemlich sicher würde Mrs Merkowitz um diese Zeit schlafen. Und doch bewegten sich meine Füße weiter in Richtung Dunkelheit.

Der Schatten eines Mannes huschte über ihre Veranda. Er fiel auf die Hausfront, verweilte kurz und verschwand dann hinter der Ecke. Mir lief es kalt den Rücken hinunter, aber trotzdem blieb ich nicht stehen. Ich spürte deutlich das Ziehen in diese Richtung. Ich überquerte die Straße und ging weiter.

Das Ziehen hatte mich genau hierher geführt. An der Hausecke war ein Schatten zu sehen, wo eigentlich kein Schatten sein sollte. Dort gab es keine Pflanzen in Kübeln, keine vergessenen Pakete, nichts, was im Licht des Mondes einen Schatten hätte werfen können. Ich ging direkt auf den Schatten zu. Nicht, weil ich neugierig war, ich konnte einfach nicht anders. Er setzte sich in Bewegung und ich heftete mich an seine Fersen – in Stiefeln, Flanellpyjama und mit einem Schal um den Hals.

Ich verfolgte den Schatten bis in den stockfinsteren Hinterhof, wo alles von immergrünen Pflanzen überwuchert war. Ich hörte Schritte vor mir und ging schneller. Ich musste wissen, wer das war. Wer mich näher zu sich zog. Ich blieb stehen, um mich noch einmal zu vergewissern, ob er noch da war, aber ich hörte nur meinen eigenen wild klopfenden Herzschlag – und dann Schritte direkt hinter mir.

Ich fuhr herum und streckte instinktiv die zuckenden Hände aus, um mich zu schützen.

»Delaney?« Mein Vater stand nur wenige Meter von mir entfernt. Er zog den Bademantel gegen die Kälte fester um sich.

»Hier ist jemand«, sagte ich und zeigte auf den dunklen Hinterhof. Auf die Gartenmöbel. Die verwaiste Veranda.

»Nein, du irrst dich«, sagte Dad.

Ich achtete nicht auf ihn und kletterte die Backsteinmauer hoch, um nach Spuren zu suchen. Ich spürte immer noch das Ziehen, das mich hergeführt hatte.

»Was machst du hier draußen?«, fragte Dad.

»Keine Ahnung. Ich konnte … einfach nicht schlafen.«

Er nickte. »Dr. Logan hat erwähnt, dass das passieren könnte. Komm mit heim.«

»Okay«, sagte ich, aber meine Füße gehorchten nicht.

Dad rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht und machte einen Schritt auf mich zu. Ich drehte mich um und starrte in die dunklen Fenster, auf den finsteren Hinterhof, und wünschte mir den Schatten zurück. Ich wusste, dass es total merkwürdig war, mitten in der Nacht auf dem schneebedeckten Rasen unserer Nachbarin zu stehen, ganz offensichtlich ohne Grund. Noch merkwürdiger war jedoch, dass ein Fremder mitten in der Nacht und ohne offensichtlichen Grund auf diesem Grundstück umherschlich. Ich fragte mich, ob der Schatten mich geweckt hatte. Vielleicht hatte mein Unterbewusstsein ihn gespürt. Ein Einbrecher vielleicht? Ein Spanner? Oder noch Schlimmeres?

»Jemand war hier«, wiederholte ich.

Dad antwortete nicht. Stattdessen hob er mich hoch, als wäre ich ein Kleinkind, und trug mich die Straße hinunter nach Hause. Auf der Wohnzimmercouch setzte er mich ab, aber ich stand sofort wieder auf, noch immer spürte ich das Ziehen.

»Ich mache uns heiße Schokolade«, sagte Dad.

Ich durchquerte das Wohnzimmer und zog die Vorhänge zur Straße beiseite. Die Nacht war absolut still. Zwischen unserem Haus und dem Ende der Straße schien ein Vakuum entstanden zu sein. Ich presste mein Ohr gegen die kalte Scheibe und bemühte mich, die Schritte zu hören. Der Mann – es war ein Mann, da war ich ganz sicher – musste sich inzwischen ein paar Häuser weiter durch den Schnee geschleppt haben. Ich hielt den Atem an, bis ich glaubte, das langsame, gleichmäßige Knirschen von Stiefeln im Schnee zu hören. Ich hörte es, aber ich wusste, dass es nicht wirklich da war.

Ich trat einen Schritt zurück und zog die Vorhänge wieder zu. Doch dann öffnete ich sie wieder. Im Haus an der Ecke bewegten sich die Vorhänge. Als ob jemand an ihnen vorbeihuschen, sie erst aufziehen und dann wieder zuziehen würde. Jemand, der schneller war als eine alte Frau mit einer Sauerstoffflasche.

»Dad, ich habe etwas gesehen«, sagte ich zitternd.

Er antwortete wieder nicht. Stattdessen rubbelte er meine Arme, bis das Piepen der Mikrowelle ihn in die Küche zurückrief.

Dad gab mir eine längliche weiße Pille, die ich aus dem Krankenhaus kannte.

»Zum Schlafen«, sagte er und führte mich zur Couch zurück. Er hielt mir den Becher mit der heißen Schokolade an die Lippen, denn meine Hände zitterten immer noch. Ich nahm ein paar kleine Schlucke. Das Getränk wärmte mich von innen, aber mein Magen sehnte sich nach Schnee mit Vanillegeschmack. Allein bei dem Gedanken lief mir das Wasser im Mund zusammen. Ich ertränkte die Sehnsucht mit heißer Schokolade.

Dann schaltete Dad den Fernseher ein. Wir schauten uns Dauerwerbesendungen an, bis das erste Dämmerlicht des Morgens das Wohnzimmer in einen dunklen Bronzeton hüllte und ich langsam wegdämmerte.