Ich fuhr zum Stadtrand, vorbei am Falcon Lake und den Häusern am Ufer. Ich nahm die Landstraße, auf der Decker und ich gestern Abend unterwegs gewesen waren. Die Straße ohne befestigten Seitenstreifen – nur Schotter, dann Erde, dann Wald. Hier hatten sich Menschen einen Weg durch die Natur gebahnt und versucht, etwas von Dauer zu hinterlassen. Wie lange würden die Bäume brauchen, bis sie alles wieder zugewuchert hätten? Bis ihre Wurzeln sich durch die Erde gebohrt und den Asphalt in die Höhe gewölbt hätten? Bis sie durchbrechen würden? Wie lange würde es dauern, bis alle Hinweise auf uns Menschen ausradiert wären?
Ich machte einen Bogen zurück in die Stadt, denn auch hier draußen gab es nichts, niemanden, der auf mich wartete. Aber ich fuhr nicht nach Hause, sondern einfach so durch die unbekannte Gegend, die mir aber irgendwie doch vertraut vorkam. Eine Vertrautheit, der man nicht entfliehen konnte. Mein Leben, nur an einem anderen Ort.
Troys Stimme flüsterte etwas in mein Ohr. Ich erkannte die Konturen seines Gesichts und seine dunkle Gestalt an meinem Bett im Krankenhaus. Seine Frage, ob ich leiden würde. Sein Trost, dass es bald vorbei wäre. Ich hörte die Worte tausendfach in meinem Kopf widerhallen und wusste immer noch nicht, was er damit meinte. Wollte er mir das Leben oder den Tod erleichtern?
Während ich fuhr, spürte ich hin und wieder ein Ziehen. Schwach nach links. Schwach nach rechts. Nach hinten, nach vorn. Ich konnte dem Gefühl nicht entfliehen. Der Tod war allgegenwärtig. Er kroch an der Peripherie meiner Welt entlang, auf der Suche nach mir. Als wüsste er, dass ich auf der Flucht war, als wollte er mich zurückholen.
Als ich ein stärkeres Ziehen spürte, folgte ich ihm. Ich fuhr von der engen, kurvenreichen Straße ab, die um die Stadt herumführte, und bog auf eine andere Straße in Richtung Tal ein. Den Fuß hatte ich ständig auf der Bremse. Die Bäume wurden spärlicher und der Wald verwandelte sich in Beton und Asphalt. Vor mir erstreckten sich einige Wohnblocks und Geschäftshäuser, bis die Bäume wieder dichter standen.
Ich fuhr zwischen den Wohnblocks hindurch, bis ich es gefunden hatte. Ein Farmhaus in der Farbe geschmolzener Butter. Rund um das Haus zog sich eine breite Veranda, auf der zwei weiße Schaukelstühle im Wind hin- und herwiegten. Vielleicht waren es auch Geister. Ich hielt an und beobachtete das Haus.
Dort war jemand krank. Jemand in diesem Haus würde sterben. Das Ziehen war stark, aber meine Hände zitterten noch nicht. Mein Hirn arbeitete normal, so normal, wie es eben ging. Aber der Tod war da.
Jemand zog die weißen Spitzenvorhänge am Fenster zur Seite. Ein hageres Gesicht hinter der Scheibe starrte mich an. Eine Frau. Ihr weißes Nachthemd passte farblich zu den Vorhängen, sodass es aussah, als würde sie hinter der Scheibe schweben. Sie wirkte ausgezehrt und hohlwangig, fast wie ein Geist. Ich legte die Stirn auf das Lenkrad und stöhnte auf. Troy hatte Recht, es war zu spät für sie. Sie war alt, schon halb tot. Wie sollte ich sie retten? Die Augen hinter dem Fenster starrten mich weiter an. Als wüsste die alte Frau, dass ich der personifizierte Tod war. Eine Warnung. Eine nutzlose, schreckliche Warnung. Ich schüttelte den Kopf, legte den Gang ein, trat auf das Gaspedal und fuhr los.
Ich wäre fast an unserem Haus vorbeigefahren. Troys Wagen parkte in der Kurve und ich wollte eigentlich nicht anhalten, doch Mum stand am Fenster und hatte mich schon entdeckt. Von der Straße aus wirkte auch Mum ausgezehrt und hohlwangig. Seit wann war das so? Ich konnte mich nicht erinnern. Vor fast einem Monat hatte der Falcon Lake Anspruch auf mich erhoben. Vielleicht galt das auch für sie?
Ich hielt in der Einfahrt, stieg die Stufen hoch und schloss die Tür auf. Mum stand allein im Wohnzimmer, aber ich wusste, dass er in der Nähe war.
»Wo ist er?«, fragte ich, während ich den Raum nach Troy absuchte.
»Hast du eine Ahnung, was ich mir für Sorgen gemacht habe? Was hast du dir dabei gedacht? Einfach wegzufahren, ohne mir Bescheid zu sagen.«
»Was?« Ich dachte an heute Morgen zurück. Es kam mir vor, als wäre seitdem eine Ewigkeit vergangen. »Du warst beschäftigt.«
»Ich war beschäftigt? So beschäftigt, dass du mich nicht um Erlaubnis fragen konntest? Also wirklich, Delaney, für wen hältst du dich eigentlich?«
Ein Schnitt. Das war es, was ich fühlte. Worte konnten schneiden, ritzen, verletzen wie ein Rasiermesser. Die frühere Delaney hätte um Erlaubnis gefragt. Die frühere Delaney mit dem normalen Hirn-CT-Bild. Ich war jemand anders.
Ich durchquerte die Küche, den Hauswirtschaftsraum und riss die Hintertür auf. Die Scheiben klirrten, als die Tür gegen die Außenwand knallte. Mum folgte mir.
»Was machst du hier?«, fragte ich.
Troy schippte gerade eine Schaufel Schnee von der Einfahrt. Er schob die Schaufel wieder unter den Schnee und kratzte dabei über den Betonboden darunter.
»Er hilft mir«, sagte Mum, die weiter entfernt klang, als sie war.
Ich konnte den Blick nicht von Troy lösen. Er hatte aufgehört, Schnee zu schippen, und stützte sich auf die Schaufel, vor Anstrengung atmete er schwer. Er war aus einem ganz anderen Grund hier, das konnte ich daran erkennen, mit welcher Energie er schaufelte, an seinen stumpfen Augen, an seinem verzerrten Mund. Er war wütend. Er ließ seine Wut an unserer Einfahrt aus.
»Du hast nicht einmal den Anstand, pünktlich zu deiner eigenen Verabredung zu kommen«, schimpfte Mum.
»Wir können es immer noch rechtzeitig ins Kino schaffen«, sagte Troy und bemühte sich vergeblich, mich nicht zornig anzufunkeln.
Ich schaute von Troy zu meiner Mutter und von meiner Mutter zu Troy. Troy schaffte es nicht, seine Wut zu verbergen. Mum versuchte es nicht einmal.
»Delaney«, sagte Troy und packte mich am Arm, »lass uns gehen.« Er zog mich hinter sich her und ich wehrte mich nicht. Mir war nicht einmal klar, wovor ich mich im Augenblick am meisten fürchtete: vor dem Fremden, der wie aus dem Nichts in mein Leben getreten war, oder vor der Frau, die ich schon mein ganzes Leben kannte und die über Nacht eine Fremde geworden war.
Troy startete den Wagen, fuhr aber in die falsche Richtung. »Wo willst du hin?«
»Zu mir.«
»Nein, ohne mich. Der einzige Ort, wo ich mit dir hingehe, ist das Kino.«
Troy schaute mich aus den Augenwinkeln an und lächelte. »Ich hab dich unterschätzt«, sagte er.
»Und ich dich überschätzt.«
»Das ist nicht fair.« Er wendete, fuhr in die Stadt und parkte hinter dem Kino. Noch bevor er den Motor abgestellt hatte, war ich aus dem Auto gesprungen. Auf keinen Fall wollte ich mit ihm allein sein, nicht mal am Tag. Ich hatte seinen Blick gesehen, mit dem er mich fixierte, als er die Schaufel über den Bürgersteig gezogen hatte. Und ich hatte die Druckstelle gesehen, die er auf meinem Oberarm hinterlassen hatte. Dabei hatte er nicht mal richtig zugepackt. Aber die Narben von vierzehn Stichen, mit der meine Wunde damals im Krankenhaus genäht worden war, waren Warnung genug.
Troy kaufte die Karten, als hätten wir ein ganz normales Date. Er hakte sich bei mir ein und zog mich am Getränkestand vorbei in den Kinosaal, in die dunkelste Ecke der dunkelsten Reihe. Einige andere Pärchen saßen verstreut im Saal, aber hier hinten waren wir ziemlich allein. Obwohl niemand wusste, dass wir hier waren, fühlte ich mich sicher, denn immerhin würde man mich schreien hören.
Das dachte ich jedenfalls, bis der Film begann. Schnell wurde mir klar, dass wir in einem Actionfilm mit wenig Handlung saßen, in dem es dafür aber nonstop Explosionen und Schießereien gab. Ich hockte im hintersten Sitz dicht an die Wand gedrückt und Troy beugte sich zu mir, um mir etwas ins Ohr zu sagen, die einzige Möglichkeit, sich bei der Geräuschkulisse verständlich zu machen.
»Du bist abgehauen, bevor ich dir alles erklären konnte.«
Ich hielt meinen Mund nah an sein Ohr, obwohl es mir sehr unangenehm war, dass ich beim Sprechen sein Gesicht berührte. »Du hast mich von Anfang an belogen. Darüber, woher du mich kennst und warum du tatsächlich im Heim arbeitest.«
»Ich habe nicht gelogen. Ich hasse es, Menschen leiden zu sehen.«
»Und was machst du dann mit den Tabletten der alten Frau?«
»Ich gebe ihr das Schmerzmittel. Die anderen Tabletten verlängern ihr Leiden nur. Sie halten sie länger am Leben, als sie es will.«
»Du bringst sie um!«
»Sie stirbt so oder so. Ich sorge dafür, dass es schneller geht.« Seine Lippen strichen über mein Ohr und ich zuckte zurück.
»Das hast du nicht zu entscheiden.«
»Um eine Entscheidung geht es gar nicht. Das ist meine Pflicht. Das ist meine Bestimmung.«
Ich lehnte mich noch weiter zurück und schaute ihn an. Mir war nicht klar, ob er das ernst meinte oder einen schlechten Scherz machte.
Er packte mich an der Schulter und zog mich wieder zu sich. »Du darfst nicht über mich urteilen. Du warst nicht mit mir und meiner Familie im Auto. Meine Eltern waren sofort tot. Die Seite des Wagens, auf der sie saßen, war komplett eingedrückt. Aber meine Schwester saß hinter mir. Weißt du, wie lange sie brauchte, um zu sterben? Drei Tage. Drei gottverdammte Tage. Sie flehte mich an, ihr zu helfen. Sie blutete, hatte überall Knochenbrüche und war im Delirium. Sie flehte mich nicht an, ihr Leben zu retten. Sie flehte mich an, sie von diesem Elend zu erlösen.«
Er schaute nach vorn und tat so, als würde er dem Film folgen. Das flammende Inferno auf der Leinwand färbte sein Gesicht orange und rot. Er sprach weiter und ich musste mich zu ihm beugen, um ihn zu verstehen.
»Aber ich konnte nicht. Es gab keinen Ausweg. Und in dieser Nacht hörte sie auf zu sprechen. Danach erinnere ich mich an nichts mehr. Als ich aus dem Koma aufwachte, saß niemand an meinem Bett. Ich durfte nicht sterben und ich konnte nicht mal ihr Leiden beenden.«
»Warum sagst du es ihnen dann nicht? Warum sagst du ihnen nicht, dass sie sterben? Dann können sie selbst entscheiden.«
»Sie haben nicht die Kraft dazu. Sie wollen, aber sie können es nicht.«
»Nein, das stimmt nicht. Ich wollte leben. Ich wollte es zumindest versuchen.«
»Selbst wenn du leidest? Ich nicht. Es sollte möglichst schnell vorbei sein.«
In meinem Kopf drehte sich alles. Ich schaute auf die Explosionen auf der Leinwand und versuchte, mich zu sammeln. Und dann kam es wieder, das Schwindelgefühl. Ich schloss die Augen, aber es wurde nicht besser. Es war, als würde ich fallen.
»Meine Nachbarin … die geöffneten Fenster … das warst du. Meine Eltern haben mich verdächtigt.« Ich war ein Stück von seinem Ohr entfernt, deshalb wusste ich nicht, ob er es überhört hatte oder mich einfach ignorierte.
»Und das Feuer … hast du komplett den Verstand verloren? Sieht so Nicht-Leiden aus?« Ich blickte auf die immer noch sichtbare Brandnarbe auf meiner Hand.
Troy hing schräg über meinem Sitz und zischte mir ins Ohr: »Er hatte ein Beruhigungsmittel genommen. Er hat nichts davon mitbekommen, ich schwöre. Er hat gar nichts gespürt, garantiert.«
»Troy, als du damals im Krankenhaus zu mir gekommen bist, hättest du wissen sollen, dass ich leben wollte. Ich wollte leben!« Ich erinnerte mich an das Gefühl beim Aufwachen. An den Schrei. »Ich habe deinetwegen gelitten.«
Er zuckte zusammen. »Du verstehst das nicht. Sie hätten dich nicht am Leben halten dürfen. Du hättest dich sehen sollen, Maschinen haben für dich geatmet, dich ernährt, dich betäubt. Wenn sie dich einfach in Ruhe gelassen hätten, hättest du nicht leiden müssen. Ich bin jeden Tag da gewesen, um dir zu helfen. Doch selbst als deine Eltern und die Krankenschwestern und die zehntausend Ärzte, die meinten, sie würden dir etwas Gutes tun, endlich verschwunden waren, konnte ich nicht zu dir, weil dieser verdammte Typ da war.«
»Decker?«
»Wer auch immer. Er war so traurig und so hilflos. Saß einfach da und wartete, dass du aufwachst. Sah dir beim Leiden zu. Er tat nichts, ließ einfach alles geschehen. Wenn du ihm wirklich wichtig gewesen wärst, hätte er dich sterben lassen.«
»Ich wollte leben«, wiederholte ich, dieses Mal aber leiser.
»Du wusstest gar nicht, was du wolltest.«
»Aber ich war am Leben. Wie konntest du wissen, was ich wollte? Nichts ist endgültig. Nicht zu hundert Prozent. Es gibt immer irgendeinen Ausweg.«
Er schaute mich an. »Glaubst du, du lebst?«
Ich grub die Fingernägel in meine Handfläche, nur um mich zu vergewissern. »Ich bin nicht tot.«
»Das heißt aber nicht, dass du lebst.«
Unvermittelt sprang ich auf und drückte mich an ihm vorbei. »Komm nie wieder in meine Nähe.«
Er umklammerte meinen Arm, wo noch immer die Druckstelle war, und ich zuckte zusammen. »Sei nicht dumm, Delaney.« Dann stand er ebenfalls auf und folgte mir zum Ausgang.
Die Vorhalle war leer, bis auf einen Jungen am Imbissstand, der stumpfsinnig dem aufpoppenden Popcorn zusah.
»Ich werde nicht schweigen. Ich werde ihnen alles über mich erzählen und über dich. Ich werde ihnen erzählen, was du getan hast.«
»Was ich getan habe? Und was war das genau? Sag schon! Ich würde es zu gern hören. Ich wusste, dass deine Nachbarin schwer krank war, und deshalb habe ich ihre Fenster aufgemacht? Ist es das?« Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. »Meinst du wirklich, deine Eltern würden dir das glauben?«
»Aber bei dem Brand gab es Zeugen. Jemand muss dich gesehen haben.«
Er lächelte spöttisch und ich starrte auf seinen abgesplitterten Zahn und die Schwärze dahinter. »Wen werden die wohl gesehen haben? Mich, ganz in Schwarz, oder dich in deiner roten Jacke?« Er ließ mir etwas Zeit, um darüber nachzudenken. »Und welche Beweise sollte es geben? Hast du etwas angefasst? Ich habe Handschuhe getragen. Hmmm, ich frage mich, ob es irgendetwas gibt, was dich mit dem Vorfall in Verbindung bringen könnte.« Er drückte fest auf meine Handfläche und ich schrie auf. Der gelangweilte Teenager schaute kurz auf, dann wanderte sein Blick wieder zu der Popcornmaschine. »Was werden sie wohl mit dir machen, Delaney, was denkst du?«
Bilder schossen mir durch den Kopf. Tabletten. Meine ans Bett gefesselten Arme. Das Krankenhaus. Oder noch Schlimmeres. Ich schob mich durch die Flügeltür und blinzelte wegen des strahlend weißen Schnees, der die Sonne reflektierte. Troy löste seine Hand von meinem Arm, um seine Augen zu schützen – und in diesem Augenblick rannte ich los.
Ich konnte gerade noch einem Laster ausweichen, dann wandte ich mich um und sah Troy auf der anderen Straßenseite vor dem Kino stehen. Er fixierte mich mit zusammengekniffenen Augen, die Arme hingen locker herab. Lässig trat er auf die Straße und lief mir nach. Ich rannte in Richtung Zuhause, an der Pizzeria vorbei, an den Wohnblocks vorbei, sechs nicht enden wollenden Blocks mit schneebedeckten Dächern, bis an den See, dann nach links und wieder einen Block zurück. Ich würde es nicht schaffen. Wenn Troy es darauf anlegte, würde er mich kriegen.
Ich wollte zur Pizzeria zurück, aber da stand er schon, direkt unter dem grünen Dachvorsprung. Ich hastete über den Parkplatz, rutschte aus, stützte mich auf der Motorhaube eines Autos ab und schlich mich zur Rückseite der Ladengeschäfte. Meine Hände tasteten nach hervorstehenden Backsteinen, suchten dort Halt, um zu verhindern, dass ich stürzte. Ich quetschte mich zwischen der Wand und zwei Müllcontainern hindurch und stieß mich dabei am Rücken. Dass es so eng werden würde, hatte ich nicht gedacht. Ich überlegte kurz, einfach dort zu bleiben, denn Troy war kräftiger gebaut und würde nicht hindurchpassen. Aber mal ehrlich, wie tief sollte ich eigentlich noch sinken? Ich konnte mich ja kaum für immer hinter einem Müllcontainer verstecken. Ich zwängte mich auf der anderen Seite wieder heraus und versuchte, die Hintertür der Pizzeria zu öffnen. Sie war verschlossen.
Troy kam näher, das konnte ich hören. Und spüren. Ich spürte die Wut, die er ausstrahlte, und das Selbstbewusstsein. Ich setzte mich wieder in Bewegung. Hintereingang des Schuhgeschäfts. Verschlossen. Hintereingang der Bank. Verschlossen. Logisch.
Die Straße endete an einem hohen Holzzaun. Auf der anderen Seite erstreckte sich ein Maschendrahtzaun, der die Gärten hinter den Reihenhäusern an der nächsten Ecke umzäunte.
»Delaney!«
Wegen der Müllcontainer hinter jeder Tür konnte ich Troy nicht sehen, aber seine Stimme verriet mir, dass er nicht mehr weit entfernt war. Ich versuchte es an der letzten Tür und sie hatte Mitleid: Sie ließ sich öffnen. Es kam mir vor wie ein Wunder. Doch meine Erleichterung währte nur kurz, denn ich stand in einem engen Verschlag vor einer noch dickeren Tür. Verschlossen. Ich drehte mich um, zog die Tür zu, schob den Riegel vor und ließ mich zu Boden sinken.
Hier gab es keine Heizung. Auch keinen Teppich. Und den Boden hatte seit Jahren niemand mehr sauber gemacht. Mir fiel einfach nicht ein, wo ich mich befinden könnte, so sehr ich mir auch den Kopf zerbrach. Welcher Laden war neben der Bank? Er musste einen grünen Dachvorsprung haben, wie alle anderen Geschäfte auch. Und ich wusste, dass die Eingangstür aus Glas war, genau wie die Schaufenster. Aber an die Aufschrift auf dem Fenster konnte ich mich einfach nicht erinnern. Durch den Spalt unter der Tür sah ich ein Feuerzeug aufflackern.
Wenn ich eine Heldin gewesen wäre, wäre ich hinausgestürmt und hätte mich der Gefahr gestellt. Ich hätte ihm das Knie in den Unterleib gerammt und ihm beim Zusammensacken zugesehen. Und im Weggehen hätte ich noch eine beißende Bemerkung gemacht. Aber so war ich nicht. Ich war nicht stark. Ich war nicht schnell. In der Wildnis war ich die Beute. Aber ich war klug. Klug genug, wegzulaufen und mich zu verstecken. Klug genug, im Versteck zu bleiben.
Draußen knirschten schwere Stiefel durch den Schnee. Er rüttelte am Türknauf. Der hölzerne Türrahmen knarrte, als er sich von der anderen Seite dagegenwarf. Doch die Tür gab nicht nach.
»Bist du da drin, Delaney? Wir müssen reden.«
Ich presste mir die Hand auf den Mund, als ob ich mich daran erinnern müsste, still zu sein.
»Meinst du nicht, dass das ein bisschen dumm ist, was du da machst? Total kindisch? Du kannst nicht die ganze Nacht im Hintereingang eines Bestattungsunternehmens verbringen.«
Das Beerdigungsinstitut. Ich schauderte. Ich nahm mein neues Handy aus der Jackentasche und stellte es auf lautlos. Dann drückte ich auf »wählen« und schaltete die Lautstärke auf die leiseste Stufe. Nimm ab, nimm ab, nimm ab.
»Kann ich dich zurückrufen?«, murmelte Decker in den Hörer. Ich antwortete nicht. Im Hintergrund waren leise Musik und Stimmen zu hören. Wenn ich genau genug hingehört hätte, hätte ich Tara erkannt, jede Wette.
»Delaney?«, fragte er. »Bist du dran?« Dann hörte ich ein gemurmeltes »bin gleich wieder da« und die Musik wurde leiser.
»Ich kann dich atmen hören. Los, sag was.«
Draußen wurde wieder an der Tür gerüttelt und ich sog die Luft ein.
»Delaney, sag was. Bist du okay?«
So leise wie ich konnte, mit einer Stimme, die kaum mehr als ein Atemzug mit Buchstaben war, hauchte ich: »Nein.«
Deckers Stimme wurde lauter, als ob er das Handy an den Mund pressen würde. »Wo bist du?«
»Beerdigungsinstitut in der Stadt«, flüsterte ich.
»Was zum Teufel treibst du da?«
Ich antwortete nicht.
»Egal, ich komme.«
»Hintereingang«, murmelte ich noch.
»Leg nicht auf«, sagte er, was ich auch nicht tat. Deshalb konnte er hören, wie am Türknopf gerüttelt wurde, wie der Rahmen protestierend knarrte und Metall auf Metall knallte, hoffte ich jedenfalls. Und wie Troy sagte: »Delaney, ich weiß, dass du da drin bist.«
Aber Decker blieb stumm. Er sagte nichts, ich hörte nur sein lautes Atmen – und dann drückte er auf die Hupe, was so laut war, dass ich sofort auflegte.
Troy lachte vor der Tür. »Ich kann dich hören, Delaney. Wen hast du angerufen? Kommt dich dein Freund abholen?«
Einige Minuten später knirschte Schnee, Reifen quietschten und eine Autotür wurde zugeschlagen. Ich schob den Riegel zurück, riss die Tür auf und war einen Moment lang so geblendet, dass ich nicht erkennen konnte, ob Troy sich auf Decker stürzte, oder ob es umgekehrt war. Als sich meine Augen an das Licht gewöhnt hatten, sah ich nur Decker. Ich wimmerte mitleiderregend und rannte zum Auto, noch schneller als er.
Drinnen drückte ich mit zitternden Händen den Verriegelungsknopf an der Beifahrertür herunter. Decker sprang auf den Fahrersitz und brauste davon, ohne ein Wort zu sagen.
Ich presste mich in meinen Sitz, den Blick fest auf den Rückspiegel gerichtet, in der Erwartung, dass uns ein schwarzer Wagen folgte. Decker fuhr schnell und schaute ebenfalls immer wieder kurz in den Rückspiegel. Erst in unserer Straße wurde er langsamer.
»Fahr weiter«, bat ich stockend, meine Hände zitterten immer noch.
Er fuhr bis ans andere Ende des Falcon Lake und parkte irgendwo zwischen den verlassenen Sommerhäusern. Dann löste er seinen Gurt und drehte sich zu mir, den Motor ließ er laufen. »Was ist passiert?«
Ich schloss die Augen und senkte den Kopf. Ich konnte die Tränen spüren, die sich unter meinen Augenlidern bildeten.
»Delaney, bitte. Du hast mich angerufen. Sprich mit mir, bitte.«
Ich presste die Daumen gegen die geschlossenen Augenlider und zwang die Tränen wieder nach innen. »Es ist nur … halt dich fern von Troy, okay? Er ist nicht der, der er vorgibt zu sein.«
Seltsam, wie jemand in einem einzigen Augenblick ein anderer werden kann. Wie von einem Herzschlag zum nächsten aus einem mitfühlenden ein bösartiger Mensch wurde. Es sei denn, er hatte sich gar nicht verändert, sondern war schon immer so gewesen. Ich hatte es nur nicht gesehen. Justin war ein gutes Beispiel dafür. Menschen sind, wie sie sind.
Ich öffnete die Augen und obwohl ich noch etwas verschwommen sah, waren die Tränen verschwunden. Zuerst konnte ich Deckers geballte Fäuste erkennen. Dann sein Gesicht. Er musterte mich kritisch.
»Hat er …« Er sprach ganz leise und konnte mir dabei nicht wirklich in die Augen sehen. »Hat er dir wehgetan?«
Ich dachte an die Narbe auf meinem Arm. Dann dachte ich an Decker und seinen Hang zum Heldentum – seinem dämlichen Heldentum – und stellte ihn mir neben Troy vor, gerade mal halb so breit, kaum Muskelmasse. Und ich stellte mir Troy neben Decker vor, halb so viel Moral, kaum Hemmungen. »Nein«, sagte ich schließlich. »Er hat mir einfach nur Angst gemacht.«
»Du hast dich in einem Beerdigungsinstitut versteckt. Du warst total in Panik.« Er sah auf meine Hände. »Du bist es immer noch.« Er griff über die Notfallkühlbox, nahm meine Hand und lehnte sich dann in seinem Sitz zurück. Einen Moment lang waren wir die alte Delaney und der alte Decker, bei denen Händchenhalten einfach nur Händchenhalten war, nicht mehr und nicht weniger. Ich starrte geradeaus auf die vereinzelten Bäume, auf den See dahinter. Den zugefrorenen, schneebedeckten See. Ohne Loch in der Eisdecke.
Die Sonne begann langsam zu sinken. Decker schaltete mit der freien Hand die Scheinwerfer ein. »Ich glaube, du solltest die Polizei anrufen.«
»Nein.« Ich zog meine Hand zurück. »Es ist nichts passiert. Vielleicht habe ich überreagiert. Bitte erzähl es nicht weiter. Versprich es mir, Decker.«
Er seufzte. »Ich wünschte, du würdest mit mir reden.«
»Es tut mir leid, dass ich dich vorhin gestört habe, wo auch immer du gewesen bist.«
»Mir nicht. Ich bin froh, dass du angerufen hast. Geht’s wieder?«
»Es geht.« Das war die größte Lüge von allen.
Während er wendete und zurückfuhr, wurde mir klar, dass wir uns schon wieder voneinander entfernten. Wenn ich zu Hause die Beifahrertür öffnete, würde sich das alte Wir in der Abendluft verflüchtigen und wäre verschwunden. Deshalb löste ich so schnell wie möglich meinen Gurt, als wir in seine Einfahrt fuhren, glitt über die Notfallkühlbox, schlang meine Arme um ihn und vergrub mein Gesicht an seinem Hals.
Decker war überrascht und versteifte sich, aber dann ließ er seine Hände sanft auf meine Haare sinken und atmete tief ein. Ich wusste, was das bedeutete. Er versuchte, so viel wie möglich von diesem Moment in seiner Erinnerung zu speichern. Ich wusste es, weil es bei mir genauso war. Dann öffnete ich die Tür, ohne mich noch einmal zu ihm umzudrehen. Schneidende Kälte drang herein. Ich überquerte die Einfahrt. Allein.
Mum war gerade beim Kochen, eigentlich ein gutes Zeichen. Allerdings würdigte sie mich keines Blickes. Dad sprach gegen die Stille an, als würde er nicht bemerken, dass etwas nicht stimmte. Obwohl er es natürlich wusste, denn er hörte einfach nicht auf zu reden.
Nach dem Abendessen verkündete ich, dass ich früh zu Bett gehen würde. Mum stellte sich auf einen Küchenstuhl, um meine Arzneien aus dem Schrank über dem Kühlschrank zu holen. Sie vertraute mir nicht, wenn es um Medikamente ging. Genauso wenig, wie ich den Herd berühren, allein zu Hause bleiben oder allein durch die Straßen gehen durfte. Zur Abschreckung bewahrte sie die Tabletten außerhalb meiner Reichweite auf.
Sie gab mir meine Dosis, ich nippte an meinem Wasserglas und ging auf die Treppe zu, um die Pillen wieder zu entsorgen.
Ich drehte mich halb zu ihr um, die Hand schon auf dem Geländer. »Hmmm?« Mein Herz schlug schneller, als ich mir ausmalte, wie die Tabletten sich langsam unter meiner Zunge auflösten und die Wirkstoffe in meine Blutbahn gelangten.
»Mach den Mund auf.«
»Wie bitte?«
Mum kam näher und Dad hielt sich die Zeitung vors Gesicht, um die Szene nicht mitansehen zu müssen.
»Ich sagte, mach den Mund auf.«
»Warum?« Ich versuchte, meine Zunge still zu halten, ohne dabei so zu klingen, als würde ich genau das tun. Deshalb fasste ich mich kurz.
»Weil ich es sehen will.« Sie war nun nahe genug, um mir direkt in den Mund zu schauen.
»Du traust mir nicht«, sagte ich und hoffte, sie damit abzuschrecken. Aber kaum hatte ich den Satz beendet, packte sie mit einer Hand mein Kinn, bohrte mir die Finger in die Wangen und zog mich mit zusammengekniffenen Augen durch die Küche zum Wasserhahn.
»Ich wusste es«, sagte sie. »Ich wusste, dass mit dir etwas nicht stimmt.« Sie starrte mich an, als könnte sie ganz dicht unter der Oberfläche die alte Delaney erkennen, schüchtern und gehorsam. Alles, was sie brauchte, waren ein, zwei Tabletten. Sie wollte mich wieder in Ordnung bringen.
»Ich nehme sie nicht«, sagte ich und spuckte die Tabletten in die Spüle.
Einen Moment lang dachte ich, ich könnte die Gedanken sehen, die ihr durch den Kopf rauschten – wie sie mich nach unten drückt und mir die Nase zuhält, um die Pillen meine Kehle hinunterzuzwingen. Aber sie hatte einen besseren, wesentlich effektiveren Plan.
»Du wirst so lange in deinem Zimmer bleiben, bis du sie nimmst. Keine Besuche, keine Schule. Ich werde dich wegen Krankheit entschuldigen.«
Ich nahm einen tiefen Atemzug und starrte sie an. Dann streckte ich ihr meine Hand entgegen, bekam eine neue Dosis, warf mir die Pillen in den Mund und schluckte. Ich spürte, wie sie die Speiseröhre hinunterrutschten. Zuerst fühlte es sich an, als müsste ich würgen, dann, als hätte ich direkt über dem Herzen einen Knoten.
»Du hasst mich jetzt«, sagte Mum, »und das ist okay. Ich kann damit leben, solange du dadurch in Sicherheit bist. Eines Tages wirst du das verstehen.«
Das Einzige, was ich verstand, war, dass ich mich noch nie so verletzt gefühlt hatte. Nicht, als mich Decker wegen einer Wette geküsst hatte, nicht, als mich Troy so fest gepackt hatte, dass ich einen blauen Fleck bekam, nicht einmal, als ich im Verschlag des Beerdigungsinstituts gekauert hatte, sondern jetzt, mit meiner Mutter, der ich immer blind vertraut hatte. Das war das Schlimmste.
Ich rannte ins Bad und übergab mich. Ich musste mich nicht mal dazu zwingen. Ich stellte mich unter die Dusche, drehte das heiße Wasser auf und ließ den Tag an mir vorüberziehen. Der Moment, als ich gesehen hatte, wie Troy der alten Frau die Pillen wegnahm, das Erlebnis im Kino, das Bestattungsinstitut, die Flucht mit Deckers Auto – bis hin zu meiner Mutter, die mir die Pillen aufgezwungen hatte – und plötzlich musste alles raus.
Die Tabletten konnten gar nicht richtig wirken, aber ich wurde trotzdem sehr müde. Meine Augenlider wurden schwer und ich taumelte wie benommen in meinem Zimmer herum. Aber ich wollte nicht schlafen. Wegen Troy. Ich konnte spüren, dass er sich draußen herumtrieb. Ich wusste einfach, dass er mich beobachtete. Hinter dem Häuserblock oder zwischen den Büschen auf der anderen Straßenseite, oder irgendwo mitten auf der Straße. Ich überprüfte, ob das Fenster geschlossen war, ließ die Rollläden herunter und versteckte eine Schere unter meinem Kopfkissen. Jedes Auto unten auf der Straße klang irgendwie nach seinem. Jedes Rütteln am Fenster hörte sich an, als würde er versuchen, bei mir einzubrechen.
Ich schlief ein, eine Hand auf der Schere, und wachte am nächsten Morgen genau in der gleichen Position auf. Ein Wunder, dass ich mich nicht verletzt hatte.
Mum riss die Tür auf und lächelte, als wäre sie gestern Abend nicht auf mich losgegangen. »Telefon«, sagte sie.
»Sag ihm, ich ruf zurück«, antwortete ich. Entweder war es Troy, den ich nicht zurückrufen würde, oder es war Decker, bei dem ich mich melden würde, wenn ich wusste, was ich ihm sagen sollte.
»Es ist kein er.«
Ich griff nach dem Telefon.
»Hey, Janna.« Ich rieb mir die Müdigkeit aus den Augen. »Was gibt’s?«
»Ich ruf nur an, um zu hören, was du in Mathe hast.«
»Hast du deine Noten bekommen?«
»Gestern. Du nicht?«
»Ich ruf dich zurück.«
Ich raste durch den Flur, flog geradezu die Treppenstufen hinunter und zwang mich zu einem falschen Lächeln. »Sind meine Noten gekommen?«
Mum stand vor dem Fernseher und bügelte. »Ja, mein Schatz, gestern.« Sie sah mich nicht an. Kein gutes Zeichen.
»Und?«
»Alles A, ein B.«
»Was? Ein B? Lass mich mal sehen.«
Sie ging ins Arbeitszimmer und kam rasch zurück, als wäre alles in Ordnung. Vielleicht war die Fantasie mit ihr durchgegangen. Vielleicht wollte sie einen Witz machen. Vielleicht sah sie schlecht. Aber da stand es schwarz auf weiß, das bauchige B, ein Schandfleck in der Kolonne schnurgerader Buchstaben.
»Ich glaub’s nicht.« Ich ließ mich auf den äußersten Rand der Couch fallen, die Augen auf das Blatt gerichtet, als könnte ich es mit meinem Blick durchbohren. »Verdammte Scheiße, ich glaub’s einfach nicht.«
Mum korrigierte meine Wortwahl nicht. Mit dem Brief in der Hand ging ich in mein Zimmer. Ich fürchtete mich davor, Janna zurückzurufen, aber wenn ich es nicht tun würde, wüsste sie sowieso, dass etwas nicht stimmt.
»Ich habe ein B in Mathe«, teilte ich ihr mit.
»Das ist gut!«, antwortete sie nach einer kurzen Pause.
Ich lachte leise. »Für dich.«
»Nein, Delaney, für dich. Du bist fast gestorben. Du lagst im Koma. Und du hast trotzdem ein B!«
»Haha.«
»Bist du sauer auf mich?«
»Nein, nein, tut mir leid. Ich bin nicht sauer. Ich dachte nur, die Prüfung wäre super gelaufen. Übrigens danke, dass du mit mir gelernt hast, sonst hätte ich sicher noch schlechter abgeschnitten.«
Was war passiert? Hatte mein Hirn jetzt sogar die Fähigkeit verloren zu erkennen, wenn es etwas nicht wusste? Was funktionierte da nicht mehr? Wo war Selbsterkenntnis im Hirnscan zu sehen?
»Hör mal«, sagte sie, »Carson und ich wollen zum Mittagessen zu Johnny’s. Komm doch auch, ich hab dich schon eine Ewigkeit nicht gesehen. Okay?«
»Klingt gut.« Ich musste hier raus. Und ich könnte wirklich eine Freundin brauchen.
Durch Jannas »Nachhilfe« hatte ich mir den Weg zur Jahrgangsbesten verbaut. Ich nahm den Hörer, um Decker anzurufen. Ich wollte Dampf ablassen, über einen Witz von ihm lachen oder ihn sagen hören, dass alles nicht so schlimm war, oder irgendwas anderes, damit ich mich besser fühlte. Aber ich tat es nicht. Diesen Teil von uns gab es nicht mehr. Die Zwanglosigkeit, die Leichtigkeit, die Freundschaft. Plötzlich hatte ich Geheimnisse vor ihm. Und ich wusste, dass es bei ihm genauso war.
Dieses Mal holte ich mir die Erlaubnis, bevor ich in Mums Wagen davonfuhr. Ich parkte auf dem gleichen Parkplatz wie am Vortag und starrte durch die Windschutzscheibe auf die Pizzeria. Wie erwartet, spürte ich ein Ziehen in Richtung Betreutes Wohnen, aber nur schwach. Ein viel stärkeres Ziehen kam von der Ladenzeile direkt gegenüber. Als würde der Tod dort auf mich warten. Als würde er bereits seine Kreise um mich ziehen, könnte mich aber nicht finden, da ich – wie Troy gesagt hatte – gar nicht mehr wirklich am Leben war.
In einer kleinen Stadt wie unserer war die Wahrscheinlichkeit ziemlich groß, dass ich wusste, wer die sterbende Person war. Weil ich nicht viel Kontakt zu alten Leuten hatte, würde ich sie kaum persönlich kennen. Aber vielleicht war es ein Großelternteil von jemandem aus der Schule oder ein Nachbar oder ein Cousin irgendeines Onkels. Höchstens zwei Verwandtschaftsgrade entfernt. Vielleicht war einer unserer Lehrer todkrank oder jemand aus Jannas Familie oder Taras Nachbar. Und obwohl ich Tara nicht mochte, wollte ich nicht, dass sie jemanden verlor.
Deshalb blieb ich wie gelähmt im Auto sitzen. Ich war zu feige, um in die Pizzeria zu gehen.Ich konnte aber auch nicht nach Hause fahren und nicht zu Decker gehen. Ich konnte nirgendwo hin. Fass dir ein Herz. Okay, ich würde reingehen und nicht nach rechts oder links schauen.
Ich trottete über den verschneiten Parkplatz und machte die Tür auf. Die Pizzeria war voll, der Geruch nach Bratfett und Peperoni kam mir entgegen, konnte mich aber nicht ablenken. Die meiste Zeit hielt ich den Kopf gesenkt und orientierte mich über das Gehör. Carson war leicht auszumachen. Er sprach laut und energisch und lachte mitten im Satz, einfach so. In diese Richtung ging ich, auf die Nische an der rechten Wand zu.
Ich fühlte mich schrecklich. Nach den Gesichtern von Janna und Carson zu urteilen, die erst mich anschauten und dann einen kurzen Blick wechselten, sah ich auch genauso aus. Plötzlich blieb ich wie angewurzelt stehen. Leute gingen um mich herum, trugen Pizzas zu ihren Plätzen, warfen Pappteller in den Mülleimer, stellten zusätzliche Stühle an die bereits voll besetzten Tische. Ich konnte nicht weitergehen, denn das Ziehen kam von Janna und Carson Levine. Von einem siebzehnjährigen Mädchen und ihrem achtzehnjährigen Bruder. Von dem Mädchen, das im Krankenhaus meine Hand gehalten, und dem Jungen, der mir meinen ersten richtigen Kuss gegeben hatte. Von meinen Freunden.
Einer von ihnen würde sterben.