Beim Schlafen rollte ich mich zusammen, die Knie an die Brust gezogen, die Arme um die Beine geschlungen. Ich hielt mich an mir fest. An meinem Körper wurde herumgezerrt und in meinem Hirn spürte ich wieder ein Jucken, ebenso deutlich, wie ich das Summen der Geräte hörte. Ich kratzte mich am Kopf, aber das Jucken saß zu tief. Und dann wurde das Zerren stärker, als würde ich auseinandergezogen. Das Jucken in meinem Kopf quälte mich. Ich kniff die Augen fest zusammen und wälzte den Kopf hin und her.
Es zerrte nach allen Seiten, aber das Ziehen hatte eine klare Richtung. Hinaus auf den Gang. Ganz nach links. Ich konnte nicht mehr schlafen, schob die Bettdecke zur Seite, stellte die nackten Füße auf den Boden und tappte aus dem Zimmer. Das Ziehen wurde drängender und ich gab ihm nach. Das Jucken in meinem Kopf breitete sich aus. Es drang nach außen, meinen Nacken hinunter, strahlte über meine Schultern die Arme hinab bis in meine Fingerspitzen.
Dann begannen meine Finger zu zucken, ohne dass ich es kontrollieren oder verhindern konnte. Sie zitterten und zuckten in die seltsamsten Richtungen, während ich den Flur entlanglief. Eigentlich hätte mich das Zittern stören sollen, aber ich konnte mich nicht darauf konzentrieren. Ich konnte nur an die Tür am Ende des Flurs denken – wie sie mich rief, als könnte sie mir die Antwort auf eine Frage geben, über die ich bis jetzt noch nicht einmal nachgedacht hatte.
Aber selbst als ich die Tür erreicht hatte, musste ich weitergehen. Ich drückte sie auf und sah einen Menschen in einem Krankenhausbett liegen. Präziser konnte ich es nicht erkennen. Alt oder jung, Mann oder Frau, ich wusste es nicht. Der Kopf war kahl geschoren und hinten in seinem Schädel steckte ein Schlauch. Der Schädel war grau, faltig und überall geschwollen. Ich ging näher und ließ die Tür hinter mir zufallen. Meine nackten Füße auf dem Steinfußboden waren kalt und ich verlagerte mein Gewicht von einem Bein auf das andere. Der Mensch begann zu zittern. Erst nur ganz leicht wie ein Frösteln, dann zuckte er, genau wie meine Finger. Schließlich liefen Krämpfe durch seinen Körper, so stark, dass das Bett und die Maschinen daneben erbebten. Dann ertönte der Alarm. Ärzte und Schwestern stürzten herein, drängten sich an mir vorbei und riefen sich Anweisungen zu.
»Defi!«, schrie jemand.
»Was ist los?«, rief ich.
Eine Krankenschwester versuchte, mich aus dem Raum zu schieben, ohne mich anzuschauen. »Du kannst nicht hierbleiben.«
Dr. Logan tauchte in der Tür auf. »Delaney? Was machst du denn hier?«
»Laden!«, rief jemand.
Ich drehte mich um und sah einen Arzt, der dem Herzen des Menschen einen Stromstoß versetzte. Sein Körper bäumte sich auf. Immer noch schrillte der Alarm.
»Was ist los mit mir?«, fragte ich.
Aus Dr. Logans Sicht fast nichts. Aber mit dem Menschen auf dem Bett stimmte etwas ganz und gar nicht.
»Raus mit dir!«, brüllte jemand.
Dr. Logan packte mich an den Schultern und schob mich aus dem Zimmer. »Was meinst du damit? Was ist los mit dir?«
Es gelang mir nicht, das Jucken und das Ziehen und das Chaos in meinem Kopf mit Worten zu beschreiben. Es ging nicht. Deshalb streckte ich ihm meine Arme entgegen und zeigte ihm meine Hände, das unerbittliche Zucken. Dabei liefen mir Tränen über das Gesicht.
Dr. Logan legte mir eine Hand auf den Rücken, ich sollte mit ihm durch den Flur zurückgehen. Aber ich bewegte mich keinen Zentimeter. Also hob er mich hoch, wie Dad es vielleicht auch gemacht hätte, und trug mich in mein Zimmer. Als er mich auf dem Bett absetzte, zog sich das Jucken wieder zurück, aus den Armen über die Schultern und den Nacken bis in mein Hirn. Meine Finger hörten auf zu zucken. Das Jucken verwandelte sich in ein Summen, dann verschwand es ganz. Auch das Ziehen war weg. Geblieben war nur ein schwaches Zerren nach allen Seiten, aber das hatte ich fast schon erwartet.
Ich saß im Bett und starrte abwechselnd auf meine Hände und die offene Tür. Dr. Logan blätterte in meiner Krankenakte und kritzelte etwas auf eine leere Seite. Er ließ mir eine Schlaftablette bringen und blieb bei mir sitzen, bis ich eingeschlafen war.
Am nächsten Morgen war er immer noch da. Vielleicht war er in der Nacht weggegangen und dann wiedergekommen. Aber er war da.
Und meine Eltern waren da.
»Epilepsie.« Dr. Logans Stimme klang ernst, die langjährige Erfahrung gab seiner Diagnose Gewicht.
»Wie bitte?«, fragte ich.
Er richtete sich auf. »Ich glaube, du hast epileptische Anfälle.« Dieses Mal klangen seine Worte wie ein Heilmittel.
»Es waren nur meine Finger.« Zum Beweis streckte ich meine Hände in die Luft, die Handflächen nach oben.
Epilepsie war keine schöne Sache. Carson hatte Epilepsie. Als er in der dritten Grundschulklasse war und ich in der zweiten, hatte er einmal während der Pause einen schweren epileptischen Anfall auf dem Schulhof gehabt.
»Nur für Jungs«, hatte Carson gesagt und mich aus seiner neuen Clique ausgeschlossen. In diesem Schuljahr war ich echt sauer auf Decker. Er hatte einfach entschieden, dass er in der Schule mit den Jungs und ich mit den Mädchen spielen sollte. Ich versuchte, ihn zu bestechen, damit er es sich anders überlegte. Mit einem Brownie aus meiner Lunchbox zum Beispiel. Oder damit, dass er zu Hause den Zeichentrickfilm aussuchen durfte oder den Fensterplatz im Bus bekam.
An diesem Tag hatte ich sogar extra für ihn einen Corny-Riegel mit Schokosplittern in meinem Rucksack zur Schule geschmuggelt. Natürlich war ich auch mit einigen Mädchen befreundet, aber mit ihnen machte das Spielen nicht annähernd so viel Spaß, denn keine kannte mich so gut wie Decker.
Nach Carsons Spruch hatte Decker den Kopf eingezogen und traute sich nicht, mir in die Augen zu sehen. Schon damals war Carson der Boss, die geborene Führungspersönlichkeit. Hochgewachsen, blonde Locken und grüne Augen. Niemand widersprach ihm. Keiner der Jungs, keines der Mädchen, auch ich nicht. Nun ja, meistens jedenfalls. Aber in diesem Moment war ich stinksauer auf Decker, der einfach im Schneidersitz auf dem Boden hockte und sich hinter Carson versteckt hatte.
»Du hast es versprochen, Decker«, rief ich, was ihm offensichtlich peinlich war, denn er stand langsam auf.
»Decker bleibt hier«, sagte Carson und kam auf mich zu.
»Du bist echt ein Blödmann«, erwiderte ich und dann schubste ich ihn. Es war nur ein leichter Stoß, ehrlich. Er stolperte einen Schritt zurück und grinste. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber dazu kam er nicht mehr. Seine Augen verdrehten sich und er fiel wie ein Stein zu Boden. Seine selbstsichere und charismatische Erscheinung hatte sich aufgelöst und in ein zuckendes, krampfendes Etwas verwandelt. Alle waren wie erstarrt. Und dann stieß mich jemand zur Seite. Janna schoss an mir vorbei, kniete sich neben ihren Bruder und legte ihn auf die Seite.
Ihr Blick durchbohrte mich förmlich. »Hol Hilfe!«, schrie sie. Aber ich reagierte nicht. Ich stand einfach da und starrte Carson an. Es war Decker, der losrannte, um Hilfe zu holen.
Zehn Jahre später gehörte dieser Moment immer noch zu den Top fünf meiner schlimmsten Erinnerungen.
Dr. Logan sagte: »Viele epileptische Anfälle verlaufen nicht so, wie man es aus dem Fernsehen kennt. Manche Menschen starren einfach nur in die Luft, der Anfall selbst findet ausschließlich im Gehirn statt. Manchmal treten die Zuckungen nur in Teilen des Körpers auf wie bei deinen Händen.«
»Können Sie das wieder in Ordnung bringen?«
Bei Carson mussten sie es in Ordnung gebracht haben, denn ich habe nie wieder einen Krampfanfall bei ihm gesehen oder von einem gehört. Aber dann wurde mir klar, dass Carson vielleicht aufgrund seiner Epilepsie ein Schuljahr wiederholen musste, und ich brach in Panik aus.
»Ich kann«, antwortete Dr. Logan. »Die Medizin kann das. Oder sie kann es wahrscheinlich. Aber ich werde dir keine Medikamente verordnen, bevor ich nicht sicher weiß, dass es tatsächlich Epilepsie ist.« Doch sein Gesichtsausdruck zeigte mir, dass er glaubte, die Antwort bereits gefunden zu haben.
»Und wenn meine Hände wieder zucken? Dann können Sie mir doch etwas geben, oder?«
Seine Mundwinkel hoben sich leicht. »Ich fürchte, so einfach ist es nicht. Ich mache morgen Früh einen Test mit dir, den man EEG nennt. Ich befestige dabei einige Elektroden an deinem Kopf und beobachte deine Gehirnaktivität. Aber dazu darfst du heute Nacht nicht schlafen. Wir müssen dein Gehirn unter Stress setzen. Mit etwas Glück bringen wir es dazu, einen weiteren Anfall zu produzieren.«
Ich umklammerte meine langen blonden Haare. »Sie dürfen sie nicht abrasieren!«
Dr. Logan lächelte. »Daran würde ich nicht mal im Traum denken. Aber sie werden ordentlich verkleben. Mit einem guten Shampoo ist das jedoch gar kein Problem.«
Ich hasste mich dafür, dass ich so auf meine Haare fixiert war, anstatt dankbar und glücklich zu sein, dass mein Körper nicht auf dem Grunde eines Sees lag und verrottete. Der Mann in der Physiotherapie konnte seine Beine nicht bewegen. Der Frau in der Ergotherapie war der Sabber aus dem Mund gelaufen. Die extreme Unterkühlung hätte zur Amputation einiger Gliedmaßen führen können. Durch den Sauerstoffmangel in meinem Gehirn hätte ich dauerhaft im Koma liegen können, meine Muskeln hätten verkümmern und an meinem Rücken hätten sich Blutgeschwüre bilden können. Ich war nicht von Natur aus eitel. Ich trug keine Designerklamotten und schminkte mich kaum, aber ich liebte meine Haare. In Relation zur Frage nach Leben und Tod war das lächerlich. Ich wusste das und trotzdem war es mir egal.
Als Dr. Logan schon fast aus dem Zimmer war, fragte ich: »Der Mensch von heute Nacht, bei dem ist doch alles in Ordnung?«
Aber er ging einfach und tat so, als hätte er mich nicht gehört. Die Tür schlug mit einem dumpfen Knall hinter ihm zu.
Meine Eltern wechselten sich in dieser Nacht ab. Wir schauten Filme. Wir spielten Scrabble. Ich versuchte, »Catch-22« zu lesen, aber nach wenigen Seiten bekam ich Kopfschmerzen und die Worte verschwammen vor meinen Augen. Ich durfte keine Medikamente nehmen, weil sie Einfluss auf die Testergebnisse haben könnten. Meine Rippen schmerzten. Mein Kopf dröhnte. Das Zerren an meiner Haut war mehr als lästig.
Als ich meine Augen kaum noch offen halten konnte, kam Decker. Obwohl am nächsten Tag Schule war.
»Ich bin dran«, sagte er.
Mum küsste erst mich und dann Decker auf die Stirn. »Wir sind zum Test wieder da, mein Schatz. Ruf an, wenn du irgendetwas brauchst.«
Decker setzte sich auf den Stuhl, von dem Mum gerade aufgestanden war, und stellte seine Füße auf die Bettkante. »Also«, sagte er, »es ist jetzt zwei Uhr morgens. Es gibt nichts im Fernsehen und die Cafeteria ist zu. Was willst du machen?«
Ich rieb mir über das Gesicht und stöhnte: »Ich will schlafen.«
»Als ob du noch nie eine Nacht durchgemacht hättest.«
»Nur um zu lernen.«
»Willst du was für die Schule machen?« Er verzog missmutig das Gesicht.
»Hab ich schon, ehrlich gesagt.« Ich griff nach »Catch-22« und drückte es an meine Brust. »Ich muss das lesen, aber es geht nicht. Kopfschmerzen.« Ich hielt ihm das Buch hin und lächelte.
Decker schüttelte den Kopf und lehnte sich zurück. »Ich lese keine Bücher für die Schule. Ist gegen meine Prinzipien.«
Mein Lächeln wurde breiter. »Ich werde deine allerbeste Freundin sein.«
»Und dafür habe ich meine Eltern angefleht, dass ich herkommen darf? Unglaublich«, sagte er. Aber das Buch nahm er trotzdem. Mit den Füßen immer noch an der Bettkante, winkelte er die Knie an und begann zu lesen.
Nach der ersten Seite blickte er mich an. »Ich komme mir lächerlich vor.«
»Psst, du machst das perfekt.«
Ich hörte ihm zu. Nein, ich sah ihm zu. Ich sah seine Augen über die Zeilen wandern und seinen Mund die Worte formen. Ich war hingerissen, wie er jedes Mal, wenn er umblätterte, die Zunge im Mundwinkel ruhen ließ, wie er an den richtigen Stellen lächelte, genau wie ich, und wie seine Stimme immer eine Oktave tiefer wurde, wenn jemand in der Geschichte sprach.
Nach einigen Seiten hielt er inne. »Du wirst doch nicht einschlafen, oder?«, fragte er und bemerkte, dass ich auf seinen Mund starrte.
»Nein, ich halte durch.«
Decker hatte mindestens drei Arten, mich anzusehen. Manchmal betrachtete er mein Äußeres, als würde er mich zum ersten Mal sehen, dann wurde sein Blick weit und freundlich. Er konnte aber auch durch mich hindurchsehen, mit scharfem Blick, als wäre er sauer wie an dem Tag am See. Und er konnte direkt in mich hineinsehen, wenn er wissen wollte, was ich dachte oder fühlte. Und das tat er jetzt. Ich erkannte es daran, dass seine Lider halb geschlossen waren und man gerade noch das Grau seiner Iris erahnen konnte. Ich spürte fast körperlich, wie er in meinen Kopf eindrang und dort herumstocherte.
Ich schüttelte seinen Blick ab. »Lies einfach weiter«, sagte ich. Und das tat er.
Dr. Logan kam, als der Himmel noch orange war.
»Exkursion.« Er klatschte in die Hände und wartete darauf, dass mich die Schwestern in den Rollstuhl bugsierten. Ich kräuselte die Lippen. Seine Augen waren nicht blutunterlaufen, seine Klamotten sahen frisch aus. Er war gut gelaunt und ausgeschlafen. Und als er sich über mich beugte, um meine Wundnähte zu begutachten, konnte ich nicht mal Kaffeeduft in seinem Atem riechen.
»Zeit, um sich von deinem Freund zu verabschieden«, sagte er.
»Oh, er?« Ich blickte kurz zu Decker und sah dann wieder weg. »Er ist nicht mein Freund.«
Decker drehte mir den Rücken zu, als er in die Jacke schlüpfte, mehr Abschied gab es für mich nicht.
Es fühlte sich klebrig und kalt an, als Dr. Logan Draht um Draht an meinem Schädel befestigte. Ich sah mein Spiegelbild in der Fensterscheibe und schaute genauer hin. Ich sah aus wie ein menschliches Versuchskaninchen. Mit den dünnen Drähten überall an meinem Kopf wirkte ich wie eine blonde Medusa. Die Drähte führten nach unten zu einer kleinen Kiste. Und als Dr. Logan den letzten Draht befestigt hatte, begann das Jucken.
Ich hob die Hände und ließ sie über meinem Schädel schweben. »Es juckt.«
»Hmmm.« Dr. Logan legte den Zeigefinger ans Kinn. »Jucken oder leichter Druck?«
Als ob ich den Unterschied nicht kennen würde.
»Jucken«, wiederholte ich, »aber innen.«
Es saß tief im Mittelpunkt meines Gehirns. Und wie am Tag zuvor wurde das Zerren in eine Richtung stärker, bis es kein Zerren, sondern eher ein Ziehen war. Ein starkes, andauerndes Ziehen.
»Ich muss hier raus«, rief ich und umkrallte die Elektroden an meinem Kopf.
»Warte, beruhige dich«, sagte Dr. Logan und packte meine Handgelenke, um zu verhindern, dass ich seine Arbeit zunichtemachte.
»Ich muss hier raus, ich muss hier raus«, wiederholte ich, während das Jucken meinen Nacken hinunterwanderte. Ich rollte meinen Kopf zurück, versuchte Schwung zu holen und aus dem Bett zu springen.
»Wohin denn?«
»Ich muss hier raus«, rief ich erneut. Das Ziehen wurde immer stärker und das Jucken breitete sich über meine Schultern und noch weiter aus. Ich wusste nicht wohin, irgendwo den Flur entlang. Irgendwo nach rechts.
Und dann wanderte das Jucken über die Arme in die Fingerspitzen, sie brannten und zuckten, als ob das Jucken die Flucht ergreifen wollte.
Dr. Logan lockerte den Griff um meine Handgelenke und schaute auf die Signale der Geräte. Er runzelte die Stirn, als er die Messergebnisse sah.
»Kein Anfall«, stellte er fest. Dann schaute er wieder zu mir, als ob das Zucken dadurch von selbst aufhören müsste.
Ich setzte mich auf, riss dabei die Kiste mit und versuchte, die Drähte abzuschütteln. Dr. Logan drückte einen Knopf über meinem Bett und umfasste mich mit beiden Armen wie bei einer Umarmung, aber nur fast, denn ich konnte mich nicht mehr bewegen. Es war eher wie eine Zwangsjacke. Und dann kam jemand ins Zimmer, ich spürte einen Stich im Arm und alles verschwamm und wurde auch ein bisschen albern. Ich war sicher, dass ich kicherte, während es um mich herum schwarz wurde.
Melinda rieb meine Kopfhaut mit einem nach Chemie stinkenden Shampoo ein. Bei dem Friseur, zu dem Mum und ich gingen, roch alles nach Kokosnuss und Minze. Hier nicht. Dieses Shampoo stank nach Kloreiniger und fühlte sich an wie das Zeug, dass Mum immer auf meine Wunden schmierte. Ich lag flach auf dem Bett, mein Kopf hing über dem Fußboden, meine Füße waren unter dem Kopfkissen versteckt. Das Blut sammelte sich in meinem Kopf. Hoffentlich richtete der erhöhte Druck in meinem Hirn nicht noch mehr Schaden an.
Dr. Logan stand an der Tür, während meine Eltern unablässig im Zimmer umherwanderten wie Tiere, die man gerade in einen Käfig gesperrt hatte. Die Szene kopfüber zu sehen, war irritierend, alles begann sich zu drehen. Deshalb schloss ich die Augen und hörte dem Gespräch zu, das sich zwischen ihnen entwickelte, während die Schwester weiter meinen Schädel mit ihren Fingerspitzen knetete.
»Wir müssen sie nach Hause holen«, erklärte Mum. »Im Internet habe ich gelesen, dass ein Krankenhaus kein guter Ort ist, wenn man nicht richtig krank ist. Es macht einen erst krank. Das ist doch so, oder?«
Dr. Logan zuckte zusammen. Ärzte mussten das Internet hassen.
»Und ich habe mit der Versicherung gesprochen«, sagte Dad. »Wenn wir sie noch länger hierlassen, werden wir bald kein Haus mehr haben, in das wir sie heimholen können, sondern nur noch Schulden.«
Das klang genau nach Dad. Wahrscheinlich hatte er eine Exceltabelle für unsere Ausgaben der vergangenen zwei Wochen gemacht, mit einer Spalte für den Getränkeautomaten. Ich fragte mich, ob er das alles von der Steuer absetzen wollte.
»Ihr EEG war normal, aber ich mache mir immer noch Sorgen wegen des Handtremors. Beide Male war sie unglaublich aufgeregt«, erklärte Dr. Logan.
Ich räusperte mich. Aufgeregt? Ich war völlig ausgerastet. Ich musste sediert werden. Sediert.
»Es geht ihr gut. Wirklich gut«, sagte Mum. »Ich kann mich zu Hause um sie kümmern.«
Ich wusste, dass es mir nicht wirklich gut ging. Ich öffnete die Augen und suchte Dr. Logans Blick. Wahrscheinlich verstand er die Botschaft nicht, immerhin hing ich kopfüber. Die Schwerkraft machte es mir unmöglich, mein Gesicht so zu verziehen, dass man Zweifel und Panik darin erkennen konnte. Oder Dr. Logan kannte mich nicht gut genug, um die Botschaft zu verstehen.
»Lassen Sie uns draußen darüber sprechen«, sagte er.
Schritte entfernten sich, meine Haare wurden ausgespült und mit dem Handtuch trocken gerubbelt, dann war ich allein.
Zehn Minuten später war die Entscheidung gefallen. Ich sollte aus dem Krankenhaus entlassen werden.
»Von mir aus kannst du gehen«, sagte Dr. Logan. »Die Rippen einmal ausgenommen, da bin ich sowieso kein Spezialist.« Er zwinkerte mir zu. Meine Augen verengten sich zu Schlitzen.
In den folgenden vier Stunden saßen wir herum, während die Krankenhausverwaltung die Entlassungspapiere ausstellte. Mum las mir das Ende von »Catch-22« vor. Ich verstand, dass ich in der gleichen Zwickmühle war wie der Held in diesem Roman. Gleichzeitig steckte ich noch in einem anderen Dilemma.
Der Tod ist endgültig. Außer, wenn er es eben gerade nicht ist. In diesem Fall sollte man es nicht Tod nennen, sondern nur die Abwesenheit von Leben.
Dr. Logan sagte, ich müsse jeden Monat zur Kontrolluntersuchung kommen, um gegebenenfalls weitere MRTs oder EEGs machen zu können, sofern es mein Zustand erforderlich machte. Offenbar hatte ich keine bleibenden neurologischen Schäden, von dem Handtremor einmal abgesehen. Meine Eltern schienen sich jedoch über das Zucken keine Sorgen zu machen. Dr. Logan tat so, als wäre er der Meinung, dass es irgendwann vielleicht von allein weggehen würde. Ich wollte auf keinen Fall in der Schule einen Anfall haben. Ich war schon jetzt der Streber. Ich musste nicht noch der Streber mit den abgefahren zuckenden Fingern werden.
Als meine Eltern in die Cafeteria gingen, um etwas zu essen zu besorgen, was einigermaßen genießbar war, griff ich zum Krankenhaustelefon und rief die einzige Nummer an, die ich neben meiner eigenen auswendig konnte.
»Ich komme nach Hause«, sagte ich stockend.
»Gott sei Dank«, sagte Decker.
Entweder kam Angst über das Telefon nicht richtig rüber oder Decker kannte mich doch nicht so gut, wie ich dachte.
»Keine Sorge«, fügte er hinzu, »ich bin für dich da.«
Ich seufzte erleichtert und legte auf, bevor ich etwas sagte, was ich hinterher bereuen würde. Etwas wie Ich habe Angst.
Dr. Logan kam zurück und ging ein paar Unterlagen durch. Dabei erklärte er meinen Eltern, mit welchen Nebenwirkungen man rechnen musste.
»Vergessen wir nicht, dass Delaney eine traumatische Hirnverletzung davongetragen hat. Lassen Sie sich nicht von ihrer raschen Erholung täuschen. Achten Sie auf Kopfschmerzen, Erschöpfungszustände, Depressionen oder Wutanfälle, Schlafstörungen, Erinnerungslücken und Sprachprobleme. Dafür gibt es Therapien.«
Meine Eltern nickten, hörten aber nur mit einem Ohr zu und unterschrieben die Papiere.
Melinda half mir in den Rollstuhl. »Das letzte Mal«, sagte sie. Sie klemmte mir die Haare hinter die Ohren und schob mich in den Flur.
Ich verabschiedete mich von dem blauen Zimmer, das in der letzten Woche mein Zuhause gewesen war, meine Eltern dankten Melinda für ihre Mühe.
»Lassen Sie mich jetzt übernehmen«, sagte Dad. Er schob mich durch einen schmalen Gang mit weit geöffneten Doppeltüren am Ende.
Draußen legte mir Mum eine Hand auf die Schulter. Der Schnee reflektierte die strahlend helle Nachmittagssonne. Mein Körper und mein Geist sträubten sich. Ich wollte hierbleiben. Ich war noch nicht bereit, nach Hause zu gehen. Aber sie schoben mich weiter – hin zum Licht am Ende des Tunnels.